Donnerstag, 25. April 2024

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Dokument der Woche, 29.11.1989
Interview mit Jens Reich zu Helmut Kohls "Zehn-Punkte-Plan"

28.11.1989 - Helmut Kohl legt den Bundestag in Bonn seinen zehn-Punkte-Plan für ein Zusammenwachsen Deutschlands vor. Am Morgen danach spricht der Deutschlandfunk darüber mit Jens Reich. Dem Bürgerrechtler vom "Neuen Forum" gehen Kohls Pläne zu schnell. Er weiß noch nicht, dass die Geschichte das Tempo noch deutlich erhöhen wird.

Jens Reich im Gespräch mit Friedbert Meurer | 08.12.2014
    Ein Gespräch zu diesem "Dokument der Woche" haben wir mit Moderator Friedbert Meurer 25 Jahre danach geführt: Friedbert Meurer blickt auf sein Interview zurück - "Eigentlich war das Gespräch mit Jens Reich gar nicht vorgesehen"

    Friedbert Meurer: Einen Zehn-Punkte-Programm zur Schaffung der Einheit Deutschlands hat gestern Bundeskanzler Helmut Kohl dem Bundestag vorgelegt. Unter Punkt fünf des Programms heißt es: „Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden deutschen Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, danach eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen. Schon bald nach freien Wahlen könnte ein gemeinsamer Regierungsausschuss", so Kohl, "zur ständigen Konsultation eingerichtet werden, gemeinsame Fachausschüsse und ein gemeinsames parlamentarisches Gremium."
    Die Reaktionen im Bundestag waren mit Ausnahme bei den Grünen positiv. Karsten Voigt erklärte für die SPD grundsätzliche Zustimmung zu dem Programm. In der DDR und dort auch in den Reihen der Opposition wurde allerdings der Zehn-Punkte-Plan des Kanzlers mit gemischten Gefühlen, wenn nicht gar Ablehnung aufgenommen.
    Am Telefon in Ostberlin nun Professor Jens Reich vom Neuen Forum. Guten Morgen, Herr Reich.
    Jens Reich: Guten Morgen!
    "Persönliche neige ich zur Zweistaatlichkeit auf absehbare Zeit"
    Meurer: Was halten Sie vom Programm des Bundeskanzlers?
    Reich: Also da kann ich weder als Neues Forum, noch als DDR-Bürger bei so einem Vorschlag sofort eine Antwort abschießen, weder Zustimmung, noch Ablehnung. Mein Zwiespalt ist ein bisschen aus der eigenen Erfahrung der vielen abgelehnten Initiativen auf Konföderationen aus den 50er-Jahren. Damals hat Stalin, damals hat Ulbricht, damals hat Wehner von der SPD solche Vorschläge gemacht und man hat Adenauer viele Vorwürfe gemacht, dass er sie nie ausgetestet hat, sondern immer gleich abgelehnt. Und ich denke, man sollte über solche Vorschläge ernsthaft nachdenken und sollte sie wirklich austesten.
    Die Antwort muss natürlich die DDR-Bevölkerung letzten Endes geben, und die DDR-Bevölkerung hat ja der Welt das Schauspiel einer selbstbewussten friedlichen Revolution gegeben, die ein Regime hinweggefegt hat, und da ist mir schwer vorstellbar, dass sie jetzt in der Krise als Bankrotteure in so eine Konföderation gehen wollen.
    Meurer: Sie sprachen von Austesten. Wie könnte denn ein solcher Test aussehen?
    Reich: Das Austesten heißt, dass man sich zunächst erst mal sehr genau klar wird über die Implikation und ob die Konföderation für uns akzeptabel ist. Ich hätte auch Zusatzvorschläge. Mir kommt es zum Beispiel absurd vor, wenn die konföderierenden Brüder sich im Grase gegenüberliegen und mit einem Helm und einem Zielfernrohr sich im Visier haben. Ich würde meinen, zu so einem Vorschlag würde ein ganz substanzieller Abrüstungsschritt zwischen den beiden deutschen Staaten gehören. Und so gibt es auch sonst eine Reihe von Dingen, über die man im Einzelnen reden möchte. Mit einem Wort: Ich möchte nicht gleich Ja oder Nein dazu sagen. Persönlich neige ich dazu, dass man auf absehbare Zeit bei der Zweistaatlichkeit bleiben sollte.
    Meurer: Der Plan, Herr Reich, zeichnet sich ja unter anderem dadurch aus, wie viele Beobachter meinen, dass die Begriffe, die Helmut Kohl verwendet, eher maßvoll sind. Wiedervereinigung wird erwähnt, aber weitgehend auf diesen Begriff verzichtet. Von "konföderativen Strukturen" ist die Rede, und das ist ja ein noch schwächerer Begriff als Konföderation. Empfinden auch Sie dieses Programm von Bundeskanzler Kohl als maßvoll und zurückhaltend?
    Reich: Ich sage Ihnen ja, dass es in der Formulierung mir wirklich ernsthaft prüfbar und testbar vorkommt. Und ich denke auch, dass ein solcher Vorschlag quer durch das Meinungsspektrum bei uns durchschneidet. Ich denke schon, dass es eine Reihe von Leuten gibt, die einen solchen Weg unterstützen würden, entgegengehen würden unter gewissen Bedingungen, und ich denke aber auch, dass es andere gibt, die ihn ablehnen, die an Ausverkauf denken und glauben, dass zumindest erst mal unsere Krise, unser Bankrott behoben werden muss, bevor wir überhaupt den Stolz haben können, uns in eine solche Entwicklung zu begeben. Da gibt es sicher sehr verschiedene Meinungen und niemand weiß, wer hier eigentlich in der Mehrheit ist und wer die Bevölkerung repräsentiert.
    Meurer: In seinem Programm hat ja Bundeskanzler Kohl marktwirtschaftliche Voraussetzungen angesprochen, die in der DDR geschaffen werden müssten, bevor eine umfassende Wirtschaftshilfe von der Bundesrepublik einsetzen könnte. Wie finden Sie diesen Vorschlag? Unterstützen Sie dies, dass in der DDR marktwirtschaftliche Bedingungen hergestellt werden müssen?
    Marktwirtschaft - Ja, aber
    Reich: Ja. Ich glaube, wir werden natürlich marktwirtschaftliche Bedingungen in dem Sinne herstellen, dass bei uns ein Markt als Korrektiv wirkt in der Wirtschaft. Darüber besteht wohl Einigkeit. Worüber keine Einigkeit besteht ist, ob wir ein voll entwickeltes kapitalistisches Marktsystem haben wollen, oder ob wir eine andere Variante haben wollen.
    Meurer: Sprechen wir einmal über das Neue Forum, Herr Reich. Sie haben es ja immer abgelehnt, dass das Neue Forum sich als eine Partei organisiert. Jetzt wird es ja irgendwann einmal freie Wahlen geben. Wenn das Neue Forum es ablehnt, eine Partei zu werden, bedeutet das auch Verzicht auf eine Teilnahme an solchen freien Wahlen?
    Reich: Nein, das bedeutet es nicht. Das Neue Forum will in Verantwortung, politische Verantwortung übernehmen, und will in den Volksvertretungen diese auch wahrnehmen. Es wird Kandidaten aufstellen.
    Meurer: Also auch für die Volkskammer?
    Reich: Auch in die Volkskammer. Das geht auch nach dem gegenwärtigen Wahlgesetz. Nach einem zukünftigen Wahlgesetz werden wir uns richten müssen. Ich denke, wir gehen auch an alle Runden Tische und werden dort allerdings sicher auch noch andere Akzente hineinbringen, als die Parteien hineinbringen. Zum Beispiel scheint mir wichtiger zu sein, als wie man nun wählt und wen man wählt, scheint mir auch wichtig zu sein festzulegen, wie man jemand wieder los wird. Das ist meiner Meinung nach die Lehre der letzten Zeit. Die Katastrophe ist doch nicht so sehr, dass Honecker und Mittag und so weiter irgendwann gewählt worden sind, sondern dass es keinen Mechanismus gab, sie wieder abzuwählen. So etwas gehört auch zur Demokratie dazu.
    Was bringt der "Runde Tisch"?
    Meurer: Sie sprachen es an: Runder Tisch. Am 7. Dezember soll der erste stattfinden. Herr Reich, was erwarten Sie von dieser Begegnung am 7. Dezember?
    Reich: Ja, das kann ich mir schwer vorstellen, was da zu erwarten ist. Ich denke, zunächst mal im gegenwärtigen Zustand, in dem sich alle Partner befinden, mehr oder weniger, entweder im Formations-, Im Bildungszustand, oder aber in der Krise, denke ich, wird es am ehesten um die Absteckung von Terminen und von Zielstellungen und so etwas gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da sofort zu irgendwelchen Vorschlägen, gemeinsamen Vorschlägen für Verfassungs- und Wahlgesetzänderungen kommen kann.
    Meurer: Welcher Termin schwebt Ihnen denn für freie Wahlen vor? Ist das überhaupt, diese Terminfrage in Punkto freie Wahlen, eine wichtige Frage für Sie?
    Reich: Natürlich sind Wahlen zu unserer Volksvertretung und die Reform des Wahlgesetzes ein wichtiger Punkt der Reformen. Es gibt aber auch andere wichtige Reformen, in deren Zusammenhang sie stehen. Wenn Sie nach Terminen für Wahlen fragen, dann würde ich meinen, es muss erst mal eine vernünftig strukturierte Verfassung geben. Es müsste eine Reihe von Gesetzen geändert sein und unter anderem müsste das Wahlgesetz reformiert sein, und das geht ja wohl auch nicht aus dem Stand.
    Dann muss eine Wahl vorbereitbar sein in sinnvoller Form. Die neuen Parteien, denen ja ein Recht gegeben werden muss, und die neuen Initiativen müssen die Zeit haben, sich dazu zu organisieren, um auch wirklich wahlfähig zu sein. Also ich denke schon, dass das nicht innerhalb von Wochen oder Monaten gehen kann, sondern wahrscheinlich im Laufe des nächsten Jahres.
    Meurer: Eine letzte Frage: Werden Sie selbst für die Volkskammer kandidieren, Herr Reich?
    Reich: Das kann ich nicht beantworten. Ich glaube nicht.
    Meurer: Vielen Dank! - Das war Professor Jens Reich vom Neuen Forum. Vielen Dank nach Ostberlin und auf Wiederhören, Herr Reich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.