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Dokumentation mit literarischer Gestaltung

37 mal ist Rodolfo Walshs Bericht aus dem Jahr 1957 in Spanien und Argentinien bislang aufgelegt worden, mehrfach schon zu Lebzeiten des Verfassers und dann immer wieder, seitdem in Argentinien 1983 nach der Niederlage im Krieg um die Malvinas die jüngste Militärdiktatur gestürzt ist.

Von Michael Schmitt | 24.10.2010
    "Das Massaker von San Martin" ist ein Klassiker und verdankt seinen Rang und seine nachhaltige Wirkung zwei miteinander eng verbundenen Ursachen: Zum einen ist dieses Buch zum Zeitpunkt seines Erscheinens – Zeitschriftenartikel von Walsh waren die Grundlage – ein schriftstellerisches Experiment, weil darin intensive Recherche und Dokumentation mit literarischer Gestaltung verschmolzen sind; zum anderen steht Rodolfo Walsh, der Journalist und Schriftsteller mit irischen Wurzeln, mit seinem Leben buchstäblich für die Brisanz des Themas und für die Ernsthaftigkeit der Befassung ein.

    Er stammt aus einer verarmten Familie, arbeitet schon mit 17 als Korrektor in einem argentinischen Verlag, schreibt als junger Journalist zunächst über Dinge, die er später nur mehr als Tändeleien abtun wird, und stolpert dann mit 30 Jahren über eine Geschichte, die sein Leben und die Auffassung von seiner Arbeit umkrempelt – den willkürlichen Mord an einigen vage als Putschisten verdächtigten Männern durch die Polizei im Zuge der Niederschlagung eines unbedeutenden Militärputsches im Juni 1956.

    "Notwendigkeit und Erschütterung" sind von da an das, was er dem Journalismus abverlangt, als Triebfeder und im Dienst der Verpflichtung "Zeugnis abzulegen". 1977 wird er dafür mit dem Leben bezahlen, er wird von den Schergen der seit 1976 herrschenden Militärdiktatur umgebracht, nachdem er zuvor unter falschem Namen untergetaucht war.

    Es sei üblich geworden, Rodolfo Walshs Leben und Arbeiten von diesem Ende her zu erzählen und zu verstehen, schreibt Erich Hackl in seinem Nachwort zu der von ihm neu übersetzten Ausgabe des "Massakers von San Martin". Auch Leopold Federmair, der vor einigen Jahren drei kurze Erzählungen Walshs unter dem Titel "Diese Frau" ins Deutsche übertragen hat, ist dem gefolgt. Walsh habe am 25. März 1977 am ersten Jahrestag der Machtübernahme der Militärs seinen anklagenden "Offenen Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta" in einen Briefkasten geworfen, und nur ein paar Minuten später sei er erschossen worden, da ein Mitglied der Monteneros, der linksperonistischen Guerilla, ihn zuvor unter der Folter verraten habe.

    Doch nicht nur das "Massaker von San Martin" oder dieser "Offene Brief" begründen Walshs Ruhm, er trägt durch eine Erzählung – "Diese Frau" – auch viel dazu bei, den zwiespältigen Mythos von Evita Peron zu begründen, in frühen Kriminalgeschichten deutet er schon auf ein tief verwurzeltes Geflecht von Macht, Kungelei und Vertuschung in seinem Heimatland hin – und ein Jahr vor seinem eigenen Tod verliert er eine Tochter, die für die Monteneros kämpft und sich in einem von Polizisten belagerten Stützpunkt in aussichtsloser Lage selbst erschießt. Leben und Schreiben, Dokumentieren, Aufklären und Erzählen sind bei Rodolfo Walsh, der nur 50 Jahre alt wird, untrennbar verschmolzen.

    In der neuen Ausgabe von "Das Massaker von San Martin" beim Zürcher Rotpunktverlag ruft nicht nur das Nachwort von Erich Hackl diese Geschichte wieder wach, sondern auch die vielen darin aufgenommenen Vor- und Nachworte Rodolfo Walsh zu den Ausgaben, die zu seinen Lebzeiten erschienen sind. So kann man nicht nur die Geschichte des Buches, sondern auch die des Menschen darin dokumentiert finden - und natürlich die Geschichte Argentiniens seit dem Sturz Perons im Herbst 1955.

    In der vorliegenden Form erzählt das Buch die Geschichte seiner Entstehung genauso wie die Geschichte seines Gegenstandes, von den unklaren Anfängen bis zur Verbitterung darüber, dass der Verfasser sein letztes und höchstes Ziel mit diesem Werk nicht erreicht wird. Man kann Rodolfo Walshs Arbeit in der Rückschau neben derjenigen der frühen Vertreter des New Journalism einordnen, neben Norman Mailer, Thomas Wolfe oder Gay Talese – vielleicht auch neben und chronologisch auf jeden Fall vor "Kaltblütig" von Truman Capote. Aber ohne jeden Zweifel hat er sich dabei noch sehr viel tiefer in sein Thema verstrickt als diese berühmten Kollegen in die ihren.

    "Die erste Nachricht über die geheimen Erschießungen vom Juni 1956 erreichte mich zufällig gegen Ende desselben Jahres, in einem Cafe in La Plata, in dem Schach gespielt wurde, mehr von Keres und Nimzowitsch die Rede war als von Aramburu und Rojas, und Schlechters Bajonettangriff in der Sizilianischen Eröffnung das einzige Kriegsmanöver darstellte, das über ein gewisses Renommee verfügte.

    In diesem Kaffeehaus hatte uns eines Mitternachts im Juni auch die Knallerei überrascht, mit der, bei Valles gescheiterter Revolution, der Sturm auf die Kommandantur der Zweiten Division und auf die Polizeidirektion begann. Ich weiß noch, wie wir alle zusammen ins Freie liefen, die Schachspieler, die Kartenspieler und die Kiebitze, weil wir wissen wollten, was das Spektakel ganz in unserer Nähe eigentlich zu bedeuten hatte, und wie wir immer ernster wurden, je näher die Plaza San Martin rückte, und immer weniger, und als ich schließlich den Platz überquerte, war von meinen Begleitern niemand mehr zu sehen, aber als ich im Busbahnhof eintrudelte, waren wieder ein paar Leute um mich herum, sogar ein kleiner Schwarzer in Polizeiuniform, der sich hinter einigen Autoreifen verschanzt hatte und sagte, Revolution hin oder her, aber ihm würde keiner seine Waffe wegnehmen, die ein furchterregendes Mausergewehr aus dem Jahr 1901 war. (...)

    Ich vergesse auch nicht, dass ich, gegen den Rollladen gelehnt, auf der Straße einen Rekruten sterben hörte, und dieser Mann rief dabei nicht: "Es lebe das Vaterland!", sondern er stöhnte: "Lasst mich jetzt nicht allein, ihr Arschlöcher."

    So beginnt dieser Bericht – mit einer unübersichtlichen Situation und an Orten, die Leser Rodolfo Walshs bis dahin eher aus seinen Kriminalgeschichten kennen können, in denen sich oft ein schachspielender Kommissar und ein Journalist über Verbrechen in Buenos Aires unterhalten. Aber was ist der Hintergrund dieser Szenen?

    Im Juni 1956, neun Monate nach dem Sturz des autoritären Peron durch Militärs unter General Pedro Eugenio Aramburu versuchen einige Offiziere und einige wenige Zivilisten einen Umsturz der neuen Verhältnisse. Die Generäle Valle und Tanco klagen die herrschende Regierung Aramburus der Tyrannei an und werfen ihr vor allem vor, dem internationalen Kapitalismus Tür und Tor in Argentinien geöffnet zu haben – woraus sich schon bald eine neue Form des Kolonialismus ergeben werde. Valle und Tanco sind Peronisten, wollen also die Rückkehr zu jenem populistischen, auf die Unterstützung durch der Arbeiterschaft zielenden Kurs, dem Peron seine Aura verdankt hat. Die neue Militärdiktatur dagegen kann zunächst mit den Sympathien des Bürgertums für ihre "Befreiungsrevolution" rechnen und ebenfalls mit derjenigen der Intellektuellen, die von Peron gnadenlos unterdrückt worden sind. Auch Rodolfo Walsh begrüßt den Sturz Perons – und schildert anfangs, wie er nach den Erlebnissen in der Nacht des Putsches von Valle und Tanco eigentlich nur zum Schachspielen und zu seinen Kriminalgeschichten habe zurückkehren wollen.

    Tatsächlich aber geschieht dann etwas anderes, denn er hört nicht nur von den Erschießungen, sondern auch davon, dass zumindest einer der Verhafteten überlebt habe. Und mit dem will er reden, und so kommt eine Recherche ins Rollen, die Walshs Bild von den neuen Verhältnissen in Argentinien sehr bald gründlich umkrempeln wird.

    Er beginnt mit der Suche nach den Beteiligten, studiert Akten und Berichte, findet weitere Überlebende und kann nach und nach ein immer deutlicheres Bild jener Ereignis zeichnen, die ihn besonders interessieren. Und das sind nicht die Kämpfe zwischen den Truppen der Regierung und den aufständischen Einheiten in einem Teil der Stadt, sondern die unklare Polizei- und Militäraktion gegen etwa 20 Zivilisten, die spät in der Nacht in einem Lokal in einem anderen Stadtteil ihren Anfang nimmt:

    Dort versammeln sich in zwei Räumen eine Reihe von Männern, von denen die wenigsten wohl politische Absichten verfolgen und viele vor allem herkommen sind, um sich gemeinsam die Übertragung eines Boxkampfes anzuhören. Es sind Familienväter darunter, alte und junge, gesetzte Charaktere und unruhige Geister – sowie einige, deren Identität nicht zu klären ist, von denen aber zu vermuten ist, dass darunter auch Polizeispitzel sind. In einer überraschenden Aktion werden die meisten dieser Männer dann von der Polizei festgenommen, festgehalten und anschließend in einem Kleinbus zu einer Müllhalde vor der Stadt verfrachtet, wo sie alle ohne Verfahren erschossen werden sollen. Fünf von ihnen sterben dort, einige aber können fliehen, weil die ganze Aktion überaus dilettantisch durchgeführt wird.

    Rodolfo Walsh rekonstruiert das alles aus den oft bruchstückhaften Aussagen der Beteiligten, stellt Widersprüche und Übereinstimmungen der Schilderungen heraus, macht den gesamten Prozess seiner Recherche durchsichtig – mischt aber vor allem zu Beginn gelegentlich auch erzählerisch-literarische Mittel zur Dramatisierung mit, etwa wenn er die Perspektive eines der überlebenden Opfer zitiert:

    ""Er liegt mit dem Gesicht nach unten und mit abgewinkelten Armen auf der Erde. Die Hände hat er in Schulterhöhe flach auf den Boden gelegt. Wie durch ein Wunder ist seine Brille heil geblieben. Er hat alles gehört – die Schüsse, die Schreie – und kann keinen klaren Gedanken fassen. Sein Körper ist ein Territorium der Angst, die in jede Faser und in jede Zelle gesickert ist. Nicht bewegen. Zu diesen zwei Wörtern verdichtet sich die Weisheit der Menschheit. Außerhalb dieses uralten Instinkts ist nichts.

    Wie lange liegt er wie tot da? Er weiß es nicht mehr. Er wird es nie wissen. Er weiß nur, dass er irgendwann die Glocken einer nahen Kapelle schlagen hört. Sind es sechs, sieben Schläge? Er kann es nicht sagen. Vielleicht hat er diese langsamen, erhabenen, feierlichen Klänge, die durch die Dunkelheit dringen, auch nur geträumt.

    Rings um ihn dauern die Geräusche des grausigen Gemetzels an, das Hin und Her der Gefangenen und der Polizisten, die Schüsse (...) Dann das Aufheulen eines Motors. Der Kleinbus fährt an. Bleibt stehen. Ein Schuss. Wieder Stille. Aufs neue das Motorengeräusch in einer unerträglichen Abfolge aus Vorwärts- und Rückwärtsfahren.

    In jäher Eingebung begreift Don Horacio, was da vor sich geht. Der Gnadenschuss. Sie fahren von einem Hingerichteten zum anderen und bringen jeden um, der noch ein Lebenszeichen von sich gibt. Und jetzt ..."

    Das Ziel des Buches ist immer klar:
    Walsh will herausarbeiten, wie es zu einer solchen gesetzeswidrigen Aktion überhaupt kommen kann, wer dafür verantwortlich und wer die ausführenden Kräfte sind. Juristisch möglichst genau und immer mit bitterem Hohn bemüht er sich darum, den Beweis zu führen, dass die Verhaftungen von San Martin nicht durch den Notstand in dieser Nacht gedeckt sind. Und das betrifft besonders den Polizeidirektor Fernández Suárez, der die entscheidenden Befehle gibt:

    "Das Problem des Polizeidirektors ist leicht darzulegen und schwer zu lösen: Er hat ein Dutzend Männer vor Inkrafttreten des Standrechts verhaftet. Er hat sie ohne Urteilsverkündung erschießen lassen. Und jetzt stellt sich heraus, dass sieben dieser Männer noch am Leben sind.

    Die Maßnahmen, die er ergreift, zeigen, dass Fernández Suárez seine Lage richtig einschätzt: Als Erstes separiert er die unmittelbaren Täter und Zeugen. Rodriguez Moreno und Cuello versetzt er zur Regionaleinheit von Mar del Plata, den Kommissar de Paula wird er später dem Kommissariat von Bernal zuteilen."

    Will sagen: Das System bemüht sich nachträglich umgehend darum, sich selbst zu schützen, statt offen zu legen, was geschehen ist. Die ausführenden Organe, denen die nächtliche Aktionen anvertraut gewesen sind, aber waren einschlägig bekannte zweifelhafte Charaktere, vor allem der schon erwähnte Rodriguez Moréno, der die Verhaftungen vornimmt und dem die Gefangenen ausgeliefert bleiben – Willkür und Unrecht sind von Anfang an einkalkuliert:

    "Rodriguez Moreno ahnt nichts Gutes. Warum mussten diese armen Teufel gerade ihm in die Hände fallen? Und doch, es gibt so was wie einen geheimen Grund dafür, die unerbittliche Logik des Schicksals, das niemand anderer als er diesen Auftrag wird ausführen müssen.

    Ein imposanter, harter Mann, dieser Rodriguez Moreno, mitsamt seiner holprigen, skandalumwitterten Karriere. Die Tragödie folgt wie ihm wie ein ergebener Hund auf dem Fuß. Schon vor 1943 als er noch ein Kommissariat in Mar del Plata geleitet hat, war er, mehreren Berichten zufolge, in einen schaurigen Fall verwickelt: Ein Obdachloser wird in einer Zelle brutal zusammengeschlagen und anschließend, in einer eiskalten Winternacht, splitternackt an den Strand geworfen. Er erfriert. Offenbar wird Rodriguez Moreno angezeigt und sogar in Dolores eingesperrt. Aber dann geht er frei. Weil er unschuldig ist, wie seine Verteidiger behaupten. Wegen politischer Einflussnahme, wie seine Gegner argwöhnen. Die Geschichte wird nie richtig aufgeklärt. Irgendwann gerät sie in Vergessenheit.
    Und jetzt das."

    Die Vorwürfe Walshs, der sehr genau ausbreitet, wer – Zivilisten oder Militärs - in dieser Nacht vor der Verkündung des Standrechtes welche Kompetenzen gehabt hat, gipfeln daher, wenig überraschend in der Anklage gegen den Polizeidirektor Suárez:

    "Es ist keine Exekution, die er befiehlt, es ist Mord."

    Es geht Rodolfo Walsh an diesem Punkt – und anfangs noch im Vertrauen darauf, dass die Regierung daran ein Interesse hat – darum, klar zu machen, was an diesen Vorfällen justiziabel ist, wie man also vor Gericht mit Erfolg gegen die Täter vorgehen könnte. Aber so unklar wie die Kompetenzen zwischen Polizei und Militärs in der Nacht des Putschversuches gewesen zu sein scheinen, so verschleiernd ist nun auch die Reaktion der Justiz: Die Justiz sei blind gewesen, schreibt Walsh in der überarbeiteten späteren Auflage seines Buches, die der Übersetzung zugrunde liegt; der Fall sein zwar vor den Obersten Gerichtshof der Nation gelangt, dort aber habe man am 24. April 1957 eines "der schändlichsten Urteile unserer Rechtsgeschichte" gefällt und die Angelegenheit der Militärgerichtsbarkeit zugewiesen, also denen, die in der Nacht des 9. Juni zugleich Komplizen der Täter und Aufrührer gewesen seien. Und so sei das Massaker für immer ungesühnt geblieben. Und dann schreibt er weiter:

    "Ich habe in der ersten Auflage dieses Buches geschrieben – ohne dass irgendjemand eingefallen wäre, mich deshalb wegen übler Nachrede zu verklagen -, dass das Gutachten des Generalstaatsanwalts und das Urteil des Gerichtshofes eine widerliche Rechtsverdrehung darstellten."

    Und damit ist eine weitere Facette dieses Buches und dieser Affäre angeschnitten – die Möglichkeiten nämlich, unter denen dieses Buch überhaupt entstehen und veröffentlicht werden konnte. Auch das beschreibt der Verfasser sehr detailliert, wie eine Art von Selbstvergewisserung über den Weg, auf den ihn seine Untersuchungen geführt haben. Zum einen habe er selbst dadurch erfahren, was Journalismus sein könne, wenn es um etwas Dringliches gehe – und zum anderen gesteht er den Militärs unter Aramburu zu, dass all das zu schreiben und zu veröffentlichen immerhin möglich gewesen sei – unter Peron wäre das undenkbar gewesen.
    Dennoch:

    "Ich bin (...) nicht länger ein Parteigänger der Revolution, die ich – wie viele – für eine der Freiheit verpflichtete gehalten habe.
    Hingegen weiß ich genau, dass ich unter der Regierung Perón ein Buch wie dieses nicht hätte veröffentlichen können, genauso wenig wie die Artikel, die ihm vorangegangen sind, ja, dass ich die von Polizeikräften begangenen Verbrechen, die auch schon damals vorgekommen sind, nicht einmal ansatzweise hätte recherchieren können. In diesem Punkt haben wir uns immerhin verbessert."

    Damit beginnt die Radikalisierung von Rodolfo Walsh. In die folgenden Auflagen seines Buches, soweit er sie noch erlebt, schreibt er seine Enttäuschung mit hinein; weitere ähnliche Projekte folgen; seine besten Kurzgeschichten werden von da an aus diesem Geiste gespeist sein.

    Er habe das Grauen vor jeder Art von Revolution mit seinem Buch hervorrufen wollen, erklärt er auch, denn deren Opfer seien zuallererst immer unschuldige Menschen. So wie die Toten von San Martin oder der Rekrut, den er am Abend des 9. Juni selber sterben sieht. Nur ein Schwachsinniger sei fähig, sich nicht nach dem Frieden zu sehnen.
    Aber:

    "(...) der Friede ist nicht um jeden Preis zu akzeptieren."

    Und daraus wird eine grundsätzliche Abrechnung mit der Regierung Aramburus, der die Schuldigen schließlich sogar befördert und die Verbrechen niemals sühnen lässt. Rodolfo Walsh analysiert die Ereignisse zuletzt vor allem als eine Frage von Klasseninteressen und von einer Form der Gewalt, die sich immerdar fortzeugen wird:

    "(Als) Vollzieher einer nach Klasseninteressen gehandhabten Politik, deren Fundament – die Ausbeutung – für sich genommen unmenschlich ist und deren grausame Episoden aus diesem Fundament sprießen wie Gräser aus einer Wiese, eignet sich Aramburu gut dazu, die Kluft zwischen den abstrakten Ideen und den konkreten Taten bei den Angehörigen seiner Klasse zu studieren: das Böse, das er getan hat, waren die Taten, und das Gute, das er gedacht hat, ein spätes Erschaudern des bürgerlichen Gewissens.

    Das Junimassaker zeigt die Perversion dieses Regimes, die sich aber darin nicht erschöpft. Die Regierung Aramburu hat Tausende Arbeiter eingesperrt, jeden Streik niedergeschlagen, die gewerkschaftlichen Strukturen verwüstet. Die Folter hat massenhaft zugenommen und sich über das ganze Land ausgebreitet. (....) Ein großes soziales Reformwerk ist zerstört worden (...). Der liberale Humanismus auf dem Weg zurück ins Mittelalter: selten hat man hier solchen Hass gesehen, selten sind einander in dieser Schärfe zwei soziale Klassen gegenübergestanden."

    Wollen die Menschen so etwas überhaupt wissen? Ist ein Übermaß an Einsicht in die Ungerechtigkeiten den Menschen überhaupt zuträglich? Auch solche Fragen stellt Rodolfo Walsh sich immer wieder. Vor allem aber beschreibt er sich selbst zuletzt als gescheitert. Zwar sei es "ein Sieg" gewesen, die anfangs so verwirrend erscheinenden Vorfälle aufklären zu können, alles in allem aber habe er verloren, denn die Regierung habe niemals, und sei es auch nur aus dem Munde eines ihrer niedersten Vertreter, zugegeben, dass im Namen der Republik Argentinien dieses Verbrechen begangen worden sei. Was bleibt, ist der Sieg über die eigene Angst:

    "Es war ein Sieg, mich nicht von der Angst beherrschen zu lassen, die mir vor allem zu Beginn einigermaßen heftig zugesetzt hat, und es zu schaffen, dass auch diese Männer nicht der Angst erlagen, obwohl sie diesbezüglich Erfahrungen gemacht haben, die ich nie teilen werde.
    (...)
    Der Fall dauert schon lange nicht mehr an, er ist bestenfalls ein Stück Geschichte, dieser Fall ist tot."

    20 Jahre später, nach einem weiteren peronistischen Zwischenspiel und unter einer neuerlichen Militärdiktatur wird Rodolfo Walsh selbst das Opfer sein; und heute, noch mal mehr als 30 Jahre später, steht sein Bericht auf eigenartige Weise erratisch in der literarischen Landschaft: Als engagierte Literatur in dem traditionellen Sinne der Zeit seiner Entstehung, als ehemals gewagtes literarisches Experiment. Aber natürlich auch als ein Denkmal, vor dem nicht mehr jeder automatisch vor Ehrfurcht erstarrt. Jüngere argentinische Schriftsteller haben mittlerweile bei der Aufarbeitung der Gräuel der Diktatur von 1976 bis 1982 andere Tonlagen der Annäherung und Beschreibung erprobt, man muss nur beispielsweise an Martin Kohans Romane denken, an Felix Bruzzone oder an Thomas Eloy Martinez. Ein "enfant terrible" der jungen Szene, Washington Cucurto, hat sich sogar nicht gescheut, in einer seiner eigenen Erzählungen Rodolfo Walshs Literatur als langweilig abzutun.

    Aber das ist kein haltbares Urteil vor der Geschichte – und will es wahrscheinlich auch gar nicht sein. Solche provokanten Absetzbewegungen von Vätergenerationen kennt jede Literatur, wir kennen sie auch in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie ändern nichts an der Leistung Rodolfo Walshs oder daran, wie komprimiert in diesem einen Buch und in diesem einen Schicksal das ganze argentinische 20. Jahrhundert gebündelt erscheint.

    Rodolfo Walsh: Das Massaker von San Martin. Ein Bericht.
    Neuübersetzung aus d. Span. von Erich Hackl,
    Rotpunktverlag, Zürich Juli 2010, 260 Seiten