Freitag, 29. März 2024

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Dokumentarfilm "The Look of Silence"
"Nun trauen sich die Menschen, über die Ereignisse zu reden"

Im Oktober 2015 kommt in Deutschland der Film "The Look of Silence" ins Kino, nach "The Act of Killing" der zweite Dokumentarfilm von Joshua Oppenheimer über die antikommunistischen Massaker in Indonesien 1965 - bei denen nach unterschiedlichen Schätzungen rund eine Million Menschen ermordet wurden. In "The Look of Silence" konfrontieren die Angehörigen der Opfer die Täter mit ihren Verbrechen.

Der Filmemacher Joshua Oppenheimer im Gespräch mit Florian Fricke | 25.10.2015
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    Der US-amerikanische Filmregisseur Joshua Lincoln Oppenheimer (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
    Erst 50 Jahre später gelingt es einem Amerikaner, das Schweigen über dieses Massaker zu brechen und in Indonesien eine öffentliche Diskussion über diese dunkle Zeit anzustoßen. Joshua Oppenheimers Filme zeigen, dass der Westen sich seiner Mitverantwortung an den Massakern nicht entziehen kann.
    Florian Fricke führt mit dem Filmemacher ein Gespräch über menschliche Abgründe, den Umgang mit Schuld und Empathie als Schlüssel zu Verständnis und Vergebung.
    Joshua Oppenheimer, geboren 1974, studierte Film an der Harvard Universität und am Saint Martins College in London. Neben seiner Arbeit als Filmemacher ist er wissenschaftlich tätig und beteiligt sich u.a. am "Genocide and Genre"-Projekt des britischen Arts & Humanities Research Council.
    Florian Fricke: Am 30. September 1965 ermorden aufständische Offiziere in Jakarta sechs Generäle der indonesischen Armee. Die Hintergründe der Tat sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Es ist der Auftakt für ein grauenvolles Gemetzel. Präsident Sukarno beauftragt General Suharto, die Ordnung wiederherzustellen. Dieser hat nur ein Ziel: Die mächtige kommunistische Partei PKI, die drittgrößte weltweit und auch in der Einheitsregierung von Präsident Sukarno vertreten, soll vernichtet werden. In der Folgezeit ermorden Armee und Paramilitärs - nach unterschiedlichen Schätzungen - eine halbe bis eine Million Menschen. Jeder kann zum Opfer werden: Journalisten, Intellektuelle, Lehrer, Ärzte, Künstler, Gewerkschafter, ethnische Chinesen und natürlich tatsächliche Mitglieder der kommunistischen Partei.
    Ein halbes Jahrhundert später ist es ausgerechnet ein amerikanischer jüdischer Filmemacher, der das bleierne Schweigen bricht. Joshua Oppenheimers halb dokumentarischer Film "The Act of Killing" von 2012 behandelt die Nachwirkungen dieses nie aufgearbeiteten Genozids. Oppenheimer hatte den Tätern angeboten, ihre Gräueltaten in seinem Film nachzustellen. Der Film legt in verstörender Direktheit die Gedankenwelt der Täter bloß und zeigt, wer in Indonesien nach wie vor das Sagen hat. 2014 wurde er für den Oscar nominiert. Zum 50. Jahrestag des Auftakts des Mordens kam Joshua Oppenheimers zweiter Indonesienfilm The Look of Silence in die deutschen Kinos. In ihm widmet sich der Filmemacher mehr der Lebensrealität der Opfer und stellt Fragen nach Schuld, Sühne und Verantwortung. In zwei Gesprächen, die ich 2013 und 2015 mit ihm führen durfte, stellt Joshua Oppenheimer seine Methodik vor und erzählt von der Wirkung seiner Filme auf die indonesische Gesellschaft.
    Joshua Oppenheimer: Das erste Mal war ich von 2001 bis 2002 in Indonesien, als ich den Film The Globalisation Tapes über Plantagenarbeiter drehte, die eine Gewerkschaft gründen wollten. Das war direkt nach dem Ende der Suharto-Diktatur, in der Gewerkschaften verboten waren. Die Arbeiterinnen mussten ohne jeglichen Schutz ein Pflanzengift versprühen, das ihre Leber zersetzte. Sie wurden oft nicht einmal 50 Jahre alt. Die Plantagen gehörten einem großen belgischen Unternehmen. Das größte Hindernis, um eine Gewerkschaft zu gründen, war die pure Angst, die sie hatten. Die Eltern und Großeltern der Arbeiter hatten bereits eine sehr starke Gewerkschaft - bis 1965. Dann wurden sie nur aufgrund ihrer Mitgliedschaft verdächtigt, Kommunisten zu sein. Viele von ihnen wurden ermordet oder eingesperrt. Und nun hatten die Nachkommen Angst, dass sich die Geschichte wiederholen würde.
    Nach Ende der Dreharbeiten zu The Globalisation Tapes baten sie uns zurückzukommen, um einen Film über den Grund ihrer Angst zu drehen. Und damit meinten sie nicht nur die Ereignisse von 1965, sondern auch, was es heißt, mit den Tätern, die ihre Verwandten ermordet haben, zusammenzuleben, oftmals Tür an Tür.
    "Angeben mit den grausamsten Horrorgeschichten von Massentötungen"
    Fricke: Was fühlten Sie, als Sie das erste Mal die Täter trafen?
    Oppenheimer: Ich war geschockt. Als wir 2003 zurückkehrten, um den nächsten Film zu drehen, passierten zwei Dinge. Erstens sagten die Überlebenden: Warum filmst du nicht diesen oder jenen Nachbarn, der war ein Mitglied der Todesschwadronen. Er weiß wahrscheinlich, wie meine Verwandten umgekommen sind. Der da hat zum Beispiel meine Tante umgebracht. Wir nährten uns also diesen Typen, erst sehr vorsichtig, weil wir nicht wussten, wie sie reagieren würden, wenn wir die Ereignisse von 1965 ansprechen. Also fragten wir ganz unverfängliche Dinge wie: "Wie verdienen Sie Ihr Geld?" oder: "Was haben Sie in Ihrer Jugend gemacht?". Aber zu unserem Entsetzen gaben sie sofort mit den grausamsten Horrorgeschichten von Massentötungen an. Es war grotesk. Ihre Enkel waren mit anwesend im Raum. Sie wirkten gelangweilt, weil sie die Geschichten anscheinend nicht zum ersten Mal hörten.
    Das war kein Geständnis, sondern sie haben ihre Taten nachgespielt, sie geradezu zelebriert. Schauspieler suchen immer ein Publikum. Aber wer sollte das sein? Wer sollte das wertschätzen? Der Rest der Welt? Ihre Nachkommen? Ich? Du? Die Zuschauer von The Act of Killing? Wer? Diese Fragen stellen sich im Hier und Jetzt, und mir dämmerte: Wenn ich sie beantworten kann, dann kann ich das dunkle Herz dieses Täter-Regimes offenlegen.
    Was dann aber noch passierte, war, dass die Überlebenden nicht mehr mit uns sprechen durften. Wir hatten bei den Filmaufnahmen immer wieder mit ihnen über ihre Erfahrungen von 1965 gesprochen. Aber ziemlich schnell sind dann Soldaten aufgetaucht, haben es unterbunden und unser Equipment und Material konfisziert. Und dieser Kontrast - auf der einen Seite die prahlenden Täter, die sich selbst belasten, mehr als sich das die Überlebenden jemals trauen würden, und auf der anderen Seite das erzwungene Schweigen der Opfer - ich konnte das alles gar nicht fassen. Ich hatte an der Oberfläche gekratzt, und darunter lag dieses monströse Grauen. Wir zeigten also unser Material den Menschenrechtsorganisationen in Jakarta und fragten: "Was ist hier los?" Sie sagten: "Das Material ist sehr brisant." Niemand hätte je etwas Vergleichbares gefilmt und wir sollten unbedingt weiter machen. Denn wenn die Indonesier das sähen, dann wären sie endlich gezwungen zu erkennen, was sie eigentlich schon lange wissen: Dass dieser Staat von Mördern gebaut wurde, auf Massengräbern. Ich fühlte mich wie in Deutschland 40 Jahre nach dem Holocaust - und die Nazis sind immer noch an der Macht.
    "Oft führten die Täter mich zu den Tatorten"
    Fricke: Aber wie konnten Sie das Vertrauen der Täter gewinnen? Haben die nie Ihre wahren Motive hinterfragt?
    Oppenheimer: Ich war ziemlich offen mit meinem Motiv. Nachdem mir die Menschenrechtsorganisationen grünes Licht gegeben hatten, drehte ich jeden Täter, den ich finden konnte. Ich habe die ganze Befehlskette vom Land in die Stadt abgearbeitet. Absolut jeder prahlte mit seinen Taten, oft im Beisein seiner Familie. Oft führten sie mich zu den Tatorten, wo sie spontan ihre Morde anfingen nachzuspielen.
    Nach dem zehnten Dreh dieser Art hatte ich das Muster der Morde begriffen und ich sagte ihnen: Ihr habt an einem der größten Menschheitsverbrechen teilgenommen. Euer ganzes Leben und eure Gesellschaft ist dadurch geformt. Ich will wissen, was ihr davon haltet. Ihr habt mir schon so viel gezeigt, zeigt mir mehr. Und ich gebe euch dabei völlig freie Hand. Ich zeige den gesamten Prozess, eure Diskussionen, wie ihr euch selber seht und gesehen werden wollt. Ich habe ihnen das genau so gesagt.
    "Sein Schmerz lag direkt hinter der Maske"
    Fricke: Und wie sind Sie auf die Idee der Reenactments gekommen, also dass die Täter ganze Szenen nachspielen und dabei Regie führen?
    Oppenheimer: Ich hatte Reenactments schon öfter angewandt, weil ich finde, dass sich diese organische Methode gut eignet, um etwas zu erforschen. Anwar Congo, die Hauptfigur in The Act of Killing, war der 41. Täter, den ich getroffen habe. Erst war ich bei ihm zuhause, aber seine Frau hatte Freunde eingeladen und deswegen schlug er vor, ihn lieber in dem Büro zu interviewen, wo er viele Opfer ermordet hat. Das ist dann eine frühe Szene in The Act of Killing geworden.
    Er führt mich also eine Dachterrasse hinauf und zeigt mir, wie er die Opfer mit einer Drahtschlinge erdrosselt hat, um nicht so viel Blut zu vergießen. Aber dann sagt er etwas Interessantes: "Um zu vergessen, was ich tat, bin ich ausgegangen, habe getrunken, Drogen genommen und getanzt. Ich bin immer noch ein guter Tänzer". Und er fängt an, Cha Cha Cha zu tanzen, genau dort, wo er hunderte Menschen ermordet hat. Er hat dabei den Draht immer noch um den Hals, denn das wollte er mir von Anfang an zeigen: Nicht nur, wie er tötete, sondern auch, wie die Opfer starben. Als ob ihn diese Bilder immer verfolgen und er nur damit fertig wird, indem er sie nachstellt - so wie ein Psychologe dir raten würde, über ein Trauma zu reden.
    Er war ein Angeber wie alle anderen auch, vielleicht sogar der schlimmste. Aber sein Schmerz lag direkt hinter dieser Maske. Bei ihm habe ich gemerkt, dass Schmerz und Prahlerei Hand in Hand gehen. Wenn er am Ort seiner Verbrechen Cha Cha Cha tanzt, dann leugnet er nicht die faktischen Tötungen, sondern ihre Auswirkungen. Ich fragte mich also, wie er wohl reagieren würde, wenn ich ihm diese Aufnahmen zeige, ob er dann das Ausmaß seiner Taten erkennen würde. Und nebenbei würde ich vielleicht verstehen, warum die Täter mit ihren Taten angeben. Entweder sie fühlen wirklich keine Reue, oder sie tun es und versuchen so verzweifelt, sich selbst zu überzeugen, dass ihre Taten doch rechtens waren.
    Ich zeige ihm also das Material, und er ist wirklich verstört. Es trifft ihn völlig unvorbereitet, sein Enkel ist sogar mit im Raum. Und trotzdem - er schafft es nicht, seine Taten zu reflektieren. Denn dann müsste er zugeben, dass es falsch war, und in diese Situation ist er noch nie gebracht worden. Stattdessen überlegt er, wie man die Szene verbessern könnte. So wie er seine Taten auf der Dachveranda verleugnet hat, leugnet er nun, was mit dem Reenactment eigentlich nicht stimmt. Er beklagt also seine Kleidung, seine Frisur, sein Spiel. Und so begann ein fünfjähriger Prozess der ständigen Verbesserung. Jedes neue Reenactment war der verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuch, vor dem verstörenden Reenactment zuvor davonzulaufen.
    Für mich war jedes neue Reenactment ein immer noch besseres Beispiel, wie sich dieses Regime selbst demaskiert - vor allem, als Anwar immer mehr seiner Freunde involviert, eine ganze paramilitärische Organisation mit drei Millionen Mitgliedern, alles politische Verbrecher und Diebe, denen er als Gründungsvater ein lebendes Vorbild ist. Und darin liegt die Spannung: Ich versuche dieses Regime offen zu legen, die Straflosigkeit, die Korruption, das Banditentum, für die Überlebenden und die Menschenrechtsaktivisten, die es selbst nicht tun können - und Anwar, der vor seinem Schmerz wegrennt. Und von dieser Spannung lebt der ganze Film.
    "Josh, dieser Film zeigt, was es heißt, ich zu sein"
    Fricke: Aber um das noch einmal klar zu verstehen: Die Täter, Ihre Protagonisten, wussten, dass Sie den Film in die Kinos bringen werden, vielleicht sogar in indonesische Kinos? Und dass sie dann eventuell vor Gericht landen? Oder fühlten sie sich absolut sicher?
    Oppenheimer: Ich denke, dass jeder den Film für seine eigenen Zwecke gemacht hat. Natürlich spielt Eitelkeit eine gewisse Rolle. Die Macht der jüngeren Gangster aber speist sich vor allem aus dem Schrecken, den sie verbreiten. Die Angst vor ihnen ist ihr Kapital. Sonst könnten sie die chinesischen Händler auf den Märkten nicht abziehen, oder Bauern einfach von ihrem Land vertreiben. Sie wären nichts ohne diese Angst. Der Gangster-Nachwuchs wollte also unbedingt in diesem Film mitwirken, nicht weil sie gut aussehen wollten, sondern böse - um den Leuten noch mehr Angst einzujagen. Aber ich glaube, da irren sie sich, denn die Menschen fordern nun ein Ende der Straflosigkeit.
    Anwar hingegen will auch nicht gut aussehen. Er nutzt die Gelegenheit, um seine komplizierten Gefühle besser ausdrücken zu können. Nachdem er den fertigen Film gesehen hatte, war er sehr bewegt, sehr ruhig, hat geweint. Dann riss er sich zusammen und sagte: "Josh, dieser Film zeigt, was es heißt, ich zu sein. Mein ganzes Leben, immer, wenn ich über die Taten geredet habe, musste ich verstecken, was sie eigentlich für mich bedeuten. Das ist alles furchtbar blutig, grauenvoll und schrecklich - aber das war ich und bin ich noch." Anwar und ich stehen immer noch alle drei bis vier Wochen in Kontakt. Tatsächlich haben wir erst gestern miteinander gesprochen.
    Und was die Wirkung und Verbreitung von The Act of Killing in Indonesien betrifft - davon hätte ich nicht zu träumen gewagt. In Indonesien werden Filme verboten, besonders solche, die sich mit Menschenrechtsverletzungen befassen. Wenn wir also den Film offiziell in die Kinos gebracht hätten, hätten wir ihn vorher der Zensurbehörde zeigen müssen, die ihn wahrscheinlich verboten hätte. Und dann wäre jede Vorführung strafbar geworden, was wiederum die paramilitärischen Gruppen oder das Militär ausgenutzt hätten, um Vorführungen anzugreifen. Es wäre zu gefährlich geworden, ihn zu sehen, und wir wollten möglichst viele Zuschauer.
    Also zeigten wir den Film privat, in der Menschenrechtskommission der Regierung. Wir haben die führenden Journalisten eingeladen, Intellektuelle, Schriftsteller, Celebreties. Alle mochten den Film sehr und meinten, dass jeder ihn sehen sollte, möglichst in Gruppen, um danach darüber diskutieren zu können. Dieses erste Publikum diente als Multiplikator. Wir forderten die Zuschauer auf, den Film weiterzureichen, in ihren Netzwerken zu zeigen. Sie waren bekannt, so gaben sie diesen Vorführungen auch eine gewisse Sicherheit. Zum Tag der Menschenrechte organisierten wir also 50 Vorführungen in 30 Städten. Ein halbes Jahr später waren es schon 1.000 Vorführungen in 100 Städten. Und dann haben wir ihn 2013 im Internet für indonesische Adressen freigegeben.
    "Die vielleicht stärkste Reaktion kam von der Presse"
    Aber die vielleicht stärkste Reaktion kam von der Presse. Der Chefredakteur des größten politischen Magazins "Tempo", vergleichbar mit dem "Spiegel", meinte, es gäbe eine Zeit vor The Act of Killing und eine danach. Er sagte: "Nachdem ich ihn gesehen habe, möchte ich nicht als Täter alt werden. Seit 1965 hat mein Magazin Artikel über den Genozid zensiert - und damit müssen wir aufhören. Wir müssen in die Offensive gehen, eine öffentliche Debatte anstoßen und diesen 47-jährigen Bann des Schweigens brechen. Wir wollen den Beweis erbringen, dass das Experiment von The Act of Killing überall in Indonesien wiederholt werden könnte, dass Anwar nur einer von vielleicht 10.000 Tätern ist, dass Korruption und das Regime der Angst überall anzutreffen sind." Das Magazin hat also Täter in ganz Indonesien gesucht und befragt. Eine Sonderausgabe wurde veröffentlicht mit 75 Seiten voll dieser Täterzeugnisse plus 25 Seiten über meinen Film. Sie war sofort ausverkauft, wurde zweimal neu aufgelegt und war jedes mal wieder vergriffen. Der Tenor aller wichtigen Zeitungen war: Seht her, wie es um unser Land bestellt ist - und wir wissen es ja alle längst. Der Film hat also die Rolle des Kindes in Des Kaisers neue Kleider eingenommen: "Schaut, der König ist doch nackt!" und so dem indonesischen Volk einen Raum geschaffen, um angstfrei über die Ereignisse reden zu können.
    Die Perspektive der Opfer - Joshua Oppenheimer über den zweiten Film
    Fricke: Dieses Gespräch mit dem amerikanischen Dokumentarfilmer Joshua Oppenheimer habe ich 2013 zum deutschen Filmstart von The Act of Killing geführt. Anderthalb Jahre später treffe ich Oppenheimer erneut, als er das Nachfolgewerk The Look of Silence bewirbt. The Look of Silence hat wieder eine Hauptfigur: Adi. Sein Bruder Ramli wurde 1965 ermordet, da war Adi noch gar nicht geboren. In The Look of Silence konfrontiert Adi die Mörder seines Bruders mit ihrer Verantwortung.
    Joshua Oppenheimer, wie muss man sich das vorstellen? War Indonesien vor The Act of Killing eine gespaltene Nation? In wirklich jedem Dorf lebten Opfer und Täter des Massenmords Tür an Tür?
    Oppenheimer: Das ist immer noch der Fall. Aber nun trauen sich die Menschen über die Ereignisse von 1965 und ihre Auswirkungen zu reden. Darüber zu reden, dass jeder Angst vor jedem hat. Mein Film The Look of Silence zeigt, dass der Prozess der Aussöhnung ein nationaler sein muss. Er zeigt zum Beispiel Adi, wie er seine Nachbarn besucht, die seinen Bruder ermordet haben. Er sagt: "Ich will euch nicht verurteilen, sondern versuche euch zu verstehen. Aber ich frage euch auch nach eurer Verantwortung, damit wir in Frieden miteinander leben können." Adi tritt also an die Täter heran in der Hoffnung, dass sie die Vergebung ihrer Opfer suchen, um vielleicht den eigenen Frieden zu finden. Und wir, die Opfer, müssen endlich keine Angst mehr vor euch haben.
    "Nur eine Tochter fand den Mut, sich für die Taten ihres Vaters zu entschuldigen"
    Zum Beispiel gibt es eine Szene am Ende des Films, als er die Familie eines mittlerweile verstorbenen Täters besucht. Er sagt zu dessen Kindern: "Seht, es ist nicht eure Schuld, was euer Vater getan hat. Aber wir müssen einen Weg finden zusammenzuleben. Was wäre, wenn meine Tochter einen eurer Söhne heiraten möchte? Es wäre doch schlimm, wenn das nicht möglich wäre." Und trotzdem bekommt die Familie Angst. Nicht vor mir, nicht vor Adi, sondern vor ihrem Spiegelbild. Sie haben Angst vor ihrer Schuld, ihrem Gewissen, und reagieren so, wie wahrscheinlich die meisten Ertappten reagieren würden. Sie bedrohen Adi und werfen ihn hinaus. Und so haben alle Täter reagiert. Nur eine Tochter fand den Mut und die menschliche Größe, sich für die Taten ihres Vaters zu entschuldigen.
    Wir können also nicht erwarten, dass sich Opfer und Täter spontan treffen, und die einen gestehen ihre Taten und die anderen vergeben ihnen. Es braucht dafür einen nationalen Rahmen und das Eingeständnis, dass der Genozid ein Verbrechen war. Es braucht eine glaubwürdige Wahrheitskommission, die die Basis legt für eine nationale Aussöhnung – denn keine Aussöhnung ohne die Wahrheit.
    Fricke: War es Adis eigene Idee, im Zentrum von The Look of Silence zu stehen?
    Oppenheimer: Irgendwie schon. Auf die Frage, ob er sich von mir ausgenutzt fühlte, hat Adi geantwortet, dass er eher mich ausgenutzt hätte. Die ganze Zeit habe er nach einem Weg gesucht, der dieses Regime der Angst bloß stellen könne. Und als ich auftauchte, wurde für ihn ein Traum wahr. Diese Gelegenheit ließ er sich nicht entgehen.
    Er sagte: "Joshua, seit sieben Jahren kenne ich nun dein Filmmaterial. Ich muss selber die Mörder treffen und sehen, ob sie Verantwortung übernehmen." Und ich sagte, nein, das ist viel zu gefährlich. Das gab es noch nie, dass Opfer ihre Peiniger treffen, wenn die noch an der Macht sind. Aber er meinte: "Schau, das ist die einmalige Chance meine Familie aus diesem Gefängnis der Angst herauszuholen. Und außerdem gebe ich den Tätern so die Gelegenheit, sich zu entschuldigen, damit wir uns aussöhnen können."
    Ich musste also einen sicheren Weg finden, das zu ermöglichen. The Act of Killing war noch nicht veröffentlicht worden, danach hätte ich nicht mehr nach Indonesien zurückkehren können. So aber dachten noch alle Beteiligten, dass ich den ranghöchsten Politikern nahestehe, denn unsere Produktion hatte für viel Aufsehen in Nord-Sumatra gesorgt. Es war zum Beispiel bekannt, dass ein indonesischer Vizeminister beim Nachinszenieren, dem Reenactment eines Pogroms mitgewirkt hatte. Adi wollte nur die regionalen Verantwortlichen der Morde treffen, und die dachten, dass ich durch höchste nationale Stellen geschützt sei. Und das war wirklich eine bizarre Situation. Als wir zehn Jahre zuvor mit der Arbeit mit den Überlebenden begonnen hatten, waren wir noch bedroht worden. Nun waren wir fast unantastbar.
    "In Jakarta hingen diesmal überall Filmplakate"
    Fricke: Vor achtzehn Monaten habe ich Sie nach der Wirkung von The Act of Killing auf die indonesische Gesellschaft gefragt, und Sie erzählten mir von den vielen Vorführungen und wie positiv die Presse darauf angesprungen ist. War die Wirkung von The Look of Silence sogar noch größer?
    Oppenheimer: The Act of Killing war sozusagen der Türöffner für The Look of Silence. Waren die ersten Vorstellungen von The Act of Killing noch geheim, wurde die Premiere von The Look of Silence von den beiden Verleihern präsentiert: die Menschenrechtskommission und der Rat für die Künste in Jakarta, beides Regierungsbehörden. Das war für The Act of Killing noch völlig undenkbar gewesen. In Jakarta hingen diesmal überall Filmplakate. 3.000 Zuschauer kamen in Indonesiens größtes Kino, das aber nur 1.500 Menschen fasst. Also wurden zwei Vorführungen gezeigt, damit ihn alle sehen konnten. Adi war bei beiden anwesend, auch das war ein Novum. Er erhielt nach jeder Vorstellung 15-minütige Standing Ovations.
    Einen Monat später haben die beiden Verleiher den Film veröffentlicht. Am ersten Tag waren es sage und schreibe 500 öffentliche Vorstellungen. Jetzt sind es schon über 3.500. Der Film wurde in den meisten Magazinen und Zeitungen zum Film des Jahres 2014 gekürt. Man kann es so sehen: The Act of Killing hat es für die Indonesier nahezu unmöglich gemacht, weiterhin das Offensichtliche zu verleugnen, nämlich das Regime der Angst, der Korruption und des Banditentums, das im Anschluss an den Genozid installiert worden war. The Look of Silence macht es unmöglich, weiterhin den Abgrund von Angst und Schuld auf Seiten der Täter zu ignorieren. Dieser Abgrund spaltet das ganze Land und zwängt die Indonesier in dieses Gefängnis der Angst, in dem sie ihre Kinder aufziehen müssen.
    "Jeder Genozid ist von Menschen begangen worden"
    Fricke: Aber wie steht es mit der Gerechtigkeit? Was macht die Judikative in Indonesien? Denn das ist ein möglicher Konflikt mit Ihren Filmen. Man bekommt das Gefühl, dass Sie, Joshua Oppenheimer, den Tätern vergeben können, und dass Sie die Täter vor allem als Menschen darstellen wollen, Menschen wie du und ich. Aber müsste vor diesem Schritt den Tätern nicht der Prozess gemacht werden, wenn es nach unseren demokratischen Werten ginge?
    Oppenheimer: Sind die amerikanischen Verantwortlichen für die Anwendung von Folter jemals angeklagt worden? Sind die amerikanischen Verantwortlichen für diesen Genozid angeklagt worden? Die Verantwortlichen für drei Millionen Tote in Vietnam? Wie viele SS-Offiziere wurden für ihre Teilnahme an der Endlösung überhaupt angeklagt?
    Jeder Genozid ist von Menschen begangen worden. Das wissen gerade die Deutschen nur zu genau, denn auch ihre Großeltern waren Menschen. Wir brauchen vor allem Mut, um an die Täter heranzutreten, um sie als Menschen zu verstehen. Meine Aufgabe als Künstler ist es also weder sie zu verurteilen, noch ihnen zu vergeben. Wir müssen ihnen gegenüber Empathie aufbringen, keine Sympathie - um zu verstehen, wie solche Taten geschehen können und wie die Täter eine Kultur der Straflosigkeit errichten können, wenn sie an der Macht bleiben.
    Die Verwicklungen des Westens
    Fricke: Ein wichtiger Aspekt in The Look of Silence ist, dass Sie die Verwicklung des Westens sichtbar machen. Man sieht Ausschnitte aus einer NBC Dokumentation von 1967. Der Reporter befragt einen Täter auf einem Dorffriedhof auf Bali. Dieser behauptet allen Ernstes, dass die Kommunisten Selbstmord begangen hätten.
    Oppenheimer: Nein, dass sie um ihre eigene Ermordung gebeten hätten.
    Fricke: Richtig. Und der Reporter schluckt das einfach.
    Oppenheimer: Das ist wirklich ein wichtiger Moment im Film. Interessanterweise ist dieser Mann nicht nur Anführer einer Todesschwadron, sondern auch Professor für Archäologie - so wird er jedenfalls in dieser NBC-Dokumentation von '67 vorgestellt. Er sagt also, dass die balinesischen Opfer darum gebeten haben, getötet zu werden. Der Reporter geht auf diese Lüge, die offensichtlich die Massaker rechtfertigen soll, gar nicht weiter ein. Er lässt es einfach so stehen, möglicherweise als Kulturunterschied zwischen Ost und West. Vielleicht nehmen die Menschen auf Bali ihr Schicksal ja besonders stoisch hin. Und das ist Teil dieser Rechtfertigungsstrategie: Diese Menschen sind einfach anders. Natürlich sind ihre Taten schrecklich, aber das hat nichts mit uns zu tun und unserer Rolle in diesem glorreichen Sieg über den Kommunismus.
    Dann sehen wir Good Year, ein multinationales amerikanisches Unternehmen, der vielleicht größte Reifenhersteller der Welt, der auch die Sohlen unserer Schuhe herstellt. Und dieses Unternehmen ließ sich Sklaven aus Konzentrationslagern zuführen. Ich bin gerade in einem deutschen Radio zu hören und geneigt, kurz innezuhalten. Nur 20 Jahre zuvor haben deutsche Unternehmen das Gleiche in Auschwitz gemacht. Aber hier will es uns ein liberales Medium verkaufen als eine Maßnahme im Namen von Freiheit und Demokratie im Kampf gegen Totalitarismus. Wir sollten daran zweifeln, ob diese Behauptung ernst gemeint ist, oder nur eine Ausrede für mörderische Ausbeutung durch Konzerne.
    Fricke: Wie geht es Ihrer Hauptfigur Adi jetzt? Er hat zwar 15 Minuten lang Standing Ovations bekommen, aber fühlt er sich denn nun wirklich besser und erleichtert?
    Oppenheimer: Nach den Dreharbeiten war Adi erst einmal sehr enttäuscht und geknickt, und dieses Gefühl konnte ich ihm nicht nehmen, solange ich mit der Veröffentlichung von The Act of Killing beschäftigt war und The Look of Silence erst fertigstellen musste. Als er aber den fertigen Film sah und vor allem die Reaktionen der Zuschauer, wurde ihm klar, dass die Menschen nun bereit waren sich der Geschichte zu stellen. Das Schweigen sei nun gebrochen, sagte er, und das habe ihn befreit.
    Allerdings musste die Familie Nord-Sumatra verlasen und in eine Gegend ziehen, wo sie sicher ist. Wir haben versucht, es ihnen leichter zu machen, die Chancen zu nutzen, die solch ein Ortswechsel mit sich bringt. Adis Kinder gehen jetzt auf viel bessere Schulen. Die Familie muss auch nicht mehr mit der ständigen Präsenz ihrer Peiniger leben. Adi und seiner Familie geht es also gut, auch wenn es schmerzhaft ist, dass er nun von seinen Verwandten in Nord-Sumatra abgeschnitten ist. Aber wir bleiben auf der Hut. Sollte seine Familie bedroht werden, werden wir sie sofort nach Europa holen. Aber hoffentlich passiert das nicht, denn das würde sie noch mehr belasten.