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Dokument voller Ängste und Träume

1945 starb Anne Frank im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Aus der jüdischen Familie überlebte nur ihr Vater. Er erfüllte das Vermächtnis seiner Tochter und veröffentlichte ihr Tagebuch, das zu den am meisten gelesenen Büchern der Welt gehört.

Von Michaela Gericke | 12.06.2007
    "Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein."

    Es ist der 12. Juni 1942 und ihr 13. Geburtstag, als Anne Frank mit diesen Worten ihr Tagebuch beginnt. Das fröhliche jüdische Mädchen aus Frankfurt lebt mit seiner drei Jahre älteren Schwester Margot und den Eltern bereits in Amsterdam:

    "Bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Da wir Juden sind, ging dann mein Vater 1933 in die Niederlande. [...] Unser Leben verlief nicht ohne Aufregung, da die übrige Familie in Deutschland nicht von Hitlers Judengesetzen verschont blieb."

    Ersten, fast nüchternen Beschreibungen folgen bald tief nachdenkliche Eintragungen. Das rot-beige eingebundene Tagebuch erklärt Anne Frank zur besten Freundin: Kitty. Der Flucht aus Deutschland aber folgt in Amsterdam Anfang Juli 1942 die Flucht ins Versteck: mit Hilfe von Miep Gies, einer Mitarbeiterin Otto Franks, Annes Vater.

    Hinter einem Wandregal, das den Zugang zum Hinterhaus in der Prinsengracht 263 verdeckt, leben Anne und Margot Frank mit ihren Eltern und weiteren vier Personen über zwei Jahre lang. Immer wieder macht das selbstbewusste, vorlaute Mädchen seinem Herzen Luft, schreibend. Alle Ängste, Wut, Träume, vertraut es Kitty an. Anne reflektiert die Verfolgung der Juden, ahnt, dass die Verhafteten in den Konzentrationslagern vergast werden, denkt über das Wesen des Menschen nach, beschreibt intime Wünsche, Sehnsüchte, ihre Visionen vom späteren Leben nach der erhofften Befreiung. Thomas Heppener, Direktor des Anne Frank Zentrums Berlin:

    "Ich glaube, dass sie durch das Tagebuch schreiben selbst erwachsener wurde, dass sie viele Dinge auch von außen aufgegriffen hat, wo weder der Vater noch einer der anderen Untergetauchten je etwas mitbekommen hat. Das ist die Liebe zur Natur, die sie ja nur mit dem Blick aus dem Fenster erhaschen konnte, genauso wie natürlich die Beschäftigung mit dem jüdischen Leid über die Jahrhunderte. Also schon oft die Frage: Wer bin ich, was geschieht mit mir, was ist mir wichtig?"

    "Das ist die große Frage, werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr!
    5. April 1944"

    Am 1. August 1944 schreibt sie ein letztes Mal. Drei Tage später wird sie zusammen mit den sieben anderen im Versteck deportiert. Der Vater überlebt als Einziger die Konzentrationslager. Als er 1945 nach Amsterdam zurückkehrt, überreicht ihm Miep Gies das Vermächtnis seiner Tochter: ihr Tagebuch und all die losen Blätter, die sie im Versteck noch fand, nachdem SS-Männer die Zimmer verwüstet hatten. Otto Frank nimmt sich des Wunsches seiner Tochter an und publiziert "Het Achterhuis" - "Das Hinterhaus". Es erscheint am 25. Juni 1947 in einer Auflage von 1500 Exemplaren und ist nach kurzer Zeit vergriffen.

    Zum Weltklassiker wird "Das Tagebuch der Anne Frank" nach einer Theaterbearbeitung in Deutschland und einer Hollywood-Verfilmung Mitte der 50er Jahre. Erst 30 Jahre später jedoch, 1986, erscheint in den Niederlanden und zwei Jahre später in Deutschland das vollständige Tagebuch der Anne Frank. Das Original hütet das Anne Frank Haus in Amsterdam.

    "Es kommt alle sechs Wochen jemand vom niederländischen Institut für Kriegsdokumentation mit weißen Handschuhen, blättert es weiter, damit es sich nicht abnutzt und viele Menschen haben natürlich nur die Vorstellung, es gibt dieses bekannte, rot eingebundene Exemplar. Aber in der Zeit im Versteck war erstens dieses Buch sehr schnell voll, und Anne Frank hat dann auf den Rückseiten von Rechnungen, auf Kontorbüchern, weiter geschrieben, so dass man heute sagen muss, es sind eigentlich die Tagebücher der Anne Frank, die zusammengefasst ein riesiger Schatz an Gedanken, Wünschen, Träumen, Hoffnungen einer 13 bis 15-Jährigen sind."

    Das Buch, eines der meistgelesenen Bücher der Welt, in 70 Sprachen übersetzt, wurde millionenfach verkauft. Anne Franks Aufzeichnungen vergegenwärtigen das Leid von Millionen Opfern des Nazi-Terrors. Doch erst vor einem knappen Jahr musste Thomas Heppener Strafanzeige stellen: Das Buch der Anne Frank wurde öffentlich verbrannt, in Pretzin, einem kleinen Ort an der Elbe.