Demokratische Prinzipien

Erdogan ist nicht die Türkei

Eine Karikatur zum Referendum für eine Verfassungsänderung in der Türkei.
Eine Karikatur zum Referendum für eine Verfassungsänderung in der Türkei. © imago/Hollandse Hoogte
Von Zafer Şenocak · 04.08.2017
Willkürliche Verhaftungen, Schwächung von Opposition, Justiz und Presse, die geplante Einführung der Todesstrafe – in rasantem Tempo hat die Türkei demokratische Prinzipien demontiert. Es gibt trotzdem noch Hoffnung, meint Zafer Şenocak.
Hören wir heute "Türkei", denken wir sofort an "Erdoğan". Denn der türkische Präsident ist nicht nur eine Reizfigur. Er besetzt inzwischen den mentalen Raum zwischen Staaten, Völkern und Kulturen mit allen Schreckensbildern, die ihm zur Verfügung stehen. Erdoğan hat Populismus und Ideologie erfolgreich gekreuzt. So erfolgreich, dass seine Gegner machtlos scheinen.
Die Stärke des türkischen Präsidenten beruht dabei vor allem auf den Bildern, die er von sich geschaffen hat. Spätestens seit dem Putschversuch vor einem Jahr ist er starker Mann und Retter der Demokratie zugleich. Gläubiger Muslim noch dazu – die politische Figur, die in der islamischen Welt für Fortschritt, Wohlstand und Orientierung sorgen soll.
Denn auch geistig liegt die islamische Welt in Trümmern. In dieser Lage hoffen die Menschen auf einen Prinzen, der sie aus der misslichen Lage rettet. Die Ölprinzen vermochten es bislang nicht. Und die Islamisten stellen fast täglich unter Beweis, dass ihre ideologische Alternative keine Prinzipien kennt. Dass ihr Hass auf westliche, liberale Werte im Blutbad endet.

Rückbesinnung auf Geschichte der Vielfalt

Und tatsächlich: In der Türkei liegt noch Hoffnung. Nicht weil Erdoğan die Türkei regiert. Nein, ganz im Gegenteil, weil das türkische Volk langsam beginnt, sich auf seine heterogenen Wurzeln zu besinnen. Weder die Rückbesinnung auf die islamische Religion, noch der laizistische Nationalismus allein können die türkische Identität heute bestimmen.
Im untergegangenen Osmanischen Reich hatte der Nationalismus Schreckliches angerichtet. Aufgearbeitet wurde das nie. Eine ständige Selbstverleugnung war die Folge. Türkische Identität kann nur in der Diversität des Landes zu sich selbst finden. In der Geschichte der verschiedensten Volksgruppen, Sprachen und Religionen.

Erdogan repräsentiert kaum die halbe Türkei

Die islamistische Türkei, die dem türkischen Präsidenten nun vorschwebt, schmeckt nicht einmal der Hälfte der heutigen Türken. In der Opposition könnte sich deshalb eine neue Mehrheit formieren. Kurden, Aleviten, liberale, Menschen, die einen westlichen Lebensstil führen, aber auch Muslime, die in Freiheit leben wollen. Sie alle sorgen sich um den verlorenen Respekt gegenüber den politisch Andersdenkenden. Sie sehnen sich nach einer umarmenden Sprache.
Der Widerstand in autoritären Systemen beginnt immer mit einer neuen, nüchternen, nicht selten auch humorvollen Sprache, die die Floskeln der Machthaber entlarvt. So war es im Ostblock. Die Bürgerrechtsbewegungen hatten ihre Literatur, ihre moralischen Leitfiguren. Das Unrecht war mächtig aber nicht überlebensfähig.
Und die Dissidenten im Osten Europas genossen unsere Solidarität und Bewunderung. Es gab eine grenzüberschreitende Verbundenheit der Aufrichtigen, die mit dazu beigetragen hat, dass die unumstößlich scheinenden Schlagbäume zwischen den politischen Systemen gefallen sind. Die Teilung Europas wurde überwunden.

Die Ideologische Mauer zwischen Europa und der Türkei überwinden

Heute steht eine neue Mauer in Europa. Jene Mauer zwischen der Türkei und dem Westen. Sie ist nicht minder ideologisch als die zwischen Kommunismus und Kapitalismus, denn ihre Bausteine tragen kulturelle Spurenelemente. Das christliche Abendland gegen den islamischen Orient, diese Konfliktformation steht in den Geschichtsbüchern, aber sie ist vor allem Kopfkino, die auch in unseren Tagen manchen an die Front lockt. In der Türkei aber wird die Fantasie politischer und kultureller Reinheit ad absurdum geführt. Die Türkei ist nicht nur Erdoğan. Das gilt es wieder zu entdecken, auch um der Zukunft Europas willen.

Zafer Şenocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache und schreibt regelmäßig für Tageszeitungen. 1998 erhielt er den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis.

Zafer Senocak
© imago images / Horst Galuschka
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