Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Digitaler Wandel
Eine Busreise in die analoge Vergangenheit - durch Hannover

Mit einem Reisebus spürt das Schauspiel Hannover in "Das Anadiging II" dem Wandel durch die digitale Revolution nach.

Von Alexander Kohlmann | 25.11.2014
    Schon während wir Zuschauer den Bus besteigen, hören wird ihn - den "Wind of Change" - über Kopfhörer. Im Bus selber ist der Wandel der Zeit noch nicht angekommen: schwere, dicht gedrängte Ledersitze und schummrige Beleuchtung. "Das letzte Mal habe er in so einem Bus in der Grundschule gesessen", sagt ein Mann um die 50 neben mir. Nur die zwei Flachbildschirme in der Mitte und ganz vorne erinnern uns daran, dass wir uns nicht mehr in den 80er-Jahren befinden. Dann beginnt die Fahrt - und Rainald Grebe erscheint - auf einem VHS-Video im Bordfernsehen.
    "Guten Abend. Und herzlich willkommen liebe Städtereisende hier in Hannover. Sehen Sie mich? Hören Sie mich? Mein Name ist Rainald Grebe. Ich bin bei Ihnen. Ich möchte zu Beginn zwei Sachen mit Ihnen einstudieren, die Sie unbedingt brauchen auf dieser Fahrt - und zwar ist das das Schauen aus dem Fenster - nach links und nach rechts - und das üben wir jetzt. Bitte gemeinsam auf mein Zeichen nach links aus dem Fenster schauen, Achtung jetzt."
    Eine Reise in die analoge Vergangenheit und ein Sprung zwischen verschiedenen Zeitebenen ist diese Fahrt. Draußen ziehen jetzt die riesigen Produktionshallen des einstigen Hauptsitzes der Deutsche Grammophon vorbei.
    Wo einst kommerzielle Platten gepresst wurden, sehen wir heute nur noch aufgehübschte Fassaden. Die Vinyl-Fabrik von einst - sie ist ein Ort der coolen Computerfirmen und hippen Kreativen geworden. Die brauchen längst keine Cebit-Messe mehr, um sich zu treffen. Der Bus parkt vor einem menschenleeren Messegelände. Dunkle Gebäude, Straßenbahn Endhaltstelle.
    "Als Hannover 1947 mit alliierter Billigung zur ersten Messe einlud, waren die Bedenken groß. Doch das Kopfschütteln der Skeptiker angesichts des Messe-Experiments wurde bereits am Eröffnungstag wiederlegt".
    Was wir auf den Kopfhörer hören und draußen sehen, unterscheidet sich, nur eines ist konstant: der hörbare "Wind of Change", die andauernde Veränderung, die nicht nur große Unternehmen trifft.
    "Der Tratsch geht weiter. Denn Hannover hat einen neuen Sender. Hier spricht Radio Hamann, auf 96.6 Megahertz."
    Der Hannoveraner Piratensender Radio Hamann - ein Aktivist von einst sitzt vorne im Bus, erinnert sich an die Zeit, als er mit seiner mobilen Antenne ständig auf der Flucht war und von einem Kassettenspieler sendete, um dem angeblich kommerziellen Programm der Großen etwas entgegenzusetzen. Mit dem Internet wurde jeder Piratensender überflüssig und der Aktivist arbeitslos.
    Hätte es den Sender Ende der 90er noch gegeben, Radio Hamann hätte sicherlich auch über die Expo 2000 berichtet, die Weltausstellung in Hannover. Wo einst Millionen den Aufbruch in das neue Jahrtausend feierten, herrscht heute Dunkelheit.
    Wie ein Tauchboot auf der Suche nach Atlantis arbeitet sich unser Bus langsam über das verwaiste Gelände. Im Licht der Scheinwerfer tauchen glamouröse Straßenamen auf: Boulevard der EU, Expo-Plaza. Einige Pavillons sind noch da, ragen als monströse Ruinen in den dunklen November-Himmel, ziehen wie ein post-apokalyptisches Szenario an unserem Bus vorbei, während ein Schauspieler einen Leserbrief von damals vorliest. Niemand brauche ein Format aus dem letzten Jahrhundert schreibt darin einer - die Expo gehöre verlegt ins Medium der Zukunft: diesem Internet.
    Dann endet diese melancholische Tour, die ein faszinierendes Experiment ist - und uns gerade dadurch, dass sie uns ganz analog an reale Orte fährt, die technische Revolution der letzten Jahrzehnte plastisch vor Augen führt. Und den Wandel, den die Digitalisierung in alle Lebensbereiche trägt, viel spürbarer macht, als das ein virtueller Trip im Internet je könnte.