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Direkte Demokratie
Dauerbetrieb an der Urne

Bessere Krankenhäuser, weniger Werbung, mehr Videoüberwachung: Das sind drei von fünf Volksbegehren, die zurzeit in Berlin laufen. Trotzdem erreicht die Hauptstadt in einem Bundesländer-Ranking zu direkter Demokratie nur den achten Platz.

Von Manfred Götzke | 15.02.2018
    Nach der offiziellen Schließung der Wahllokale werden am 24.09.2017 in Berlin in einem Wahlbezirk die gesammelten Stimmzettel für die Bundestagswahl und für das Volksbegehren zur Offenhaltung vom Flughafen Tegel zur Auszählung aus einem Behälter auf Tische geschüttet.
    Im September 2017 stimmten die Berliner über den Flughafen Tegel ab (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
    "Hast du schon unterschrieben für Berlin werbefrei?"
    Bewaffnet mit Infoflyern und Unterschriftenmäppchen steht Fahdi El-Ghazi auf einem Wochenmarkt in Berlin Kreuzberg. Es ist deutlich unter Null Grad, El Ghazi zittert ein bisschen. Keine leichten Bedingungen, um an Unterzeichner zu kommen.
    "Berlin werbefrei ist ein Volksbegehren, das setzt sich für eine deutliche Reduzierung von
    Außenwerbung in der Stadt ein, als auch ein Verbot von Werbung an Kitas und Schulen und Hochschulen."
    Der 39-jährige Rechtsanwalt und seine Mitstreiter wollen mit ihrem Volksbegehren ein fast werbefreies Berlin durchsetzen. Was sie vor allem stört: großflächige digitale Werbeanzeigen und Banner auf Baustellengerüsten, die ganze Hausfassaden einnehmen.
    El Ghazi spricht ein junges Pärchen an. Beide mit Dreadlocks und bunten Wolljacken.
    "Das findest Du gut? Super. Hast Du auch Lust, zu unterschreiben? Ja ..."
    Rechtliche Hürden für Volksbegehren gesenkt
    Damit sie ihr Vorhaben zur Abstimmung bringen können, müssen die Aktivisten bis Juli mindestens 20.000 Unterschriften sammeln. Ist das geschafft, prüft der Senat die rechtliche Zulässigkeit des Volksbegehrens. In einer nächsten Hürde brauchen sie 200.000 Unterzeichner, erst dann können alle Berliner darüber entscheiden.
    "Berlin Werbefrei" ist nur eines von fünf Volksbegehren, die aktuell in der Hauptstadt laufen. Die anderen Initiativen wollen mehr Videoüberwachung, mehr Personal in Kliniken, oder setzten sich gegen die Privatisierung der Schulsanierung ein – und eine will gleich Senats-Neuwahlen durchsetzen.
    Volksentscheid bleibt Volksentscheid steht auf einem Schild, das eine Frau in die Luft hält.
    Die rechtliche Hürden für Volksbegehren wurden vom Senat gesenkt (imago stock&people)
    Seit der Berliner Senat 2006 die rechtlichen Hürden gesenkt hat, boomen die Volksinitiativen in der Hauptstadt, erzählt Regine Laroche. Sie ist Landesvorsitzende des Vereins "Mehr Demokratie".
    "Der Haushaltsvorbehalt ist gefallen, aber auch so praktische Sachen wie die freiere Unterschriftensammlung ist eingeführt worden. Vorher mussten die Menschen auf das Bürgeramt gehen zu den Öffnungszeiten, die wir alle kennen und da ihre Unterschriften leisten. Und das ist deutlich vereinfacht worden."
    Zwei erfolgreiche Volksbegehren haben dann dafür gesorgt, dass dieses Instrument der direkten Demokratie in Berlin besonders bekannt wurde. Die Entscheidung über die Nutzung des Tempelhofer Feldes und der Volksentscheid zu den Berliner Wasserverträgen. 2011 haben die Bürger erreicht, dass der Senat die Verträge zur Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe offengelegen muss.
    "Das ist der Punkt gewesen, wo auch in Berlin deutlicher wurde, dass es dieses zusätzliche Instrument wirklich gibt– und dass es auch tatsächlich Wirkung hat!"
    Volksentscheide rechtlich nicht umsetzbar
    Laroches Verein kämpft seit fast 30 Jahren für Volksentscheide auf Landes- und Bundesebene. Er erstellt außerdem ein Bundesländer-Ranking zu direkter Demokratie, dessen Spitzenreiter derzeit Bayern ist. Berlin landet aktuell nur auf Platz acht, obwohl hier besonders viele Volksentscheide laufen. Das Problem: Die Ergebnisse würden vom Senat oft missachtet, meint Laroche. So wie aktuell im Fall des Flughafens Tegel. Die Bürger haben mehrheitlich entschieden, Tegel soll offenbleiben. Doch im Senat bestehen erhebliche Zweifel, ob der in die Jahre gekommene Flughafen überhaupt eine Genehmigung für einen Weiterbetrieb erhalten kann.
    "Zu Beginn eines Volksentscheids wird eine Zulässigkeitsprüfung von den zuständigen Ressorts durchgeführt. Das ist auch bei Tegel passiert. Wenn diese von Anfang an sachgerecht durchgeführt worden wäre, wäre dabei herausgekommen, dass dieser Volksentscheid vielleicht gar nicht umsetzbar ist."
    Ein Flugzeug der Bundesregierung startet auf dem Flughafen Tegel in Berlin
    Die Mehrheit der Bürger will, dass der Flughafen Tegel offen bleibt (dpa / picture-alliance / Rainer Jensen)
    Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker hält – auch wegen solcher komplexer Entscheidungen – wenig von direkter Demokratie von unten, qua Volksentscheid.
    "Das Problem besteht darin, dass damit im Grunde ein zweiter Legitimationsstrang neben dem Parlament aufgebaut wird. Und diese beiden Legitimationsstränge können sich in die Quere kommen. Weil dann die Regierung die Dinge für die sie gewählt worden ist, dann nicht mehr durchsetzen kann. Anders ausgedrückt: Die Opposition hat dann die Möglichkeit mitzuregieren und das liegt eigentlich nicht im Sinne des parlamentarischen Systems."
    Außerdem würde durch Volksentscheide häufig nur ein Veto eingelegt. Differenzierte, konstruktive Lösungsvorschläge zu erarbeiten sei für Bürgerinitiativen ohne das entsprechende juristische Fachwissen schwer.
    "Die Bürger sind dort selber die Gesetzgeber, sie müssen auch die Vorlagen selbst entwickeln. Da geht es ja nicht nur darum, ob sie über ein bestehendes Gesetz noch mal abstimmen. Und man weiß ja: Schon in den Parlamenten ist das ein äußerst aufwendiges, kompliziertes Geschäft, insoweit stellt sich ja schon die Frage: Können die Bürger in diesem Sinne die Gesetzgebungsfunktion sinnvoll ausüben."
    Volksentscheide könnten leichter werden
    Regine Laroche kann mit dieser Kritik wenig anfangen, für sie sind Volksentscheide eine Ergänzung der bestehenden repräsentativen Demokratie.
    "Es kann sein, dass ich eine Regierung gewählt habe, mit der ich auch grundsätzlich zufrieden bin, aber bei einem einzigen Thema doch nicht und da möchte ich die Möglichkeit haben zu sagen: Stopp, das macht bitte anders!"
    In Berlin dürften die Hürden für Volksbegehren weiter sinken, der Rot-Rot-Grüne Senat will Volksentscheide künftig grundsätzlich an Wahltermine knüpfen. Das notwendige Quorum von 25 Prozent der Wähler könnte dann leichter erreicht werden.
    "Möchtest Du auch unterzeichnen?
    "Wie viele habt ihr schon?"
    "Wir haben noch nicht gezählt, weil die Listen überall rumfliegen, und brauchen erst mal 20.000 Unterschriften ..."
    Auf dem Kreuzberger Wochenmarkt hat Fahdi El Ghazi trotz eisiger Kälte noch ein paar Unterschriften gesammelt. Er ist zuversichtlich, dass es am Ende reichen wird. Und Berlin dank seines Volksbegehrens so gut wie werbefrei wird.
    "... und wenn wir die 20.000 Unterschriften haben, dann berät auch schon das Abgeordnetenhaus über das Gesetz. Und wenn das Abgeordnetenhaus das annimmt, kann Berlin werbefrei schon 2019 Realität werden."