Corona-Immunitätspässe

Bahn frei für Überlebende?

07:33 Minuten
Ein Tänzer springt in roter Kleidung in einem Pflegeheim auf einer Wiese.
Mal wieder ausgelassen sein, ältere oder kranke Angehörige besuchen – all das wäre mit einem Immunitätspass problemlos möglich, sofern die Krankheit nach einmaliger Infektion tatsächlich nicht mehr übertragen werden kann. © imago-images /
Von Piotr Heller · 18.06.2020
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Frei bewegen trotz Coronakrise: Immunitätsausweise, die bescheinigen, dass jemand Covid-19 überstanden hat, würden das ermöglichen. Doch sie bringen etliche ethische Probleme mit sich, wie das Beispiel New Orleans zeigt. Dort gab es so etwas schon einmal.
Die Idee ist tatsächlich verlockend: Wer einen Immunitätspass hätte, der könnte nicht nur ohne Einschränkungen reisen, sondern auch guten Gewissens wieder Verwandte im Altenheim besuchen. Oder denken wir mal an Pflegepersonal, Ärzte oder Lehrer: Mit einer schwarz auf weiß verbrieften Immunität gegen Sars-CoV-2 könnten sie wieder viel natürlicher mit ihren Patienten oder Schülern umgehen. Kein Wunder, dass die Idee gerade gut anzukommen scheint.
"Chile führt etwas ein, das sie Ausgangs-Karten nennen. Die sagen nicht 'Immunitätspass'. Aber sie stellen es praktisch Menschen aus, die die Krankheit überstanden haben. Die können sich dann frei bewegen", erklät Natalie Kofler von der Harvard Medical School.
"Estland will Menschen mit Immunitätspässen Zugang zum Arbeitsmarkt gewähren. Im Vereinigten Königreich könnten manche Sportveranstaltungen für Zuschauer mit Immunitätspässen öffnen. Und in Miami prüft eine Hotelkette, ob sie anhand von Immunitätspässen entscheiden kann, wen sie als Gast aufnimmt."

Ethische und praktische Probleme

Hierzulande hatte sich Gesundheitsminister Jens Spahn für derartige Immunitätsausweise in digitaler Form ausgesprochen. Aus dem Mitte Mai beschlossenen zweiten Pandemiegesetz musste er den Passus streichen. Dennoch hält er an der Idee fest und hat den Ethikrat um eine Stellungnahme gebeten. Die Wissenschaftlerin Natalie Kofler hat sich da schon ein Bild gemacht.
"Das erste Mal habe ich von Immunitätspässen erfahren, als eine Kollegin von mir darüber getwittert hat. Das war im April. Ich habe sie darauf angesprochen. Sie ist Philosophin, spezialisiert auf Bioethik. Ich bin Molekularbiologin. Das war also ein spannendes Thema für uns. Zunächst war mir mulmig und ich habe versucht, herauszufinden, wo dieses Unbehagen herkam. Da wurde mir klar, was für riesige ethische Probleme hinter dieser Idee stecken."
Die beiden Forscherinnen haben im Fachblatt "Nature" einen Kommentar gegen Immunitätspässe geschrieben. Bevor sie darin überhaupt zu den ethischen Einwänden kommen, legen sie ganz praktische Probleme dar. Ein solcher Immunitätspass müsste auf einem Antikörpertest basieren. Man würde also im Blut des Patienten schauen, ob das Immunsystem bereits Abwehrmechanismen gegen das Virus entwickelt hat.
"Wir wissen aber gar nicht, wie die Immunität bei Covid-19 funktioniert", so Kofler. "Welche Antikörper genau wichtig sind, ob man wirklich Antikörper braucht und wie lange die Immunität überhaupt anhält – das könnten nämlich ein paar Monate oder auch Jahre sein."

"Man wird sehr viele Tests brauchen"

Wegen solcher Unsicherheiten hat sich auch die WHO gegen Immunitätspässe ausgesprochen. Auch Jens Spahn hat gesagt, dass man solche Fragen klären müsste, bevor man Immunitätspässe einsetzt. Aber es kommen weitere Probleme hinzu. Manche der Antikörpertests an sich sind unzuverlässig und könnten Menschen in falscher Sicherheit wiegen.
"Dann gibt es da noch ein kleines praktisches Problem", so Kofler. "Naja, es ist eigentlich ein Riesenproblem: Man wird sehr viele Tests brauchen. Nehmen wir mal Deutschland. Die Firma Roche, die einen sehr guten Test hat, will Deutschland pro Monat fünf Millionen Tests liefern. Das heißt also, dass zunächst nur ein kleiner Teil der Bevölkerung getestet werden könnte."
Das sieht in der Tat nach einem kleinen Problem aus. Denn man könnte es auf lange Sicht technisch lösen, indem man mehr Tests herstellt und bis dahin einfach nur einen Teil der Bevölkerung testet. Aber genau hier tun sich die ethischen Probleme auf:
"Wenn eine Ressource knapp ist, müssen sich die Menschen, die in einer Gesellschaft ohnehin an den Rand gedrängt werden, ganz hinten anstellen. In den USA wären das Schwarze, Arme oder Flüchtlinge. Auch Ältere, weil die Regierung keinen Anlass hätte, Menschen zu testen, die ohnehin nicht arbeiten werden. Somit würden nur die Privilegierten davon profitieren", befürchtet Kofler.
Ein Obdachloser liegt in einem Hauseingang in East Harlem, New York.
Immunitätspässe würden in einem Land wie den USA die soziale Ungleichheit weiter verschärfen, meint Natalie Kofler.© imago / ZUMA Wire
Sie geht davon aus, dass das gerade in einem Gesundheitssystem wie dem der USA ein Problem wäre. Dort hängt die Versorgung stark vom Einkommen und der Arbeitsstelle ab. Wozu das führe, wenn Tests begrenzt verfügbar seien, habe man im März an den ganz normalen Coronatests gesehen. Damals hätten sich Sportler oder Firmenchefs problemlos testen können, während gleichzeitig komplette Bundesstaaten nur 20 Tests pro Tag für den ganzen Rest der Bevölkerung hatten. Die Immunitätspässe würden somit bestehende Ungleichheiten vergrößern. Die Pässe könnten aber gleichzeitig eine neue Ungleichheit schaffen. Nämlich zwischen Menschen, die die Krankheit hatten, und denen, die sie noch bekommen könnten.
"Wenn wir die Gesellschaft anhand biologischer Merkmale aufteilen, sei es das Geschlecht, die Hautfarbe, eine HIV-Infektion oder jetzt eben eine überstandene Covid-Erkrankung, erzeugt das Ungleichheit. Das ist nicht fair. Es ist nicht gesund. Immunitätspässe wären für mich ein Schritt in Richtung Vergangenheit."

In New Orleans gab es so etwas schon einmal

Das sagt Natalie Kofler nicht einfach so. Sie hat ihren Artikel mit einer historischen Parallele begonnen. Im 19. Jahrhundert war New Orleans eine aufstrebende Metropole. Aber jeden Sommer wütete dort das Gelbfieber. Menschen, die tief in der Stadt verwurzelt waren und dadurch bereits eine Gelbfieber-Infektion überlebt hatten, genossen besondere Privilegien – denn sie galten als immun. Damals sagte man "akklimatisiert".
"Arbeitgeber stellten nur akklimatisierte, junge Männer ein. Wer ein politisches Amt wollte, musste akklimatisiert sein. Es war auch ein Kriterium dafür, wer wen heiraten durfte."
Es ging sogar so weit, dass irische Immigranten aktiv versuchten, sich mit Gelbfieber anzustecken, um den begehrten Status zu erreichen. Könnte sich die Geschichte wiederholen?
"Mit so einem Immunitätspass hätte man heute schon große Vorteile", meint Natalie Kofler. "Denken wir mal an Leute, die Probleme haben, ihre Familie zu versorgen. Wenn sie dadurch wieder arbeiten könnten, wäre das schon eine große Motivation, oder? Es könnte also passieren, dass Menschen sich aktiv mit der Krankheit anzustecken versuchen. Und wir sprechen hier nicht von den Windpocken. Sondern von einem tödlichen Virus, über das wir noch so wenig wissen. Das macht mir schon große Sorgen."
Natalie Kofler sagt, dass man zumindest die Vorteile, die Immunitätspässe für die Wirtschaft versprechen, auch auf andere Art bekommen kann: physische Distanz, Händewaschen, Masken, Kontaktverfolgung – es sind die klassischen, fundierten Mittel gegen Infektionskrankheiten. Und wenn sie richtig eingesetzt werden, betreffen sie jeden gleichermaßen.
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