Per Molander: "Die Anatomie der Ungleichheit"

Warum die Gleichheit in Skandinavien am größten ist

Radfahrer auf einer neuen Fahrrad- und Fußgängerbrücke, Innenhafenbrücke, Butterfly 3-Wege-Brücke, im Hafen von Kopenhagen.
Gleiche unter Gleichen? Radfahrer auf einer neuen Fahrrad- und Fußgängerbrücke in Kopenhagen. © imago / imagebroker / Harald Wenzel
Per Molander im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 02.09.2017
Soziale Ungleichheit mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Ambitionen der Menschen zu erklären, greift für den Mathematiker Per Molander zu kurz. Er analyisiert, wie gesellschaftliche Ungleichheit entsteht - und, was Skandinavien so egalitär macht.
Warum gibt es keine Gesellschaften, in denen absolute Gleichheit herrscht? Warum wachsen in den meisten OECD-Ländern die Einkommensunterschiede? Und wie lässt sich mehr gesellschaftliche Gleichheit herstellen? Mit diesen Fragen befasst sich der schwedische Mathematiker Per Molander in seinem Buch "Die Anatomie der Ungleichheit".
Entscheidend bei der Herausbildung von Ungleichheit ist für Molander ein selbstverstärkender Effekt, bei dem Ungleichheit immer größere Ungleichheiten produziert. "Wenn zum Beispiel zwei Parteien über einen Kuchen verhandeln sollen und sie ebenso stark sind, dann bekommt jeder die Hälfte", sagte der Mathematiker und Experte für Verteilungsfragen im Deutschlandfunk Kultur. "Aber wenn der eine stärker ist, bekommt er mehr als die Hälfte, und wenn die Verhandlung sich wiederholt, wird dieser Effekt jedes Mal stärker." Dieser Mechanismus gelte auch in einer Marktwirtschaft.
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Per Molanders Buch© Westend-Verlag

Der Staat als zentraler Akteur des Ausgleichs

Ein Naturgesetz ist soziale Ungleichheit für Molander jedoch nicht, sondern politisch steuer- und beeinflussbar. "Man braucht einen Staat, und man braucht einen reichhaltigen Werkzeugkasten, der Instrumente für den Ausgleich sowohl von Möglichkeiten als auch von Ergebnissen enthält", sagt er. Dazu gehörten Bildung, Gesundheitswesen, Sozialversicherung, Steuer- und Transfersysteme.
Unter den politischen Kräften habe allerdings nur die "klassische Sozialdemokratie" ein richtiges Bild des Problems, so Molander. Die Rechte hingegen wollte die Frage der Ungleichheit am liebsten von der politischen Tagesordnung entfernen. Und die Liberalen erkennten zwar die Ungleichheit als legitimes politisches Problem an: "Aber sie haben im Allgemeinen ein allzu optimistisches Bild dieses Problems, weil sie glauben, dass alle Unterschiede in Einkommen oder Status, die wir in wirklichen Gesellschaften finden, Unterschiede in Fähigkeiten oder Arbeitswilligkeit widerspiegeln, und ich habe gezeigt, dass das nicht der Fall ist."

Hohes gesellschaftliches Vertrauen

Ein weiterer Faktor, der das Niveau der Gleichheit in einer Gesellschaft bestimmt, ist Molander zufolge das Ausmaß des Vertrauens, das Bürger in den Staat setzen. Dieses sei in den skandinavischen Ländern besonders groß, und deswegen sei die Gleichheit dort auch besonders ausgeprägt.
"Die skandinavischen Länder haben aus historischen Gründen eine besonders starke Tradition von Gleichheit und gesellschaftlichem Vertrauen", betont Molander. "Die Feudalstaaten waren hier schwächer als in Mittel- und Südeuropa. In Norwegen gab es sogar nach dem Schwarzen Tod überhaupt keinen Adel. In Mitteleuropa hat der König sich mit dem Adel und der Kirche gegen das Volk vereinigt, in Schweden mehrmals der König mit dem Volk gegen den Adel und die Kirche, und das hat ein Volksvertrauen in den Staat geschaffen."
(uko)

Per Molander: "Die Anatomie der Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können"
Übersetzt von Jörg Scherzer
Westend-Verlag, Frankfurt/Main 2017
224 Seiten, 24 Euro


Das Interview im Wortlaut:
Sigrid Brinkmann: Per Molander hat die schwedische Regierung in Fragen der Wohlfahrt und Haushaltspolitik beraten und war als Experte für Verteilungsfragen für die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds und die Europäische Kommission tätig. Weniger als 100 Menschen besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – das sind dreieinhalb Milliarden Menschen. Dieses obszöne Missverhältnis geht uns an, es beunruhigt Politiker, Soziologen und Volkswirtschaftler. Per Molander versucht es in seinem Buch "Die Anatomie der Ungleichheit" zu verstehen. Seit dem 1. September ist es im Handel, und ich freue mich über die Gelegenheit, mit Per Molander in Uppsala zu sprechen. Guten Tag, Herr Molander!
Per Molander: Guten Tag!

Landläufige Erklärungen sind nicht hinreichend

Brinkmann: Sie sagen, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Ungleichheit ist. Warum ist das so, dass alle Gesellschaften ungleich sind?
Molander: Die landläufige Erklärung ist, dass Menschen sich betreffend Fähigkeiten und Arbeitswilligkeit unterscheiden, aber diese Erklärung reicht nicht weit. Die Unterschiede, die wir in wirklichen Gesellschaften finden, sind viel zu groß. Wichtiger auf lange Sicht ist es, dass gesellschaftliche Prozesse so wie Verhandlungen oder Marktaustausch einen selbstverstärkenden Effekt aufweisen. Wenn zum Beispiel zwei Parteien über einen Kuchen verhandeln sollen und sie ebenso stark sind, dann bekommt jeder die Hälfte. Aber wenn der eine stärker ist, bekommt er mehr als die Hälfte, und wenn die Verhandlung sich wiederholt, wird dieser Effekt jedes Mal stärker.
Dasselbe gilt in einer Marktökonomie. Man kann sich hypothetisch eine Gesellschaft vorstellen, wo alle Menschen dieselben Fähigkeiten und dieselbe Arbeitswilligkeit haben. Sie schaffen einen Überschuss, den sie am Finanzmarkt investieren. Im ersten Jahr haben einige Glück und andere Pech, sodass einige ein bisschen reicher als der Durchschnitt werden und andere ein bisschen ärmer. Die Reichen können ein größeres Risiko am Finanzmarkt im zweiten Jahr eingehen und werden dafür mit einem höheren Gewinn belohnt. So geht es weiter. Man kann zeigen, dass in dieser theoretischen Gesellschaft ein einziger Mensch langfristig das ganze Vermögen besitzen wird.

Globalisierung hat die Machtverhältnisse verändert

Brinkmann: In den meisten Ländern, die der OECD, der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, angehören, haben sich seit den 70er-Jahren die Einkommensunterschiede verschärft. In den 35 OECD-Staaten herrscht ja insgesamt ein eher hohes Pro-Kopf-Einkommen – warum gibt es diese Tendenz?
Molander: Es gibt sowohl ökonomische als auch politische Ursachen. Die Internationalisierung des ökonomischen Systems hat die Machtverhältnisse verändert, global und auch innerhalb der EU. Man spricht innerhalb der EU von den vier Freiheiten: freie Bewegung der Waren, der Dienste, der Arbeit und des Kapitals. Das klingt symmetrisch und gerecht, aber in Wirklichkeit hat das Kapital eine höhere Mobilität als die Arbeitskraft und kann deswegen seine Macht auf Kosten der Arbeitskraft vergrößern.
Aber auch politische Entscheidungen haben zu dieser Entwicklung beigetragen: Mit der Machtübernahme von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten begann ein neuer Zeitabschnitt der ökonomischen Geschichte: Ende des Keynesianismus, Anfang des Monetarismus. In der Praxis hat das bedeutet Steuersenkungen für die höheren Einkommensschichten, Entfernung von Marktregelungen, Marktmechanismen innerhalb des öffentlichen Sektors und so weiter – kurzum: ein schrumpfender Staat und ein wachsender Markt. Was ein bisschen erstaunt ist, dass da auch Liberale in der politischen Mitte und Sozialdemokraten in gewissem Maße diese Ideen übernommen haben.

"Die klassische Sozialdemokratie hat ein richtiges Bild des Problems"

Brinkmann: Herr Molander, Sie schauen ja, wie die drei großen ideologischen Strömungen, also Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus, das Problem der Ungleichheit angehen. Ich hatte nach der Lektüre Ihres Buches den Eindruck, das Sozialdemokratie am ehesten ausgerüstet ist, das drängende Problem der Ungleichheit anzupacken.
Molander: Ja. Also, die Rechte möchte am liebsten die Frage der Ungleichheit von der politischen Tagesordnung entfernen. Die Liberalen dagegen erkennen die Ungleichheit als ein legitimes politisches Problem an, aber sie haben im Allgemeinen ein allzu optimistisches Bild dieses Problems, weil sie glauben, dass alle Unterschiede in Einkommen oder Status, die wir in wirklichen Gesellschaften finden, Unterschiede in Fähigkeiten oder Arbeitswilligkeit widerspiegeln, und ich habe gezeigt, dass das nicht der Fall ist. Die klassische Sozialdemokratie hat ein richtiges Bild des Problems und hat auch die Forderungen nach gleichen Voraussetzungen ernstgenommen, besonders mittels einer allgemeinen und kostenlosen Ausbildung, aber auch mit Hilfe einer Reihe von anderen Maßnahmen – Gesundheitswesen, Steuer- und Transfersystemen und so weiter.
Brinkmann: Wie kann der Abbau von Ungleichheit politisch nachhaltig beeinflusst werden?
Molander: Als erstes muss man natürlich Ungleichheit ernstnehmen, wenn man sie politisch beeinflussen will. Außerdem muss man mit einer Reihe von politischen Maßnahmen aktiv arbeiten. Also man braucht einen Staat, und man braucht einen reichhaltigen Werkzeugkasten, der Instrumente für den Ausgleich sowohl von Möglichkeiten als auch von Ergebnissen enthält. In der ersten Kategorie: Ausbildung das wichtigste Werkzeug, in der zweiten, wie ich erwähnt habe: Gesundheitswesen, Sozialversicherungen und Steuer- und Transfersysteme und so weiter.

König und Volk gegen den Adel

Brinkmann: Sie erwähnen, dass das Niveau der Gleichheit mit dem Niveau des Vertrauens, das Bürger in die Gesellschaft setzen, zusammenhängt, und das Niveau ist in den skandinavischen Ländern auffällig hoch. Je mehr Bürger also staatlichen Institutionen trauen, desto besser funktionieren diese Gesellschaften im Allgemeinen. Wie, Herr Morlander, gelingt es den Schweden, den Finnen, den Dänen, ein angemessenes Maß an Gleichheit beizubehalten?
Molander: Die skandinavischen Länder haben aus historischen Gründen eine besonders starke Tradition von Gleichheit und gesellschaftlichem Vertrauen. Die Feudalstaaten waren hier schwächer als in Mittel- und Südeuropa. In Norwegen gab es sogar nach dem Schwarzen Tod überhaupt keine Adel. In Mitteleuropa hat der König sich mit dem Adel und der Kirche gegen das Volk vereinigt, in Schweden mehrmals der König mit dem Volk gegen den Adel und die Kirche, und das hat ein Volksvertrauen in den Staat geschaffen. Die Stabilität solcher Ideale von Gleichheit und Vertrauen ist auch im Ausland sichtbar. Wenn man Gleichheit und Vertrauen in den 50 Bundesstaaten der USA studiert, zeigt sich, dass der wichtigste Faktor, der das Niveau des Vertrauens bestimmt, der Anteil der Immigranten aus skandinavischen Ländern ist, 150 Jahre nach der Einwanderung dieser Menschen.

Demokratie muss ständig verteidigt werden

Brinkmann: Sie werden, Herr Molander, ja, wenn man die Presse liest, als Antipode von Thomas Piketty aufgebaut oder angesehen. Dieser französische Ökonom hat vor drei Jahren mit seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" einen Weltbestseller gelandet. Für Piketty gibt es einen Zusammenhang zwischen der steigenden Vermögenskonzentration in den Händen weniger Kapitalbesitzer und der stagnierenden Wirtschaft, und er sagt, das bedroht die Demokratie zutiefst. Damit hat er doch recht, oder?
Molander: Also die Konzentrationstendenzen, die Piketty und seine Kollegen studiert haben, sind ein Spezialfall der Instabilität, die ich beschrieben habe. Kein Anlass zu wundern also. Gewiss bedeutet die Konzentration großer Vermögen eine Drohung gegen die Demokratie, aber der Ursprung der aktuellen Bedrohung liegt meiner Meinung nach viel tiefer. Gleichheit instabil, aber auch Demokratie und Rationalität müssen beständig verteidigt und unterhalten werden, um nicht zu verwittern. Das ist das Thema meines nächsten Buches, das in ein paar Wochen hier in Schweden veröffentlicht wird.
Brinkmann: Ja, und das wird dann vielleicht in einigen Jahren oder nächstes Jahr schon bei uns übersetzt sein. Per Molander ist der Autor des Buches "Die Anatomie der Ungleichheit: Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können". Es ist im Frankfurter Westend-Verlag erschienen und seit gestern im Handel. Die 224 Seiten kosten 24 Euro. Vielen Dank, dass Sie in Uppsala ins Studio gegangen sind, und einen guten Tag noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.