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Don DeLillo: "Null K"
Stadt der lebenden Toten

Milliardär Ross Lockhart finanziert ein geheimes Unternehmen, das den Tod abschaffen will. Menschliche Körper werden tiefgefroren, um in ferner Zukunft ins Leben zurückgeholt zu werden. Don DeLillo macht es seinen Lesern nicht immer einfach, doch sein Roman "Null K" ist ein beeindruckendes Alterswerk.

Von Ulrich Rüdenauer | 06.11.2016
    Der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo.
    Der amerikanische Schriftsteller DonDeLillo wird am 20. November 80 Jahre alt. (picture alliance / dpa / Arno BurgiSebastien Nogier)
    Falls Schreiben eine konzentrierte Form des Denkens ist, sagte Don DeLillo einmal, dann endet das konzentrierteste Schreiben wahrscheinlich damit, auf die ein oder andere Art und Weise den Tod zu reflektieren. Genau das sei es, womit wir zwangsläufig konfrontiert würden, wenn wir nur lang und intensiv genug nachdächten.
    Diese Sätze stammen aus einem Interview mit der Paris Review; sie sind gut 25 Jahre alt. Und obwohl Don DeLillo in seinem Werk niemals vor letzten Gedanken und Fragen ausgewichen ist, der Tod sich leitmotivisch durch sein Oeuvre zieht, scheint diese Interviewpassage doch punktgenau auf sein jüngstes Buch zu zielen: "Null K" ist – mehr noch als etwa der Roman "Weißes Rauschen" aus dem Jahr 1985 – eine ultimative Reflexion des Endes, ein Buch über die Wiedergeburt der Transzendenz aus dem Geist des technologischen Machbarkeitsglaubens, eine philosophische Reflexion im Gewand eines Science-Fiction-Romans. "Null K" ist weder Dystopie noch Utopie, sondern irgendetwas dazwischen.
    "Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben. Das sagte mein Vater, als er an den Sprossenfenstern seines New Yorker Büros stand – Vermögensverwaltung, Privatanleger und Familienstiftungen, Schwellenmärkte. Wir erlebten einen seltenen Augenblick gemeinsam, Kontemplation, abgerundet von seiner Klassiker-Sonnenbrille, die die Nacht hereinholte. Ich betrachtete die Gemälde im Raum, eines abstrakter als das andere, und begriff langsam, dass das einsetzende lange Schweigen weder ihm noch mir gehörte. Ich dachte an seine Frau, die zweite, die Archäologin, deren Geist und versagender Körper bald planmäßig davonschweben würden ins Nichts."
    Reise in die Zukunft
    So beginnt DeLillos neuer, in der Übersetzung von Frank Heibert nun auf Deutsch vorliegender Roman. Es sind diese kühlen, in verborgene Gefühlsschichten vorstoßenden Sätze DeLillos, die uns auf eine Reise in die Zukunft schicken, in der zumindest einige wenige das Ende der Welt in der Hand haben könnten. Der Ich-Erzähler Jeffrey ist der Sohn eines unvorstellbar reichen Mannes, eines Self-Made-Man, der nicht nur ein wirtschaftliches Imperium, sondern auch sich selbst aus eigener Kraft erschaffen hat. Dieser Milliardär war als Nicholas Satterswaite auf die Welt gekommen – und wird sie als Ross Lockhart verlassen.
    "Ich begriff, wie verlockend ein erfundener Name ist, durch den jemand von einem Schatten-Ich zu einer schillernden Fiktion aufblühen kann. Aber das war der Ansatz meines Vaters, nicht meiner. Der Name Lockhart war für mich grundfalsch. Zu eng, zu angespannt. Der solide, entschlossene Lockhart, das Feste, Abschließende von Lockhart. Der Name schloss mich aus. Ich konnte höchstens von draußen hineinspähen. So sah ich die Sache, als ich hinter meiner Mutter stand und mir in Erinnerung rief, dass sie bei ihrer Heirat den Namen Lockhart nicht angenommen hatte."
    Bedeutungsvolle Namen
    Der Name ist – wie so oft bei DeLillo – besetzt, bedeutungsschwer, ein Schlüssel manchmal, hier: ein unknackbares Schloss. Lockhart. Vater und Sohn könnten gegensätzlicher nicht sein; sie stehen sich gegenüber wie zwei Prinzipien. Der eine nimmt die Welt wahr als etwas Formbares, ihm Unterworfenes oder besser: zu Unterwerfendes; er erfindet sich selbst. Der andere, der Ich-Erzähler, sein Sohn Jeff, beobachtet und betrachtet, versucht schlicht, von seinen Eindrücken nicht überwältigt zu werden.
    Jeff wahrt zum Selbstschutz eine merkliche Distanz zu seiner Umwelt, und diese Distanz hat ihre Entsprechung in DeLillos sprödem, künstlich wirkendem Stil: Man fröstelt immer ein wenig, wenn man diesen oft als prophetisch gepriesenen, kultisch verehrten Autor liest, sich mitten hineinbegibt in seine abgründigen Szenerien. Nicht umsonst trägt DeLillo den Ehrentitel "Chefschamane der Paranoia-Schule der amerikanischen Literatur". Die New York Review of Books hat ihm dieses Attribut einst verliehen; er wird es nicht mehr los, auch nicht mit seinem neuen Buch, in dem es im wahrsten Sinne des Wortes noch ein bisschen kälter zugeht, als wir es von DeLillo ohnehin gewohnt sind.
    Vater und Sohn also, skrupelloser Eroberer der eine, lethargischer Zuschauer der andere – eine archetypische Konstellation, allerdings in einem Setting, das ein paar Zentimeter jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.
    Unterschwelliger Vater-Sohn-Konflikt
    Unterschwellig zieht sich der klassische Vater-Sohn-Konflikt, die Frage nach Erbe und Herkunft durch diesen Roman und seine unwirklichen Räume, die wir gleich auf den ersten Seiten durchstreifen oder besser: in all ihrer Fremdheit mit den Augen Jeffs abtasten. Ross bestellt seinen Sohn ein, lässt ihn per Flugzeug an einen verwunschenen Ort kommen. Es ist eine jener entlegenen DeLillo-Stätten, eine Wüste, Einöde, in diesem Fall irgendwo in den ehemaligen Sowjetrepubliken.
    Die nächste größere Stadt soll Bischkek sein, die Hauptstadt von Kirgistan, gelegen jenseits der Grenze. Almaty in Kasachstan ist noch ein bisschen weiter weg. Wenn man erst einmal die Ortsnamen kenne und wisse, wie man sie schreibe, sagt der Vater in dieser selbstsicheren Art zu seinem Sohn, fühle man sich weniger fern von allem. Dieses Gefühl aber, fern zu sein von allem, beschleicht nicht allein Jeff, sondern auch den Leser im ersten Teil dieses Triptychons. Nicht nur die Namen sind fremd, die Art und Weise, wie wir durch die Gegend geführt werden ist es ebenfalls. Einladend sind diese entlegenen Orte ebenso wenig wie die Sätze DeLillos. Sie wirken steril; als hätte er sie immer wieder poliert, damit sie nur keine Sentimentalität oder Heimeligkeit beim Lesen erwecken. Man kommt schwer hinein in dieses Buch, erfährt seine Stimmung als bedrückend und faszinierend zugleich, ein bisschen so, als würde man durch einen Tarkowski-Film spazieren.
    "Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, ein langer, langsamer Scan über Salzwüste und Geröll, über Leere, abgesehen von ein paar flachen, vielleicht verbundenen, kaum von der ausgebleichten Landschaft zu unterscheidenden Gebäuden. Sonst nichts, nirgendwo. Wie der Ort genau aussah, wo ich hinwollte, war mir nicht klar gewesen, nur wie abgelegen er war."
    Abschaffung des Todes
    Aus dem Nichts ersteht eine Stadt, das Herz einer neuen Metropole oder vielleicht doch eher ein riesiges Mausoleum, nicht zuletzt erbaut mit den erheblichen finanziellen Mitteln, die der Milliardär Ross und seinesgleichen aufwenden. Seriöse Männer mit seriösem Geld, wie es einmal heißt. Mediziner, Sozialtheoretiker, Biologen, Futuristen, Genforscher, Klimatologen, Neurowissenschaftler, Psychologen und Ethiker sind hier zusammengezogen worden, um an der Abschaffung des Todes zu arbeiten. Die Unternehmung trägt den technokratischen Namen "Konvergenz" – das Wissen und die letzten Wünsche der Menschen fügen sich hier zusammen, bündeln sich auf ein gemeinsames Ziel hin: die Unsterblichkeit. Man scheint dieser Utopie gar nicht so fern: Kryostase heißt das Zauberwort. Menschen werden tiefgefroren, um irgendwann von einer zukünftigen Medizin von ihren Leiden geheilt und ins Leben zurückgeholt zu werden.
    "Die Führerin erläuterte den Begriff Null K. Sie servierte uns einen routinierten Vortrag mit inszeniertem Stop-and-go, rund um eine Temperatureinheit namens absoluter Nullpunkt, der bei minus zweihundertdreiundsiebzig Komma eins fünf Grad Celsius liegt. Ein Physiker namens Kelvin wurde erwähnt, für ihn stand das K in dem Begriff. Der interessanteste Teil ihrer Ausführungen besagte, dass die Temperatur während der Kryostase gar nicht auf den absoluten Nullpunkt sinkt. Der Begriff war also pure Dramatik (…)."
    Wahrer Kern der Geschichte
    Reine Science-Fiction ist das, was DeLillo uns hier auftischt, nicht: Die in den USA wirklich existierende Alcor Life Extension Foundation betreibt nämlich in Arizona ein gemeinnütziges Institut, in dem bereits ein paar hundert Menschen auf Eis liegen und auf ihre Wiedergeburt warten. Woody Allen hat sich über solche Konservierungsgespinste bereits in den siebziger Jahren lustig gemacht, als er seinen "Sleeper" nach 200 Jahren künstlichen Tiefschlafs in einer ziemlich absurden Zukunft zu sich kommen ließ. DeLillos High-Tech-Kryostase-Klinik ist freilich weniger lustig als Woody Allens Slapstick-Komödie und weitaus visionärer als die Alcor Life Extension Foundation: In den kasachischen Outskirts geht es um mehr als um ein medizinisches Versuchslabor; eher um die Installation einer neuen Metropole, eines unabhängigen Staates voller Untoter, einer neuen spirituellen Gemeinschaft.
    "Technologie, die auf Glauben baut. Darum geht es. Ein anderer Gott. Gar nicht so anders, zeigt sich, als manche der früheren Götter. Nur dass er echt ist und wahr, er liefert."
    Was dieser Gott des Fortschritts allerdings liefert und wie das der Menschheit bekommen mag, steht auf einem anderen Blatt oder besser: zwischen den Zeilen von DeLillos Roman. Es sind weitreichende Fragen, die sich stellen und die auch Jeff umtreiben: Welcher Zukunft werden die Tiefgefrorenen entgegenkühlen? Welche neuen Generationen werden über sie wachen? Wird man sie eines Tages neu programmieren – mit einer neuen Sprache ausstatten, wie die Anhänger der Kryostase begeistert hoffen, mit neuen Gedanken? Haben diese dereinst wieder zum Leben zu erweckenden Puppen überhaupt noch etwas mit ihrem früheren Ich zu tun, das ja nicht nur aus körperlichen Funktionen besteht, sondern aus Ideen, Erinnerungen, Gefühlen? Wann wird wohl aus utilitär totalitär?
    Folgen der Überwindung des Todes
    Ob der Tod nicht ein Segen sei, weil er von Minute zu Minute, von Jahr zu Jahr den Wert unseres Lebens bestimmte, wird hier einmal ketzerisch in den Laborraum geworfen. Tatsächlich ist das die entscheidende Pointe dieses Romans: Die Überwindung des Todes wäre zugleich das Todesurteil für unsere Energien und Hoffnungen; sie hätte vermutlich eine "Kultur der Lethargie und Disziplinlosigkeit" zur Folge.
    Eine absurde Vorstellung, eine merkwürdige Paradoxie. Die ahistorischen Menschen mit ihrer neuen Sprache, von denen Ross träumt, sie sind zugleich ein Alptraum. Was in DeLillos Roman beschrieben wird, sind Menschenversuche, die vermeintlich dem Fortschritt dienen und über alle ethisch-moralischen Voraussetzungen hinwegsehen.
    Jeff registriert dieses Unbehagen; er formuliert es immer einmal wieder, aber mit dieser Zurückgenommenheit und Distanziertheit, die bereits vielen Helden DeLillos zu eigen waren. Fast hat man den Eindruck, der Erzähler sei schon resigniert angesichts dessen, was möglich scheint, was um ihn herum geschieht. "Alles fällt unauslöschlich der Vergangenheit anheim", lautet einer der prägnanten Sätze in DeLillos Opus magnum "Unterwelt". Literatur zu schreiben heißt, die Vergangenheit gegenwärtig zu machen, sich zu erinnern, Bezüge herzustellen. Für die Tiefgefrorenen hingegen wird es keine Vergangenheit geben; höchstens eine, die ihnen als Chip implantiert werden könnte.
    Glaube an kaufbare Ewigkeit
    Ross Lockhart glaubt an die Ewigkeit, eine Ewigkeit, die sich kaufen lässt. Er kann sich alles leisten, außer Zweifel. Seine zweite Frau Artis, die Stiefmutter von Jeff, eine Archäologin, ist unheilbar krank. Ross‘ Liebe zu ihr und seine Trauer erzeugen eine unzerstörbare Zuversicht, die von Artis geteilt wird.
    "'Aber das ist nicht das Ende der Geschichte, oder?' Die Frage gefiel ihr. 'Nein, ist es nicht.' 'Wird es wieder geschehen?' 'Ja, genau. Darüber grübele ich nach. Dann wird ein klinisches Musterbeispiel aus mir. Über die Jahre wird es Fortschritte geben. Teile des Körpers werden ersetzt oder nachgebaut. Achte auf den dokumentarischen Ton. Ich habe mit Leuten hier geredet. Eine Wiederzusammensetzung, Atom für Atom. Ich glaube fest daran, dass ich mit einer neuen Wahrnehmung der Welt wiedererwachen werde.' 'Der Welt, wie sie wirklich ist.' 'Zu einer Zeit, die gar nicht so fern sein muss. Und darüber denke ich nach, wenn ich mir die Zukunft vorstelle. Wiedergeboren werden in eine tiefere und wahrere Wirklichkeit. Linien aus strahlendem Licht, jedes Stück Materie in seiner Gänze, ein heiliger Gegenstand.'"
    Das ist ein Glaubensbekenntnis. Die Lichtmetapher verbindet auf kürzestem Weg älteste religiöse Epiphanievorstellungen mit utopischer Technologieseligkeit. DeLillo, der in seinen Romanen schon immer als Seismograph gesellschaftliche Veränderungen und katastrophische Entwicklungen aufgezeichnet hat, entlarvt hier nicht zuletzt die Zukunftsvisionen heutiger Mogule: Wollen nicht auch die Gründer von Google, Facebook & Co. mit ihren ungeheuren finanziellen Mitteln und ihrem unbedingten Vertrauen in die digitale Wissensvernetzung den Tod abschaffen?
    Forschungsinstitute, die von diesen Wirtschaftsunternehmen gegründet werden, arbeiten am medizinischen Fortschritt. Niemand, der sich mit Avataren durch virtuelle Räume bewegt, der die gesamte Welt auf einem Smartphone in der Hosentasche bei sich trägt oder in Sekundenbruchteilen Millionen von Antworten auswerten kann, mag sich damit abfinden, dass er einen hinfälligen, unkontrollierbaren Körper hat. Auf bestürzende Weise aber wird bei DeLillo auch deutlich, dass diese religiös aufgeladene Unsterblichkeitsfantasie keine tiefere Dimension besitzt: Die Konsequenzen nicht nur für die eines Tages Wiedererweckten, sondern auch für unser heutiges Leben spielen hier keine Rolle.
    Geister aus einer anderen Zeit tauchen auf
    Nur ein paar Geister aus einer anderen Zeit tauchen zuweilen in der "Konvergenz" auf; sie erscheinen wie Fremdkörper oder verlorene Wesen – ein abgehalfterter Mönch etwa, der durch die endlosen Gänge schleicht und sich mit Jeff unterhält. Das ganze Projekt erinnere ihn, sagt der Mönch, an das Jerusalem des zwölften Jahrhunderts, wo sich ein Ritterorden um die Pilger kümmerte. Manchmal stelle er sich vor, er ginge inmitten von Lepra- und Pestkranken umher. So klinisch rein alles erscheinen mag, so archaisch also ist diese Unternehmung. Als befände sich die "Konvergenz" auf einem anderen Planeten mit eigenen Gesetzen.
    Die todkranke Artis unterzieht sich der Kryostase. Man weiß nicht genau, in welchem Zustand sie sich fortan befindet – ist sie in einer Art Koma, einem Zwischenreich? DeLillo hat eine fast gespenstische Szene gestaltet, um dieses Zwischen zu markieren. Es ist ein Interludium, die Mitteltafel des Triptychons dieses mit religiösen Topoi spielenden Romans: Artis‘ Monolog, gesprochen wie im Wachtraum oder in jener Grauzone zwischen Diesseits und Jenseits.
    "Aber bin ich wer ich war. Immer weiter. Geschlossene Augen. Körper einer Frau in einer Hülse."
    So endet die Aneinanderreihung von Gedankensplittern eines schwindenden Bewusstseins. Das Buch endet damit nicht: Jeff kehrt nach New York zurück. Er ist dort zusammen mit seiner Geliebten Emma und deren Sohn, ihrem ukrainischen Adoptivkind. Aber Jeff bewegt sich durch seinen Alltag und den Alltag einer Millionenstadt wie einer, der schon einen Blick in die Zukunft werfen konnte. Alles ist verschattet, merkwürdig gedämpft, verlangsamt und zugleich für den Leser geradezu erholsam: Das gibt es also doch noch, Straßen, Museen, Leben – Wirklichkeit!
    Lange dauert dieses Intermezzo in New York allerdings nicht. Eines Tages eröffnet ihm sein vom Schmerz gebrochener Vater, dass er – körperlich zwar ganz gesund – seiner Frau Artis nachfolgen wolle. Er hatte diese Absicht schon früher geäußert, nun macht er seinen Plan wahr.
    "Ich dachte daran, was mein Vater einmal zur Lebensspanne des Menschen gesagt hatte, der Zeit, die wir lebendig verbringen, buchstäblich von einer Minute zur anderen, Geburt bis Tod. Eine so kurze Spanne, hatte er gesagt, dass wir sie in Sekunden messen könnten. Und genau das hätte ich gern getan, sein Leben ausgerechnet, bezogen auf das Intervall namens Sekunde, eine Sechzigstelminute.
    Was würde mir das sagen? Es wäre ein Marker, die letzte Zahl in einer geordneten Folge, die man neben die willensstarken Gezeiten seiner Tage und Nächte setzen könnte, wer er war und was er gesagt hatte, alle Erledigungen und Entledigungen. Eine Art Gedenkemblem vielleicht, etwas, das man ihm beim letzten Aufblitzen seines Bewusstseins zuflüstern könnte. Aber nun kam die Tatsache hinzu, dass ich gar nicht wusste, wie alt er war, wie viele Jahre, Monate und Tage ich in eine hohe Anzahl von Sekunden umwandeln sollte."
    Die Rückkehr in die Stadt der lebenden Toten am Ende des Romans demonstriert noch einmal deutlicher, dass die Konvergenz" nicht nur eine Auflösung der Zeit, der Gegenwart bedeutet. Sondern in ihrer Künstlichkeit den Charakter eines Kunstobjekts annimmt. Die Menschen, sagte Artis vor ihrer Verwandlung, kommen und gehen, bleiben und warten. Eine Durchgangsstation. Alleine die Kunst, nicht für ein Publikum gemacht, sei fest, "ein Teil des Fundaments, in Stein gemeißelt". In der Tat erscheint diese kasachische Krypta wie ein riesiges Museum. Wände sind bemalt; es gibt unendlich viele Türen, die ins Nichts führen; ein menschlicher Schädel, dessen Augenhöhlen mit Edelsteinen besetzt sind, erinnert an ein Objekt von Damien Hirst; in den labyrinthischen Gängen hängen Bildschirme, die katastrophische Bilder zeigen, verfremdete Videokunst menschlichen Leids, wie sie einem auch in hippen New Yorker Galerien begegnen könnte.
    Die Videos in "Null K" dienen nicht nur dazu, die Grausamkeit der Welt mit der gespenstischen Friedlichkeit der "Konvergenz" zu kontrastieren. Die Bilder scheinen vielmehr den Kunstcharakter des gesamten Projekts zu betonen; die Übergänge werden fließend.
    Kunst und Tod
    Noch bevor er überhaupt eine Zeile geschrieben habe, erinnerte sich einmal sein Lektor, habe Don DeLillo zwei Ordner für Bilder angelegt. Der eine trug den Titel "Kunst", der andere "Terror". Kunst und Terror, Kunst und Tod liegen auch hier, wie in vielen Romanen DeLillos, nah beieinander. Die todgeweihte Artis – man beachte den sprechenden Namen – empfindet die "Konvergenz" selbst als großes Kunstprojekt.
    "Menschliche Körper in Reihen schimmernder Hülsen, ich musste stehen bleiben, um zu verarbeiten, was ich da sah. Serien, Folgen, lange Ketten nackter Männer und Frauen im Kälteschlaf. Sie wartete auf mich, und wir gingen näher heran, aus dieser Höhe hatte man einen guten Blick auf alles. Alle Hülsen zeigten in dieselbe Richtung, Dutzende, nein, Hunderte, und unser Weg führte uns mitten durch diese strukturierten Reihen. Die Körper waren auf einer riesigen Grundfläche angeordnet, Menschen verschiedener Hautfarbe in gleichförmiger Haltung, mit geschlossenen Augen, verschränkten Armen, zusammengepressten Beinen, keine Spur überschüssiges Fleisch."
    Das hat eine skulpturale Anmutung, "Körperkunst" – eine Kunst ohne Moral freilich, eine vollkommene und schreckliche Kunst, die an medizinische Menschenversuche erinnert, an Gruselkabinette, an ein leicht upgedatetes Mumiengrab. Angesichts technologischen Fortschritts erscheine alles ein bisschen atavistisch, sagte DeLillo einmal. Dieses Puppenheim liefert uns davon eine Vorstellung.
    Entwertung des Lebens
    Ein amerikanischer Kritiker schrieb, "Null K" handele nicht von der Angst vor dem Sterben, sondern vielmehr von der Angst vor dem Leben. Das ist nicht ganz richtig: Der Roman handelt eher davon, dass Tod und Leben in modernen Gesellschaften nicht mehr aufeinander bezogen werden. Ein Bewusstsein vom Leben lässt sich jedoch nur erlangen, wenn man sich der Endlichkeit bewusst ist. Eine banale Erkenntnis, die sich zusehends aufzulösen scheint. "Die Konvergenz" entwertet das Leben. Das ist eine düstere Diagnose, die vielleicht das Krisenhafte unserer Zeit präziser fasst als so manche politische Lagebeschreibung. DeLillo wählt dafür ein Schreiben, das geradezu kontemplativ ist. Er führt uns Satz für Satz hinein ins Ungewisse. Das Dunkle wird nicht ausgeleuchtet, es wird in seiner Dunkelheit offenbar.
    Was bleibt? Die Kunst, die nichtflüchtige Kunst, wie Artis einmal sagt. Und es bleibt ein leuchtendes Schlussbild in Don DeLillos düsterem Roman: Dieses Bild, eine Straßenszene in New York, führt die hochschwebenden, transhumanistischen Ideen, die in "Null K" evoziert werden, ins Menschliche zurück, bricht und transzendiert sie auf gewisse Weise: eine gleißende Sonne, die ihre Strahlen mit "unheimlicher Präzison zwischen den Hochhausreihen balancierte", genau entlang der Straßenachsen Manhattans verlaufend. Auch das ist eine Art Epiphanie. Aber sie steht auf der Seite des Lebens, das vom Tod weiß.
    DeLillo wird am 20. November 80 Jahre alt. "Null K" ist sein sechzehnter Roman, in dem Motive und Themen seines Oeuvres noch einmal gespiegelt werden. Man kann diesen Roman aufgrund seiner Konsequenz, den glatten Oberflächen und der heruntergekühlten Sprache verehren; ihn unumwunden zu lieben, fällt nicht gar so leicht. Gerade das aber – das Sperrige, Spröde, Unheimliche – macht ihn zu einem beeindruckenden Alterswerk.
    Don DeLillo. "Null K."
    Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 280 Seiten, 20 Euro.