Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Diskussion um den Nationalstaatsbegriff
Neue Plädoyers für ein liberales Nationalbewusstsein

Lange war unter deutschen Intellektuellen Konsens, dass der Nationalstaat ein Irrweg war, der zu zwei katastrophalen Kriegen führte. Aber mittlerweile wollen Linksliberale "Nation" nicht länger den Rechten überlassen - und plädieren für ein demokratisches, ziviles und diverses Nationalbewusstsein.

Von Ingeborg Breuer | 21.01.2021
Flaggen im Europäischen Parlament in Brüssel
Die Auslagerung von Kompetenzen an supranationale Organisationen - wie etwa die EU - bedeutet nicht zwangläufig, dass das Konzept "Nationalstaat" überholt ist (picture alliance / Photoshot / Fabio Mazzarella)
"Imagine" sang John Lennon 1971. Stell dir vor, es gibt keine Länder, keine Religionen, sondern die Welt würde eins, heißt es da sinngemäß. Lennon entwirft die Vision einer friedlichen, solidarischen Welt. Das Gegenmodell zu einer Welt voller Grenzen, voller Neid, Aggression und Konkurrenz. Eine Welt, in der es nichts gäbe, für das man töten oder sterben würde.
"Wenn man jetzt versucht, ein demokratisches Europa aufzubauen, ist die nationale Identität sicher das Unwichtigste", behauptet der österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Und: "Das Konzept der Nation hat sich nach allem, was wir aus der Geschichte wissen von den großen Verbrechen im Namen der Nation, eigentlich erledigt."
Der Schriftsteller Robert Menasse bei der Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse ist ein vehementer Kritiker der Nationalstaatsidee (dpa / Andreas Arnold)
Folgt man den Diskursen vor allem linksliberaler Intellektueller, dann sind Nationalstaaten überholt. Seit ihrer Herausbildung vor allem im 19. Jahrhundert säten sie vor allem Unfrieden. Der Einheit nach Innen entsprach eine oft aggressive, ja kriegerische Abgrenzung nach Außen – gegenüber denen, die nicht dazugehören, den Widersachern, den Feinden. De-Nationalisierung scheint die Antwort auf solche historischen Erfahrungen.
Deshalb rief zum Beispiel im Jahr 2018 Robert Menasse mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot die "Europäische Republik" aus. Erst wenn die Grenzen zwischen den Nationen fielen, so Ulrike Guerot, dominierte nicht mehr das "Männliche – Nationalstaat, Krieg, Macht, Militär". Sondern Europa – und schließlich die ganze Welt – könnte zu einem "Nachnationale(n) Matriarchat" werden. In einem Werbespot für diese Idee sagte Ulrike Guerot:
"Der Nationalstaat muss in Europa abgeschafft werden, denn wir wollen ja eine europäische Demokratie. Deswegen müssen wir verstehen, dass die Nation ja gar nicht der Träger von Identität ist."

Die Nation als Auslaufmodell

"Im Rahmen einer Modernisierungstheorie ging man davon aus, dass sich die Nationen auf dem Weg in eine kosmopolitische Weltgesellschaft früher oder später von selbst auflösen würden", resümiert Aleida Assmann, emeritierte Professorin für Anglistik und allgemeine Literaturwissenschaft in einem Vortrag im ORF-Radiokulturhaus in Wien. "Modernisierungstheoretiker, Technokraten, Manager, aber auch linke Intellektuelle teilten ein Geschichtsbild, in dem sich die Nation aus der Geschichte verabschiedet."
Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann
Aleida Assmann über kulturelles Gedächtnis
Die Deutschen haben spät begonnen sich zu erinnern. Sie müssen aber eine gemeinsame Geschichte der Vergangenheit finden, um in einer Gesellschaft zusammenleben zu können, sagte die Friedenpreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2018 im Dlf.
"Die Idee der Nation hatte einen historischen Beginn und wie alles, was in der Geschichte einen Beginn hat, wird es ein Ende haben", schreibt Robert Menasse. Nationalstaaten basieren nämlich nicht auf einer natürlichen Ordnung, sondern sind künstliche Konstrukte. Und das heißt: Sie sind nicht alternativlos.

Neue Plädoyers für den Nationalstaat

"Sicher, man muss verstehen, Nationen sind nicht einfach da, sondern Nationen werden gemacht. Und deshalb ist es natürlich möglich, Nationen als soziale Konstruktion zu dekonstruieren. Aber sollten wir sie dekonstruieren? Das kommt darauf an. Wenn‘s darum geht, rassistische Überlegenheitsphantasien zu entlarven, dann unbedingt. Aber Nationen zeichnen historisch eben nicht nur für Verbrechen verantwortlich. Sondern sie stehen eben auch für gemeinschaftlichen Zusammenhalt."
Michael Bröning schrieb 2018 das Buch "Lob der Nation". Der Leiter der Friedrich Ebert Stiftung in New York und Mitglied der SPD-Grundwertekommission wandte sich mit seinem Lob sowohl gegen das verbreitete Paradigma des "Post-Nationalen" als auch gegen die Neuerfindung Europas als "Kontinent ohne Nationen". Sein Plädoyer für den Nationalstaat machte Schule. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Aleida Assmann ihr Buch "Die Wiedererfindung der Nation". Und in den USA erschien im letzten Sommer das Manifest der Harvard-Historikerin Jill Lepore "Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation".

Nationenbegriff wurde den Rechten überlassen

Den Büchern gemeinsam ist die Erkenntnis, dass das Desinteresse der Linken an der Nation vor allem die politische Rechte stärkte, die den Nationenbegriff so für sich reklamieren konnte.
"In unserem liberalen Denken vergaßen wir die Nation, aber illiberale Denker und ihre Bewegungen taten genau das Gegenteil. Rechte Nationalismen sind lautstark in die Öffentlichkeit zurückgekehrt und machen sich nun in der EU immer breiter."
Kontroverse zwischen Ulrike Guérot und Michael Bröning: Hat der Nationalstaat eine Zukunft?
Migration, Datenschutz, Klimawandel, soziale Spaltung: Globale Probleme scheinen manchmal kaum lösbar zu sein. Ist der Nationalstaat für die Beantwortung transnationaler Fragen zum Hindernis geworden - oder das einzig vernünftige Modell?
Rechtspopulistische Politiker und Parteien fordern gegen die kosmopolitischen Visionen der Linken knallharte nationale Interessenpolitik ein. Zudem aber, darauf weist Michael Bröning hin, werden diese kosmopolitischen Visionen von der Mehrheit der Bevölkerung gar nicht getragen. Die überwiegende Zahl der Europäer definiert sich über ihre nationale Identität.

Deutsches Unbehagen mit der Nation nicht repräsentativ

Einzig bei den Deutschen sei dieses Nationalbewusstsein – etwas – weniger verbreitet. Das lässt vermuten, dass ausgerechnet die postnationale Sichtweise der kosmopolitischen Deutschen eine überraschend nationale Komponente enthält. Gerade aufgrund ihrer fatalen Geschichte seien die Deutschen besonders antinational gestimmt. Und damit verknüpft sich die Frage:
"Inwiefern ist es statthaft, dass doch merkbare Unbehagen der Deutschen mit der Nation eben auf Europa zu übertragen und angesichts der deutschen Geschichte ein Konzept zu stigmatisieren, das in anderen Kontexten nicht Tatwaffe war, sondern Schutzschild? Wenn Sie sich Polen ansehen, dort ist der Nationalstaat historisch betrachtet ja nicht als Aggressor in Erscheinung getreten, sondern als Schutzschild. Und zwar pikanterweise gegen Nationalismus und übersteigertes Nationalgefühl aus Deutschland."
Angela Merkel, Bundeskanzlerin von Deutschland, und Mateusz Morawiecki  Ministerpräsident der Republik Polen, treffen zur Gedenkfeier anlässlich des 80. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs in Warschau ein.
In den von Deutschland im Zweiten Weltkrieg angegriffenen Staaten ist der Begriff der Nation positiv besetzt (dpa / Leszek Szymanski/PAP)

Nation als "Solidaritätsgenerator"

Zudem sind demokratische Entscheidungen nach wie vor an nationalstaatliche Parlamente gebunden. Und supranationale Organisationen – nicht zuletzt die EU – leiden oft an einem "Demokratiedefizit". All das legt die Frage nahe, ob der Nationalstaat vielleicht besser ist als sein Ruf. "Warum wir die Nation fürchten" so auch der Untertitel von Aleida Assmanns Buch, ist vielen klar. Doch es fehlt die Antwort auf die Frage "Warum wir sie brauchen". Michael Bröning gibt eine Antwort:
"Wenn es nichts gibt, was uns als Staatsbürger miteinander verbindet, was uns als weltoffene Nation miteinander verbindet, wenn wir uns als freischwebende Individuen empfinden, warum sollten wir dann zahlen für den Länderfinanzausgleich, warum sollen wir uns interessieren für die Hochwasserkatastrophe an der Oder? Menschen sind weniger bereit, das zu tun, wenn es die nationalstaatliche Grenze überschreitet."
Die Nation wirke gar als "Solidaritätsgenerator", beschreibt auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Und wer nationale Identitäten auflösen will, fördere deshalb letztlich Entsolidarisierung. Das gleiche gelte auch, findet Michael Bröning, wenn in der Migrationsdebatte offene Grenzen gefordert werden. Denn er befürchtet, dass sich damit gerade für die weniger Wohlhabenden in der Gesellschaft die Konkurrenz um Bildung, Arbeit und Wohnraum verschärfen könnte.

Bedrohungen gehen eher von gescheiterten Staaten aus

Und auch globale Probleme wie zum Beispiel der Klimawandel ließen sich zwar keineswegs allein auf nationalstaatlicher, doch noch weniger einzig auf der Ebene supranationaler Organisationen lösen. Die Welt, so Brönings Fazit, leide heute gerade nicht an einem Zuviel an Staatlichkeit, sondern an einem Zuwenig. Die aktuellen Bedrohungen gingen heute nämlich vor allem von sogenannten "failed states" – gescheiterten Staaten - aus, die nicht mehr in der Lage seien, ihre grundlegenden Aufgaben zu erfüllen. Und das bedeute:
"Wenn Sie sich die Weltkarte anschauen, dann kann es uns beim besten Willen nicht darum gehen, Nationalstaatlichkeit zu überwinden. Sondern es muss uns darum gehen, effektive Staatlichkeit überhaupt mal weltweit herzustellen."

Die Vorstellung einer liberalen Nation

Statt die Verteidigung des Nationalstaates den Rechten zu überlassen, wird es also Zeit, dass die liberale Linke eine Vorstellung von Nation entwickelt. Eine allerdings, die nicht charakterisiert ist durch Vormachtstreben, Chauvinismus und Ausschluss, wie es etwa Ex-Präsident Trump mit seiner "America first"-Politik demonstrierte.
"Die USA sind wirklich eine Idee, die wir gemeinsam haben. Sie enthält eine Reihe von Verpflichtungen - zu Gleichheit und Gerechtigkeit und Freiheit. Und wenn wir diese Ideen nicht bewahren, dann bindet uns sehr wenig aneinander."
Cover von Jill Lepores "Diese Wahrheiten"
Jill Lepore: "Diese Wahrheiten"
In einer brillanten Studie schreibt die Historikerin Jill Lepore die Geschichte der USA von Christoph Kolumbus bis Donald Trump. Sie zeigt darin, dass die aktuelle politische Polarisierung nicht neu ist, sondern die Nation von Anbeginn begleitet.
Die amerikanische Historikerin Jill Lepore erinnert in ihrem "Manifest für eine bessere Nation" durchaus an die dunklen Seiten der amerikanischen Geschichte – die Sklaverei, die Unterdrückung der Indianer und die Rassentrennung. Und dennoch seien der amerikanische Nationalismus und der Liberalismus aus "demselben Grundstoff" geformt. Denn die USA wurden, wie einer ihrer Gründerväter, Thomas Paine es nannte, als "ein Asyl für die Menschheit" gegründet. Als eine "liberale Nation, der jeder Mensch angehört, der ihre bürgerschaftlichen Ideale teilt". Dieser liberale Nationalismus sei aber heute gekapert von Illiberalen und Rassisten. Und die gelte es zu bekämpfen, nicht aber den Nationalismus selbst.

Humaner Nationalgedanke statt männlich-kriegerischer Ideologie

"Nationen sind für sich genommen niemals brutal oder zivil, sondern nur in Bezug auf ihre kulturellen Programme." Für Aleida Assmann gibt es nicht die Nation per se. Sondern Nationen sind geprägt von Narrativen, die ihnen erst eine konkrete Gestalt verleihen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert habe Europa die Nation sakralisiert, habe sich in eine "nationale Religion" hereingesteigert, mit einer Hoffnung auf Erneuerung des Kontinents durch Gewalt. Solche "thymotische" - das heißt, von einem männlich kriegerischen Geist getragenen – Energie müsse gebändigt werden, damit ein humaner nationaler Gedanke seine Stärke entfalten könne.
"Entscheiden Sie sich für thymotischen Stolz oder für antithymotische Menschenwürde? Was erklären Sie für heilig, die Nation, das Kollektiv, den Staat oder das Individuum? Es ist an der Zeit, dass wir positive Werte und Ideen mit der Nation verknüpfen und uns in den Zeiten der politischen Gefahr auch aktiv dafür einsetzen."
20.06.2019, Berlin: Aleida Assmann, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018, spricht bei der Gedenkstunde zum Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung zu den Teilnehmern. Seit 2015 wird jährlich am 20. Juni an die Opfer von Flucht und Vertreibung weltweit sowie insbesondere an die deutschen Vertriebenen erinnert. Foto: Kay Nietfeld/dpa | Verwendung weltweit
Aleida Assmann 2019 bei der Gedenkstunde für die Opfer von Flucht und Vertreibung (dpa)

Kulturelle Identität als Grundlage für Integration

Aleida Assmann entwirft das Bild einer Nation, die nicht auf ethnischer Homogenität begründet ist. Sie warnt aber auch vor einem Nebeneinander in sich geschlossener Minderheiten. Die Nation brauche durchaus eine kulturelle Identität, die als Grundlage eines Aufeinander-Zugehens diene und Integration erst ermögliche.
"Die Nation ist auch so etwas wie eine Klammer für Integrationsangebote. Also in dem Augenblick, wo man Menschen von außerhalb hereinkommen, wollen die wissen, in welchem Land sie leben. Nicht dass sie eine Leitkultur vorgesetzt bekommen, aber dass sie sich in diesem Land orientieren und etwas aufnehmen, um zu partizipieren. Wenn sie das nicht bekommen, was eine Nation ist, dann würden sie ihrem Herkunftsland hörig bleiben, dann hätten wir wieder eine Art Parallelgesellschaft kreiert."

Corona bringt überraschende Wiedergeburt des Nationalstaats

Mit der Corona-Pandemie allerdings fand sich der Traum von der einen Welt auf dem harten Boden der Wirklichkeit wieder. Der Nationalstaat feierte eine unerwartete Wiedergeburt. Staaten schlossen ihre Grenzen, verhängten Exportverbote für medizinisches Equipment, es galt wieder: die eigene Bevölkerung zuerst! Und auch jetzt, wo die EU-Staaten sich ihrer gegenseitigen Solidarität versichern, liege dies, so Jens Spahn vergangene Woche "im nationalen Interesse Deutschlands". Da stellt selbst Michael Bröning die Frage, ob die Nationalstaaten denn ihre zurückgefundene Stärke in Zukunft so schnell wieder aus der Hand geben? Das Narrativ des Nationalstaates wird jedenfalls noch einmal umgeschrieben werden.
"Die Staaten waren es, die reagiert haben auf die Krise, aber die Staaten waren es auch, die vereinzelt massiv überreagiert haben. Im Gegensatz dazu wurden die supranationalen Institutionen von der Krise kalt erwischt. Und wie wir wissen, hat auch die Europäische Union in Sachen Impfstoffbesorgung nicht eben Weltrekorde in Sachen Effizienz gerissen. Ja, Corona das ist auch die Stunde des Staates, aber - und das sage ich als grundsätzlicher Freund von demokratischer Staatlichkeit - wir müssen schon aufpassen, dass diese Stunde des Staates nicht in eine Ewigkeit verwandelt wird. Und die Debatte in den kommenden Wochen und Monaten wird erneut darum gehen, welches Maß von demokratisch kontrollierter Staatlichkeit wir benötigen."
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2