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Do-it-yourself-Trend
Beim Häkeln und Basteln der Welt entfliehen

Bürgerkriege, Terroranschläge, Flugzeugabstürze - die Flut an politischen Ereignissen und grauenvollen Nachrichten überfordert viele Menschen. Lieber ziehen sie sich in die eigene Wohlfühlzone zurück und widmen sich der Handarbeit - ein Trend, der bei manchem Internet-Startup die Kasse klingeln lässt.

Von Verena Kemna | 09.04.2015
    Wollknäuel
    Wollknäuel (dpa / picture alliance)
    "Das ist ein Strickset, also Strickmütze und Schal mit einem sehr tollen Material, das wir dieses Jahr gefunden haben. Das ist eine Wolle, die reflektiert im Dunkeln, also das ist sehr gut für Fahrradfahrer. Das kommt aus unserem Sockenkurs, also Sockenstricken, und hier müssen wir auch ein paar Nähprojekte haben."
    Die studierte Politikwissenschaftlerin schiebt die Schublade zu. An einem Bügel hängt ein schlichtes Kleid mit kurzen Ärmeln, die neueste Kreation zum selber nähen. Wie es funktioniert, das erfahren die Kundinnen auf den Internetseiten von "Makerist".
    Den Erfolg mit Händen fassen
    Amber Riedl, eine zierliche 34-Jährige mit glatten, schulterlangen braunen Haaren hat jahrelang in Berlin für "Transparency International" gearbeitet, hatte sich dem weltweiten Kampf gegen Korruption verschrieben – eine hehre politische Aufgabe, ein toller Job und trotzdem frustrierend, weil sichtbare Erfolge ausblieben, so erzählt es die Mutter von zwei Kleinkindern. Wer dagegen häkelt, näht, bastelt oder strickt, kann den Erfolg mit Händen fassen. Immer mehr Menschen suchen genau das, stellt die gebürtige Kanadierin fest.
    "Ich habe auch privat einen starken Bezug zu Handarbeit, das mache ich selbst zu Hause, das mache ich auch mit den Kindern, ich bastle viel mit ihnen. Und ich habe auch in meinem Freundeskreis gesehen, dass es immer mehr ein Trend wird, dass die Leute sich immer stärker für das Selbermachen interessieren."
    Eine Erkenntnis, die die Unternehmerin jeden Tag aufs Neue begeistert. Tausende meist junge Frauen sind dabei, das Stricken, Häkeln und Nähen neu für sich zu entdecken. Selbermachen liegt in der Großstadt im Trend, genauso wie Yoga und Kurse zur Selbstfindung. Manche, so meint Amber Riedl, sehen Handarbeiten als Ausweg, um immer mehr, meist schlechten Nachrichten aus aller Welt zu entfliehen. Außerdem erfülle Handarbeit den Wunsch nach greifbarem Erfolg.
    "Man sieht, es gibt ein konkretes Ergebnis am Ende und das hilft den Leuten ganz stark mental."
    Sie hält einen schweren grauen Wollpullover hoch.
    "Hier haben wir den Leuten Zopfmuster beigebracht, unterschiedliche Zopfmuster und dann die unterschiedlichen Zopfmuster in einem Pullover als Projekt eingebaut. Hier ging es um Raglan, Raglan von oben, ein einfaches Projekt, damit die Leute schnell zu einem guten Ergebnis kommen."
    Selbstgestrickter Pulli statt Wegwerfshirt für einen Euro
    Manche Kundinnen, das weiß sie aus den vielen Kommentaren im Internet, verstehen Handarbeit auch als politisches Statement, nach dem Motto: Ich kaufe kein Wegwerfshirt für einen Euro, ich nähe selbst. Gegen Weltschmerz, gegen Stress, gegen Kummer, Handarbeit hilft, meint Amber Riedl.
    Sie steht in einem verdunkelten Raum mit künstlichem Deckenlicht. An der Wand, verschiedene Holzregale, mal im Landhausstil, weiß mit durchscheinender Holzmaserung, mal poppig gelb gestrichen. Es sind die Kulissen für die selbst gedrehten Videoclips.
    "Heute wirst du mit mir zusammen lernen, eine Schnecke, einen Papageien und einen Löwen zu häkeln. Und ich möchte dir heute in diesem Kurs zeigen, wie du einen eigenen Pullover designen kannst."
    Versprechen, von denen Martina Weibel noch nie gehört hat. Dabei passt die Endvierzigerin mit den kurz geschnittenen Haaren und dem lässigen Outfit - in Jeans und Pullover- gut in das Kundenschema der Kreuzberger Internetfirma. Sie sitzt entspannt auf einer Parkbank, blinzelt und hält ihr Gesicht in die Sonne:
    "Im Moment bei der Lage hätte man schon gerne ein bisschen mehr Frieden, da wäre ich schon sehr glücklich. Aber im Moment finde ich es so schlimm, dass ich doch glücklich drüber wäre, es würde sich etwas entspannen."
    "Wieder mehr bei sich sein"
    Bürgerkriege, Terroranschläge, Selbstmordattentäter, jetzt ein Flugzeugabsturz in den Alpen: Manchmal kommt sie bei der Flut an politischen Ereignissen kaum noch hinterher. Viele fühlen sich da überfordert, verschanzen sich in der eigenen Wohlfühlzone und widmen sich ganz dem Selbermachen: Ob es darum geht, bunte Zuckertorten zu verzieren, zu stricken, zu nähen oder zu häkeln - Amber Riedl und ihr Geschäftspartner Axel Heinz haben eine Marktnische entdeckt.
    "Es erreichen einen Nachrichten im Sekundentakt aus der ganzen Welt, und ich glaube schon, dass es sich gut anfühlt, wenn das Pendel mal wieder zurück schwingt, und man wieder bei sich ist, dass es einfach gut tut, sich mehr zurück zu ziehen und die Verarbeitungskapazität für sich selbst zu regulieren."
    "Makerist" steht auf einer grauen Metalltür in einer Fabriketage in Berlin-Kreuzberg. In einem großen hellen Raum mit meterhohen Wänden sitzen 15 Frauen und Männer vor Monitoren. Alle sehen jugendlich aus, sie sprechen leise, arbeiten an neuen Kleiderschnitten, der aktuellen Internetpräsentation, dem Design für das nächste Häkeltier. Nur ein Jahr nach der Gründung des Startups nutzen bereits 300.000 Kundinnen die Anleitungen fürs Nähen, Stricken und Häkeln im Internet, Tendenz steigend.
    Bei dem 42-jährigen Axel Heinz liegt ein Schild auf dem Bürotisch. Darauf steht: "Nadel und Faden halten die Seele zusammen."
    "Man verändert dadurch sicher nicht die Welt, aber ich glaube, man kann sich dadurch auch wieder besser auf sie einlassen, wenn man sich auch mal zurückzieht und erstmal die Seele auch wieder gesunden lässt und zur Ruhe kommen lässt."