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Dmitri Schostakowitschs Klavierkonzerte
Musikzirkus mit doppeltem Boden

"Ich komponiere schlecht. Ich habe ein Klavierkonzert beendet, das keinerlei künstlerische oder ideelle Werte besitzt", urteilte Dmitri Schostakowitsch vernichtend über sein 1957 entstandenes Konzert für Klavier und Orchester, op. 102. Als Komponist steht es Schostakowitsch natürlich mehr als jedem anderen zu, das Werk kritisch unter die Lupe zu nehmen. Teilen muss man seine Sicht der Dinge dennoch nicht, weder als Hörer noch als Interpret.

Von Jochen Hubmacher | 27.09.2015
    Für die russische Pianistin Anna Vinnitskaya etwa gehört der 2. Satz des Klavierkonzerts, zur schönsten Musik, die sie kennt. Mit elf Jahren hat sie das Werk erstmals gespielt. Gemeinsam mit der Kremerata Baltica und den Bläsern der Staatskapelle Dresden hat sie es nun als gestandene Pianistin mit Anfang 30 auf CD aufgenommen. Das beeindruckende Ergebnis ist kürzlich beim Label Alpha Classics erschienen.
    Vergangene musikalische Sphären
    In seiner neoklassizistischen Ästhetik wirkt dieses zweite Klavierkonzert von Dmitri Schostakowitsch wie aus der Zeit gefallen. Im Westen loteten die führenden zeitgenössischen Komponisten nach dem zweiten Weltkrieg die neuen Möglichkeiten der seriellen und elektronischen Musik aus. Aber auch in der Sowjetunion war nach dem Tod Joseph Stalins und dem einsetzenden politischen Tauwetter wieder eine weitaus progressivere Musiksprache möglich, ohne dass Komponisten mit Aufführungsverbot oder noch Schlimmerem rechnen mussten. Schostakowitsch beweist dies mit seiner ebenfalls 1957 entstandenen 11. Sinfonie.
    Warum fällt dieses Klavierkonzert also so aus dem Rahmen? Eine Erklärung liefert möglicherweise der Name des Pianisten, für den es geschrieben wurde: Maxim Schostakowitsch, der Sohn des Komponisten, damals gerade 19 Jahre alt. Vielleicht wollte der Vater mit dem Stück eine Welt heraufbeschwören, die er seinem Filius insgeheim wünschte. Eine Welt voller Optimismus und jugendlichem Elan, ohne all die Ängste und Demütigungen, die der Komponist während der Stalin-Ära erlebt hat und die als bitterer Sarkasmus in vielen seiner Werke aufscheint. Eine Welt, die so weit von der gesellschaftlichen Realität entfernt war, dass Schostakowitsch im Rückblick von seiner eigenen Naivität und deren künstlerischem Produkt fast zwangsläufig peinlich berührt sein musste.
    Interpretin mit Format
    Die Wahl-Hamburgerin Anna Vinnitskaya gehört spätestens seit ihrem 1. Preis beim Brüsseler "Königin Elisabeth"- Wettbewerb 2007 zu den gefragtesten Pianistinnen der jüngeren Generation. Aufgewachsen ist sie in der russischen Hafenstadt Novorossijsk am Schwarzen Meer in einer Familie, in der sich seit Generationen fast alles um Musik dreht. Der Opa Dirigent, der Onkel Geiger, die Mutter Klavierpädagogin, der Vater Jazz-Pianist – wenn Anna Vinnitskaya den Ort beschreibt, an dem sie einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbracht hat, dann klingt das nach einer Mischung aus musikalischem Abenteuerspielplatz und Konzerthaus im Westentaschenformat: "Als ich klein war, wir hatten ja in unserer kleinen Wohnung also wirklich 40-45 Quadratmeter zwei Flügel stehen und noch dazu ein Xylophon und ganz viel Trommeln, weil mein Bruder ein klassischer Schlagzeuger ist. Es war schon eng, aber zu Hause gab es schon immer Musik und deswegen war das ganz natürlich für mich, dass ich auch Pianistin geworden bin."
    Schwieriger Start in Deutschland
    Der Ernst des Musikerinnenlebens begann für Anna Vinnitskaya dann spätestens 2001. Mit nicht viel mehr Deutschkenntnissen als "Ja", "Nein" und "Danke" ausgestattet, fing sie an der Hamburger Musikhochschule an Klavier zu studieren. Und wie es ihr während der ersten Monate in Deutschland ging, daraus macht sie keinen Hehl: "Schlecht, muss ich ehrlich sagen. Es war schon eine schwierige Zeit, weil mit 18 kam ich aus dem Elternhaus und meine Eltern haben alles für mich getan, also mein tägliches Leben erleichtert. Mein Vater hat mich zu Konzerten gefahren, meine Mutter hat für mich gekocht und ich war total abhängig in diesem Bereich von meinen Eltern. Und dann kam ich nach Deutschland und habe mich ganz komisch gefühlt. Ich wusste nicht mal, was ich zum Frühstück essen kann. Und ich musste einfach mit mir klarkommen und selbständiger sein und das sollte ich irgendwie von einem Tag auf den anderen und vor allem ein fremdes Land und ganz andere Mentalität der Menschen. Aber mittlerweile fühle ich mich in Deutschland wie zu Hause, also das hat sich alles sehr, sehr geändert."
    Karrierestart in Hamburg
    Großen Anteil an dieser persönlichen, vor allem aber auch an ihrer künstlerischen Entwicklung hatte Anna Vinnitskayas Professor in Hamburg: Evgeni Koroliov. Er sei so etwas wie ihr "zweiter Vater" geworden, meint die inzwischen 32-jährige Pianistin. Gefragt danach, was sie für das wichtigste hält, das sie von ihm gelernt hat, antwortet Anna Vinnitskaya: "Ehrlich zu sein, wenn man Musik spielt und aus dem Herz zu spielen und sich immer zu entwickeln, immer weiter gehen, niemals auf einer Stelle bleiben und immer sich verbessern und trotzdem etwas Eigenes zu suchen, ja, und spielen aus dem eigenen Bauch so wie man fühlt. Natürlich das muss alles stilistisch einhundertprozentig stimmen. Nicht dass man jetzt irgendwie "Vinnitskaya-Mozart” oder "Vinnitskaya-Schubert” spielt, sondern der Komponist bleibt Nummer 1. Aber trotzdem, was er mir beigebracht hat, also diese Liebe zur Musik, also jede Note zählt quasi, ja, und das ist ja wunderschön." Seit einiger Zeit sind Evgeni Koroliov und seine ehemalige Studentin übrigens Kollegen. Denn 2009 wurde Anna Vinnitskaya als damals jüngste Klavierprofessorin Deutschlands an die Hamburger Musikhochschule berufen.
    Musik wie im Zirkus
    Neben Dmitri Schostakowitschs Klavierkonzert, op. 102 hat Anna Vinnitskaya auch dessen 1933 uraufgeführtes Konzert für Klavier, Trompete und Streicher, op. 35 auf ihrer neuen CD eingespielt, über das ihr Kollege Yefim Bronfman einmal gesagt hat, "Mir scheint es manchmal, als wir wären wir im Zirkus". Ein guter Vergleich. Man könnte das viersätzige Werk auch mit überdrehten Filmkomödien aus den 1920er Jahren in Verbindung bringen. Zur Erinnerung: Dmitri Schostakowitsch verdiente sich als Student seinen Unterhalt als Stummfilmpianist und er schrieb selbst zahlreiche Filmmusiken. Eine gewisse filmschnittartige Ästhetik kennzeichnet auch sein erstes Klavierkonzert. Russische Romantik trifft darin auf amerikanischen Jazz. Schostakowitsch zitiert Haydn, Beethoven oder sich selbst, collagiert und verfremdet die Zitate nach Herzenslust. Mit einer unerwarteten musikalischen Wendung wird der Hörer immer wieder gekonnt an der Nase herumgeführt. Die mitreißende Spielfreude, mit der dies auf der vorliegenden Aufnahme geschieht, ist schlichtweg atemberaubend. Das Lob gebührt in erster Linie der Klaviersolistin Anna Vinnitskaya, die nicht nur durch ihre brillante Technik besticht, sondern die Musiksprache Schostakowitschs hörbar mit der Muttermilch aufgesogen hat.
    Dazu kommen aber auch die Weltklasse-Musiker der Kremerata Baltica und der Staatskapelle Dresden. Deren Solo-Trompeter Tobias Willner spielt den anspruchsvollen Trompetenpart in Schostakowitschs erstem Klavierkonzert: Klangschön, in den jazzigen Passagen mit Dämpfer leicht verschattet und im Finale mit kerniger Attacke. Hier zitierte Schostakowitsch Ludwig van Beethovens berühmtes Capriccio "Die Wut über den verlorenen Groschen". Absolut keinen Grund wütend zu werden, bietet die kürzlich beim Label Alpha Classics erschienene CD von Anna Vinnitskaya, ganz im Gegenteil. Als Zugabe zu den hervorragenden Aufnahmen der beiden Schostakowitsch-Klavierkonzerte hat die Pianistin gemeinsam mit ihrem russischen Landsmann Ivan Rudin darauf noch das Concertino für zwei Klaviere und Dmitri Schostakowitschs letztes Klavierwerk überhaupt eingespielt: eine Tarantella, ursprünglich für den 50er Jahre Film "Die Hornisse" komponiert und später für zwei Klaviere eingerichtet.