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Dokument eines Abschieds

Christoph Schlingensiefs "Tagebuch einer Krebserkrankung", wie es im Untertitel heißt, ist eigentlich kein Tagebuch, sondern die verschriftlichte Fassung einer Tonbandaufnahme. Von Januar bis Ende April 2008 hat Schlingensief die Diagnose, die Therapie und den Heilungs- und Krankheitsverlauf mehr oder weniger spontan in sein Diktiergerät gesprochen. Mit der Chemotherapie Ende April bricht die Aufzeichnung ab.

Von Christoph Schmitz | 28.04.2009
    Erst im Dezember 2008 findet Schlingensief zu ihr zurück mit der Nachricht, dass sich auf dem verbliebenen Lungenflügel Metastasen gebildet haben. Ob die folgende Behandlung deren Wachstum eindämmt, bleibt am Ende des Buches offen. Es schwingt aus in eine melancholische Ergebenheit in die Krankheit.

    Christoph Schlingensief offenbart sich gleich zu Beginn als gläubiger Mensch, den die Krankheit wieder zum Gebet seiner Kindheit und Jugend führt. Das "Flüstern mit den Händen vor dem Gesicht" hat ihm gut getan, "so wie nach dem Empfang der Hostie, wenn man bei sich ist und den eigenen Atem hört". Aus der ersten Wiederentdeckung seiner Frömmigkeit entwickelt sich ein Ringen mit einem Gott, den er für seine Krankheit in die Verantwortung nimmt.

    Der Drang zu wissen, warum und seit wann seine Zellen revoltieren, lässt ihn nicht los. Schließlich könne es nur die Todessehnsucht von Richard Wagners "Parsifal" gewesen sein, der er seinen Krebs verdanke. Den Theaterbetrieb der Bayreuther Festspiele beschimpft er als "Fascho-Laden", wo das Lachen gänzlich verboten sei. Auf fast jeder Seite dankt und lobt Schlingensief seine Freunde für ihre Unterstützung in der Krankheit, Patti Smith, Helge Schneider, Peter Zadek, allen voran seine Freundin Aino.

    Den mündlichen Sound dieser spontanen Reflexe, die über das Autobiografische kaum hinausweisen, hat Schlingensief bei der Verschriftlichung nicht wegretuschiert. "Irgendwie", so schreibt er, will er alles, was ihm "irgendwo" durch den Kopf geht, rauslassen, die Oberärztin sei "wahnsinnig nett", die Behandlung "super gelaufen", "ganz großartig" habe er die Operation überstanden, eine "extrem gute Nachricht" macht in froh, dann aber ist alles "zum Heulen", auch wenn er irgendwann später wieder mal "vögeln" kann.

    Derart offenherzige Bekenntnisse kennt man von Schlingensief. Angetrieben von der Not, der Angst, den Depressionen, die ihm der Schock seiner Krankheit beibringen, findet er dabei doch auch zu idyllischen Lebensperspektiven. Er träumt von einem Haus am See, sentimental vergleicht er sich auf einem Foto mit einem "Vögelchen, das in den Himmel guckt".

    Doch mit seinem spontanen Gestus kommt Schlingensief, wie es so seine Art ist, häufig ins Plaudern und Schwadronieren, was mitunter einschläfernd wirkt. Dann hört man beim Lesen nur noch einen Singsang aus Wörtern, der nicht mehr ausdrückt als: Ich rede, also lebe ich.

    So bedrohlich der Einbruch der Krankheit in das Leben dieses Künstlers auch ist - die Not überträgt sich auf den Leser nur in Grenzen. Das liegt an der Sprache des Textes, die literarischen Ansprüchen kaum genügt. Die Fallhöhe zwischen Schlingensiefs eigenem Stil und eigenem Reflexionsgrad einerseits und den gedanklichen Möglichkeiten, die eine solche Krankheitsgeschichte andererseits böte, wird deutlich, wenn er Josef Beuys zitiert: "Das Leiden ist ein bestimmter Ton in der Welt", heißt es bei Beuys: "Es ist eine Quelle von kostbarer Substanz, die das Leiden in die Welt entlässt". Schmerzhaft wird deutlich, das dieses Buch aus der Not knapp werdender Lebenszeit geboren wurde. Ein eiliges Dokument eines möglichen Abschieds.

    Schlingensiefs einzigartiges künstlerisches Werk verrät mehr über seinen Schöpfer als dieses "Tagebuch". Mag es für den Autor zur Bewältigung seiner Krankheit noch so wichtig sein - der Leser liest das Buch nicht mehr und nicht weniger als eine persönliche Chronik. Sie berührt nur den, den ein leidenschaftliches persönliches Verhältnis mit Christoph Schlingensief verbindet. Und das hat naturgemäß nicht jeder.