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Disneyfizierung des Glaubens

Vergleicht man die beiden Phänomene Religion und Tourismus miteinander, erscheinen sie so gegensätzlich wie Feuer und Wasser: Auf der einen Seite das Heilige, Tiefgründige, das Jenseits und die Erlösung - auf der anderen das Profane, Oberflächliche, das Diesseits und die Entspannung. Der Religionswissenschaftler Michael Stausberg hat sich mit den Verbindungslinien zwischen Religion und Tourismus beschäftigt und kommt zu ernüchternden Ergebnissen.

Von Sabine Peters | 08.07.2010
    Lässt sich "der" Tourismus als ein bloßes negatives Oberflächenphänomen erfassen? Ist der Reisende einfach ein Hedonist, der Spiel, Ablenkung und Vergnügen sucht? Ganz so einfach ist es nicht, sagt der Religionswissenschaftler Michael Stausberg, Jahrgang 1966. Denn oft geht es darum, auf Bildungsreisen ein fremdes kulturelles Territorium zu entdecken. Viele Menschen geben große Teile ihres Einkommens fürs Reisen aus; es gehört zu den Höhepunkten in ihrem Leben. Reisen dient der Selbstdefinierung, es bildet einen wichtigen Teilbereich der Identität. Und umgekehrt: Ist der Gläubige eine rundum positive Figur, ein frommer asketischer Pilger auf der beschwerlichen Lebensreise, dem es nur um strenge Rituale, um Konzentration und um das jenseitige Heil geht? Ist "die" Religion tatsächlich so sakral und unhinterfragbar? Das Konstrukt der "wahren", "echten" Religion mag zur Rhetorik eines Predigers gehören, aber es ist keine wissenschaftliche Kategorie. Im übrigen bleibt von der Erhabenheit des Religiösen nicht viel übrig, wo im Namen eines Gottes Gewalt ausgeübt wird, oder wo Religion zum Kitsch verkommt.

    Michael Stausberg untersucht in seinem soeben erschienenen Buch "Religion im modernen Tourismus" ganz unterschiedliche Erscheinungsformen beider Phänomene, und seine Ergebnisse fallen entsprechend differenziert aus – er dekonstruiert die Stereotypen, die mit beiden Systemen verbunden sind. Forschungen in der Tradition des Soziologen Èmile Durkheim, demzufolge die Religion nun schon seit geraumer Zeit auf dem Rückzug sei und durch andere Strukturen ersetzt werde, hält Stausberg für wenig produktiv. Ihn interessieren die Wechselbeziehungen zwischen beiden Systemen.

    Religion hat immer schon Gläubige mobilisiert; sie nehmen bis heute an Wallfahrten und Pilgerreisen teil, die allerdings oft zum reinen Spektakel geraten und teilweise zu Konsumveranstaltungen mutieren. Das Osterfest in Rom zieht auch nicht-religiöse Touristen an; und diverse Heiligtümer, ob ein buddhistischer Tempel hier oder die Kultgegenstände eines Schamanen da, wecken das kulturelle oder spirituelle Interesse einer ganz heterogenen Klientel von Reisenden. Die Wirtschaft eines Dorfes oder einer Region, auch die eines ganzen Landes profitiert von den fremden Besuchern, und von Fall zu Fall geht es darum, die Bedürfnisse der Reisenden und der einheimischen Gläubigen miteinander abzustimmen. Kleiderordnungen und Verhaltensvorschriften in Synagogen, Moscheen, Kirchen und Tempeln sind ein Versuch, die Gläubigen zu schützen; denn Rituale, Tänze und Feste sollen nicht zum Teil eines Unterhaltungsprogrammes verkommen und lediglich den Voyeurismus der Besucher bedienen.

    Wo beginnt die kulturelle Ausbeutung, die Prostitution einer Glaubensgemeinschaft? Wo könnte ein behutsamer Tourismus zu einer Revitalisierung kultureller, religiöser Ausdrucksformen führen? Der Tourismus ist janusköpfig; und Stausberg hält daran fest, dass man ihn nicht auf die Aushöhlung von Sinn, auf die Vermarktung kulturellen Kapitals reduzieren könne. Denn oft erhalte sich die Bedeutung eines Kults für die Ausübenden selbst unabhängig von beobachtenden Fremden. Und: "Sinn" ist Stausberg zufolge nichts, was zeitlos zementiert wäre, er befindet sich in einem stetigen Wandel.

    Der polnisch-britische Sozialtheoretiker Zygmunt Baumann sieht den Touristen als die metaphorische Figur des postmodernen Zeitalters; "Ziel" und "Sinn" der Lebensreise gibt es danach allenfalls noch in fragmentarischer Form. Der Tourist sucht neue Eindrücke und Stimuli; er ist ungebunden und schweift in einer durch allerhand Polster gesicherten Welt frei herum. Stausberg fügt hinzu: Diese Diagnose treffe ebenso für die religiöse Biografie der postmodernen Zeitgenossen zu. Man wolle nicht mehr unbedingt durch ein fest gefügtes Religionssystem bestimmt werden, sondern erprobe vielmehr alle möglichen spirituellen Erfahrungen.

    Natürlich reagiert die Tourismusindustrie auf diese veränderten spirituellen Bedürfnisse; Stausberg sammelt und beschreibt in sehr neutralem Ton einige Phänomene: Da gibt es den religiösen Themenpark in Florida; die Besucher können eine Nachbildung des Jerusalemer Tempels und die Via Dolorosa betrachten; in Liveshows werden biblische Gestalten zum Leben erweckt. Oder: Japanische Reiseveranstalter bieten ihren Kunden auf Hawai pseudoamerikanisch - christliche Hochzeitsrituale an, zu denen Kapelle, Bibeln, Orgelmusik und ein "Geistlicher" gehört; hier wird genau die Form der Eheschließung inszeniert, der viele amerikanische Paare entfliehen. Stausberg greift zwar das Stichwort der "Disneyfizierung der Religion" auf. Er weist allerdings auch darauf hin, welchen Anteil daran die Religionsgemeinschaften selbst oft haben. Die Eigenwerbung einiger christlicher Klöster unterscheidet sich beispielsweise teilweise kaum noch von der Werbung der boomenden Wellnesshotels.

    Man könnte Stausberg vorhalten, dass seine Untersuchung zu viele Religionen miteinander vergleicht; dabei ist ja jede Religionsgemeinschaft in sich schon heterogen und zeigt sich teils liberal, teils fundamentalistisch. Der Autor polarisiert nicht, er vermeidet es auch, zu polemisieren; sein Buch kommt fast trocken daher. Vielleicht ist das ganz gut, denn einige der hier aufgezählten Phänomene brauchen keinen satirischen Kommentar, um entgeisternd zu wirken. Stausbergs abschließende Feststellung, dass Tourismus und Religion gegenseitig wichtige Ressourcen füreinander bereithalten, erscheint bewusst neutral. Eine pragmatische Untersuchung, die hinter dem scheinbar Positiven oder Negativen das Gemeinsame benennt: In der Begegnung von einheimischem Gläubigen und fremdem Besucher können sich beide Weltbilder öffnen.

    Michael Stausberg: "Religion im modernen Tourismus". Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag. 220 Seiten, 22,80