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Dokumentation
Kunst und Politik am russischen Bolschoi-Ballett

Der Leiter des russischen Bolschoi-Balletts, Sergei Filin, wurde 2013 Opfer eines Säureattentats. Danach haben zwei britische Dokumentarfilmer Filin zwei Jahre lang begleitet - ohne das Rätsel um die Backstage-Dramen aufzulösen. Trotzdem bietet der Dokumentarfilm "Bolschoi Babylon" einen gelungenen Blick hinter die Kulissen des Theaters mit Konkurrenzkampf, Zensurversuchen und Schönheit.

Von Nicole Strecker | 21.07.2016
    Bolschoi-Theater Moskau
    Der Dokumentarfilm "Bolschoi Babylon" wurde in Moskau gedreht. (picture alliance / dpa / Foto: Britta Pedersen)
    Eine düster-romantische Märchenwelt, unwirklich-zarte Frauen, eine in eisblaues Licht getauchte Bühne, Glitzertutus. Es wird Schwanensee getanzt. Doch in den tränentreibend schönen Liebesschmerz flimmern störend Fernsehbilder: Nachrichtenmoderatoren und immer wieder eine Aufnahme: das Profil eines männlichen Gesichts, monströs entstellt durch ein Hautnetz – wie eine Hannibal-Lector-Maske.
    "Der künstlerische Leiter des weltberühmten Bolschoi-Theaters, Sergej Filin, wird in einem Moskauer Krankenhaus wegen schwerer Verätzungen seines Gesichts behandelt, nachdem ihn ein maskierter Mann mit Säure angegriffen hatte. Der Überfall ereignete sich nachts."
    Faszinierendes Porträt des Theaters
    Intrigen, Gewalt, Skandale. Bis vor ein paar Jahren hatte man sich im Westen wenig für das russische Theater interessiert. Das Bolschoi-Ballett, das war doch angestaubter Zaren- und Präsidenten-Flitter, technisch brillant, aber programmatisch den Handlungsballett-Schmachtlappen des letzten Jahrhunderts verpflichtet. Doch dann stand es im Januar 2013 plötzlich im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit. Es sind eben immer die falschen Gründe, weshalb die Welt der Tanzkunst Beachtung schenkt. Damals zeichneten sich beim größten Ballett-Trupp unglaubliche Backstage-Dramen ab, die bis heute nicht wirklich aufgeklärt sind. Das wollen auch die Regisseure Nick Read und Mark Franchetti nicht mit ihrer Dokumentation leisten. Im Gegenteil. Schließlich sorgen die ungelösten Rätsel für den nötigen Thrill im faszinierenden Theater-Porträt.
    "Die Art und Weise wie Sergej am Bolschoi antrat, spaltete das Theater in gewisser Weise", so eine Starsolistin des Bolschoi.
    "Er brachte viele neue Leute ein, die unseren Platz einnahmen. Das war nicht sehr angenehm. Und es waren Künstler, von denen manche weit unter unserem Niveau lagen."
    Kunst- und Theatermacher treten im Film auf
    Read und Franchetti lassen Tänzerinnen, aktuelle und ehemalige Direktoren des Bolschoi, Sergej Filin und seine Antipoden zu Wort kommen. Auch Ministerpräsident Dmitri Medwedew tritt als Bolschoi-Fan für ein kraftmeierndes Statement vor die Kamera:
    "Das Bolschoi ist unsere Secret Weapon, unsere Geheimwaffe, die wir auf verschiedene Länder richten, auch auf Großbritannien und die USA. Weil es eine universale Sprache ist, eine Sprache, die alle verstehen. Deswegen werden wir es zur Erreichung unserer Ziele unbedingt nutzen. Zweifeln Sie nicht daran."
    Auch Kunst ist Krieg in Russland, und sei sie noch so weltfern. Großartig gelingt es dem Filmduo, die seltsame Dialektik des nicht nur geografisch kreml-nahen Musentempels zu zeigen: Hier die eskapistische Bühnenwelt mit Schönheit, Schminke, Seelenschmerz. Da die Schindereien im Ballettsaal, das bitterkalte Moskau, müde Gesichter in überfüllten U-Bahnen, pompös herausgeputzte Oligarchen in den Theaterlogen.
    Der Ton unter den Künstlern ist oft rau. Man sieht wie sich Spitzenschuhe in den Boden bohren, wie Tänzer ihre Muskeln kneten, wie hinterm geschlossenen Vorhang die Eleganz sofort verpufft. Man erahnt in den erschöpft-zornigen Gesichtern den Konkurrenzkampf – und so manche Black-Swan-Ballerina. Wirklich überraschend ist nichts in dieser Dokumentation und die Filmaufnahmen von Tanzsequenzen können nur selten Kraft und Charisma dieser Kunstform wirklich einfangen. Zu unsinnlich bleibt die Körperlichkeit der Tänzer. Aber als Krimi über die ungesunde Verflechtung von Kunst und Politik, als Sittenbild eines korruptionszersetzten Russlands und als psychopathologische Studie einer Kunstform, die ohne krankhaften Ehrgeiz gar nicht möglich wäre, funktioniert "Bolschoi Babylon" bestens.