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Diskussion um Täter-Liste
Stalins Schergen

Der Terror in der Sowjetunion unter Stalin hatte ihren Höhepunkt in den 30er-Jahren, im sogenannten Großen Terror. Bis heute ist dieses Kapitel nicht richtig aufgearbeitet. Nun hat die Organisation Memorial eine Datei mit rund 40.000 Namen von Stalins Schergen veröffentlicht. Damit löste sie heftige Kritik aus.

Von Gesine Dornblüth | 22.12.2016
    Undatierte Aufnahme des sowjetischen Diktators Josef Stalin.
    Undatierte Aufnahme des sowjetischen Diktators Josef Stalin. (picture-alliance / dpa)
    Mehr als 41.000 Namen, alphabetisch geordnet, von Ababin, Boris Iwanowitsch, bis Jaschtschuk, Wenedikt Wasiljewitsch. Dazu Dienststelle, Beförderungen, Auszeichnungen. Sie alle dienten in den Jahren des Großen Terrors, 1935 bis 39, im Sowjetischen Geheimdienst. Der Moskauer Amateur-Historiker Andrej Schukow hat die Daten zusammentragen. Dafür hat er fast 15 Jahre lang mehrere Tage die Woche in Archiven verbracht. Der 64-Jährige ist aufgrund gesundheitlicher Probleme schon lange arbeitsunfähig und hat daher viel Zeit. Er sammelt auch Briefmarken.
    "Ich hatte keine politischen Ziele. Ich fand die Sache aber nötig. Für die Forschung. Was in den 30er-Jahren passiert ist, war eine Schande. Mir fehlen die Worte dafür. Fast in jeder Familie gab es Opfer. Bei mir wurde der Neffe der Schwester meiner Oma erschossen."
    Einige Zeitungen nennen Schukows Liste eine "Henkersliste". Er wehrt sich dagegen.
    "Die Leute waren bei Weitem nicht alle Henker. Man darf nicht alle über einen Kamm scheren. Wo gehobelt wird, da fliegen Späne. Man müsste jedes Schicksal einzeln prüfen."
    Überfällige Debatte auch über Täter
    Publiziert hat Schukow die Liste mithilfe von Memorial. Dort formuliert man die Ziele deutlicher. Das Verzeichnis solle helfen, die Mechanismen der Verbrechen unter Stalin besser zu verstehen. Und sie könne eine in Russland längst überfällige Debatte auch über Täter und über persönliche Verantwortung anstoßen. Der stellvertretende Vorsitzende von Memorial, Nikita Petrow:
    "Russland ist offenbar an einem Punkt angekommen, an dem die drängende Frage gestellt wird: Wie sollen wir mit unserer sowjetischen Vergangenheit umgehen? Wollen wir sie als verbrecherisch betrachten, oder wollen wir versuchen, den Terror von damals zu rechtfertigen? Es hat sich herausgestellt, dass in der Politik die Meinung überwiegt, dass eine Analyse der sowjetischen Verbrechen unnötig ist."
    Im Frühjahr hatte bereits eine andere Publikation für Wirbel gesorgt. Der Philosoph Denis Karagodin aus Tomsk in Sibirien hatte nach jahrelanger Forschungsarbeit herausgefunden, wer für die Ermordung seines Urgroßvaters 1938 verantwortlich war. Die Enkelin eines der Beteiligten meldete sich daraufhin bei Karagodin und entschuldigte sich. Es blieb ein Einzelfall. Schon Karagodins Erfolg löste Zustimmung und Widerspruch aus. Der nationalbolschewistische Schriftsteller Eduard Limonow warf Karagodin vor, er werde Russland in einen "Retro-Bürgerkrieg" stürzen, in dem die Menschen für ihre Vorfahren kämpfen.
    Die Veröffentlichung der NKWD-Liste mit mehr als 41.000 Namen rief nun eine ganze Armada von Publizisten auf den Plan. Sie fordern, die Website mit den Daten zu sperren. Zum Beispiel Konstantin Sjomin mit seiner Kolumne "Agitation und Propaganda" im Staatssender Rossija 24.
    "Uns interessieren keine nackten Fakten, sondern Ursachen und Folgen. Es gibt nur eine Wahrheit."
    In seiner Kolumne "Agitation und Propaganda" behauptete Sjomin, Selbstverleugnung und Selbstmarterung, Kritik also an der eigenen Geschichte, speziell am Geheimdienst, hätten Ende der 80er-Jahre das Fundament der Sowjetunion "unterspült". In Sjomins Logik führt Aufarbeitung unvermeidlich zu Chaos.
    "In der DDR, in Rumänien, in Bulgarien, in Polen, egal wo – es ist ein unbedingter Abschnitt bei der Dekonstruktion des Staates: Erst muss die Staatssicherheit diskreditiert und unschädlich gemacht werden. Dann wird Reue zur Brechstange, mit der das sowjetische Erbe vollständig zertrümmert wird – bis hin zu Krieg, Brudermord, Raketenhagel und Flüchtlingen."
    Kritik an der Organisation Memorial
    Der viel gelesene Publizist Nikolaj Starikow, ein Sowjetnostalgiker, verwies darauf, dass Memorial ein "ausländischer Agent" sei. Mit der Liste wolle die Organisation die sowjetische Geschichte in den Dreck ziehen.
    Ein Abgeordneter der Staats-Duma schaltete sogar die Staatsanwaltschaft ein. Sie soll prüfen, ob sich Memorial mit der Veröffentlichung der rund 41.000 Namen strafbar gemacht hat. Es könne sich um "Anstachelung zum Hass gegen eine bestimmte Gruppe" handeln, sprich, gegen Geheimdienstler.
    Nikita Petrow von Memorial sieht es gelassen. Aber sein Optimismus hat einen Dämpfer bekommen.
    "Die Geheimdienste versuchen heute, ihre Vergangenheit als ruhm- und heldenreich darzustellen, als Dienst an Volk und Vaterland. Das macht es noch schwerer, eine Diskussion über die Täter öffentlich zu führen."
    Zumal mit Wladimir Putin ein Geheimdienstler an der Spitze des Staates steht.