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Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen?

Ob Alkohol oder Kokablätter, Schokolade oder Koffein - seit der Mensch denken kann, manipuliert er sein Gehirn. Sei es zur Entspannung oder zur Steigerung der Wachheit und Konzentration. Jahrtausende werkelte er dabei unbeholfen in seiner Hirnchemie herum. Jetzt, mit der modernen Wissenschaft, werden die Vorgänge im Hirn immer weiter entschlüsselt, Präparate entwickelt, die immer gezielter auf einzelne kognitive Prozesse eingreifen können. Und sie wecken Begierden. Nicht nur Stimulantien und Drogen, auch Medikamente finden zunehmend den Weg in unsern Alltag. Wird in einigen Jahren der chemisch optimierte Mensch die Oberhand gewinnen?

Von Peter Podjavorsek | 05.05.2005
    Dezember 1987. Das Antidepressivum Prozac kommt in den Vereinigten Staaten auf den Markt. Nach zwanzig Jahren Forschung ist es dem Hersteller Eli Lilly endlich gelungen, ein Mittel gegen Depressionen zu entwickeln, das relativ wenige Nebenwirkungen hat. Nicht nur Kranke sind von der neuen Pille begeistert. Innerhalb kurzer Zeit avanciert Prozac zur regelrechten Lifestyle-Droge für Millionen Amerikaner: von der Hausfrau bis zum Manager.

    " Es brauchte einige Zeit, aber dann wurde es sehr populär. Es gab Titelgeschichten in Zeitschriften. Und heute nimmt es fast jeder. Mindestens die Hälfte meiner Bekannten nimmt Prozac, oder etwas Ähnliches. "

    Das Medikament bekämpft nämlich nicht nur krankhafte Depressionen. Diese zeichnen sich häufig durch einen Mangel an Serotonin aus, einem Botenstoff im Gehirn, und Prozac gleicht diesen aus. Ein erhöhter Serotoninspiegel hellt allerdings auch bei gesunden Menschen die Stimmung auf, gibt ihnen mehr Selbstvertrauen, Offenheit und Lebensfreude.

    In den USA entsteht eine regelrechte 'Generation Prozac’. Für sie wird zunehmend selbstverständlich, mit Medikamenten alle möglichen Schwierigkeiten des Alltags zu bekämpfen: sei es Frust über eine kaputte Beziehung oder Stress bei der Arbeit. Nicht jeder ist mehr seines eigenen Glückes Schmied – so die neue Denkweise –, sondern Produkt einer chemischen Balance. Und wenn die durcheinander gebracht ist: Warum sie dann nicht durch Mittel wie Prozac wieder in Ordnung bringen und optimieren? Unangenehme Nebeneffekte werden dafür schon mal in Kauf genommen. Peter Cohn, in New York lebender Drehbuch-Autor.

    " Das große Problem bei all diesen Glückmachern: sie beeinträchtigen das Sexualleben. Andererseits ist man aber auch so glücklich, dass man ohnehin keinen Sex will. "

    Doch die Glückspille verliert an Attraktivität. Neuere Präparate drängen auf den Markt. Auch sie steigern die Leistung und das Wohlbefinden, haben aber weniger Begleiterscheinungen. Peter Cohn stieß vor einigen Monaten auf ein solches Medikament: Provigil.

    " Ich hatte Schwierigkeiten, tagsüber wach zu bleiben. Immer zwischen drei und vier Uhr nachmittags bin ich eingeschlafen, wohl als Nebenwirkung eines anderen Medikaments. Mein Arzt hat mir deshalb Provigil verschrieben. Und dann zeigte sich, dass ich damit nicht nur wach blieb, sondern auch mehr Energie hatte, mich besser konzentrieren konnte und sogar ein wenig euphorisch wurde. Was natürlich eine nette Sache ist. "

    Und das ohne irgendwelche unangenehmen Nebenwirkungen. Ursprünglich wurden Provigil und dessen Wirkstoff Modafinil gegen Narkolepsie entwickelt. Bei dieser Krankheit werden die Betroffenen von unkontrollierbarer Schläfrigkeit und Schlafattacken befallen – bei der Autofahrt, im Büro oder mitten im Gespräch. Modafinil beeinflusst die Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter im Schlaf-Wachzentrum des Gehirns und ersetzt so genannte Orexine, Botenstoffe, die Narkoleptikern fehlen.

    Inzwischen ist Modafinil für mehrere Formen von krankhaften Schlafstörungen zugelassen. Nun will der Hersteller Cephalon noch einen Schritt weiter: die Behandlung von Schichtarbeitern, die unter Schlafstörungen leiden. Die ersten Studien sind überzeugend, doch nicht unumstritten. Der Schlafforscher Ingo Fietze von der Charité Berlin.

    " Eigentlich sind wir die Verfechter: Schichtarbeit stört den gesunden Schlaf-Wach-Rhythmus. Es ist ganz klar, dass über 80 Prozent aller Schichtarbeiter Schlafstörungen bekommen. Aber die Gesellschaft lässt es nun mal nicht zu, solchen Patienten zu raten: Hören Sie auf mit Schichtarbeit, wenn Sie sensiblen Schlaf haben. So dass in der Tat nur übrig bleibt, den Patienten zu helfen, einen annähernd erholsamen Schlaf zu bekommen. Mit Schlafhygiene oder mit schlafunterstützenden Maßnahmen, oder vielleicht auch mal mit Modafinil zu helfen. "

    Die Wachmacher-Pille hilft aber nicht nur Personen mit Schlafstörungen auf die Beine. Auf völlig gesunde Menschen können auf fast wundersame Weise von Modafinil profitieren. Kurze Zeit nach der Markteinführung 1998 in den USA führt das kanadische Militär Versuche mit Hubschrauberpiloten durch. Drei Tage und zwei Nächte arbeiten die Soldaten unter völligem Schlafentzug hindurch. Die Effekte sind beeindruckend: Unter dem Einfluss von Modafinil bleibt die Fähigkeit der Soldaten zu logischem Denken, ihr Kurzzeitgedächtnis sowie ihre Reaktionsbereitschaft in großem Maße erhalten. Selbst nach der 40. Arbeitsstunde sind die Probanden noch topfit und machen keine ermüdungstypischen Fehler.

    Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen oder Nervosität tauchen nur in seltenen Fällen auf. Und im Gegensatz zu anderen Wachmachern wie Koffein oder Amphetaminen wirkt es nur im Gehirn, nicht aber auf das autonome Nervensystem, das etwa die Herzfrequenz oder die Ausschüttung von Stresshormonen regelt. Und wer Modafinil nur tagsüber einnimmt, ist dann geistig topfit. Der nächtliche Schlaf bleibt dagegen praktisch unbeeinflusst.

    Trotzdem warnen zahlreiche Schlafforscher, den Alltag bedenkenlos mit dem Wachmacher zu optimieren. Ingo Fietze.

    " Das hört sich tatsächlich erst mal nach einer Wunderdroge an. Wobei man sagen muss: Es gibt mit Modafinil erst Erfahrungen seit wenigen Jahren. Und wir wissen nichts über Langzeitnebenwirkungen dieses Medikaments, wenn man das ständig nimmt. "

    Und die Gesetze der Biologie wird auch Modafinil nicht aushebeln können.

    " Eine kurze Schlafzeit, wenn ich sie mir, aus welcher Situation auch immer, gönnen möchte, über einen längeren Zeitraum, nimmt der Körper irgendwann übel. Wir wissen heute, das ist individuell sehr unterschiedlich: Eine Person braucht eine durchwachte Nacht, um danach fix und alle zu sein. Andere können dieses Spielchen viel länger treiben, über ein, zwei, drei Wochen oder länger. Und dann baut sich halt langsam eine Schlafschuld auf, die dann aber irgendwann zum Einbruch führt, wo der Körper sich dann den nötigen Schlaf holt. "

    Ob sich die '24-Stunden-Gesellschaft’ von solchen Bedenken abhalten lassen wird, mag bezweifelt werden. Denn ein Präparat, das fast ohne Nebenwirkungen die Wachheit und Konzentrationsfähigkeit boostet – darauf warten Manager, Studenten oder Künstler schon lange.

    " Ich bin Autor. Und so verbringe ich den ganzen Tag in meinem Büro und versuche zu schreiben. Die Gefahr bei dieser Tätigkeit: Man lässt sich sehr leicht ablenken. Oder legt sich mal eben für ein Nickerchen auf den Boden. Und dieses Medikament machte mich produktiver. Es half mir beim Schreiben und Denken. "

    In Deutschland fällt Modafinil unter das Betäubungsmittelgesetz. Es darf nur mit besonderen Rezepten und für die zugelassenen Indikationen verschrieben werden. Für den modernen Bürger ist das freilich kein wirkliches Hindernis. Ein paar Mausklicks im Internet: Und schon lässt sich die Life-Style-Pille im Ausland ordern. Rezeptfrei, originalverpackt, diskret – und strafbar.

    " Guten Tag. Ich suche ein Mittel zur Konzentrationssteigerung. Haben Sie da was da?

    Ja, an was hätten Sie denn da gedacht? In welche Richtung, oder was möchten sie gerne einnehmen? Wir haben Glutaminsäure-Extrakte da. Aber sehr gerne werden Gingko-Extrakte genommen. Es wirkt durchblutungsfördernd, hat Blut verflüssigende Eigenschaften. Und steigert auch sehr die Sauerstoffleistung des Gehirns. "

    Gingko biloba, Rosenwurz, Phosphatidyl-Serin – kurz PS: In den letzten Jahren werden in Apotheken, Drogerien und im Internet zunehmend Präparate angeboten, die die Aufmerksamkeit und Hirnleistung stärken sollen. Meist enthalten die Pillen Extrakte diverser Pflanzen. Und diese, so das Versprechen, wirken altersbedingtem Abbau kognitiver Leistungen entgegen. Aber auch jüngere und gesunde Menschen, so wird suggeriert, könnten ihre Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit auf 'natürliche’ Weise steigern. Der Markt ist gigantisch. Im Jahr 2004 wurden allein für Gingko-Präparate rund 230 Millionen Euro ausgegeben. Doch was ist dran an den Versprechungen der Industrie: Machen die smart drugs tatsächlich smarter - oder erleichtern sie in erster Linie nur den Geldbeutel des Nutzers?

    " Ich zeig Ihnen jetzt mal ne Platte mit den Phäo-Chromocytom-Zellen, die wir für die Versuche, besonders für die Gingko-Versuche verwendet haben. "

    Ein Labor des Pharmakologischen Instituts an der Universität Frankfurt. Eine Wissenschaftlerin untersucht Zellen von Ratten, die Mutationen tragen, wie sie bei der Alzheimer-Demenz gefunden wurden.

    " Wir gehen dann immer unters Mikroskop und schauen die Zellen an, ob es ihnen gut geht. Ob die irgendwelche Störungen haben auf mitochondrialer Ebene. Haben sie niedrigere ATP-Spiegel, haben sie sonst irgendwelche Störungen. "

    Seit Jahren erforschen der Pharmakologe Professor Walter Müller und seine Mitarbeiter, was im Gehirn und den einzelnen Nervenzellen passiert, wenn der Mensch älter wird, wenn er an Krankheiten wie Alzheimer erkrankt. Ein Schwerpunkt von Walter Müllers Untersuchungen: Mitochondrien, die so genannten Kraftwerke der Zelle. Sie sind verantwortlich für die Produktion von Adenosin-Tri-Phosphat, ATP, dass jede Zelle zum Funktionieren benötigt.

    " Und im Rahmen dieses Prozesses werden immer auch freie Radikale freigesetzt. Und diese freie Radikale können zwar Zellen schädigen. Sie werden aber im Normalfall durch bestimmte Enzyme entgiftet. Fällt im Bereich von altersbedingten Hirnleistungsstörungen die Fähigkeit der Mitochondrien ab, ATP zu produzieren, so dass wir kumulative Schäden haben durch frei Radikale, also durch so genannten oxidativen Stress, kommt es auch zu Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit und damit im Bereich der Kognition zu den bekannten Symptomen: Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwierigkeiten, das Erinnerungs-, das Lernvermögen ist eingeschränkt. "

    Ließe sich die Funktionsfähigkeit der Mitochondrien erhalten, so die These von Walter Müller, dann könnte der Abbau der Hirnleistung bekämpft, der Ausbruch von Demenz- und Alzheimererkrankungen verzögert werden. Anhand verschiedener Modelle, von Zellkulturen bis zum Gewebe verstorbener Patienten, hat Walter Müller in den vergangenen Jahren verschiedenste Präparate untersucht. Klassische Anti-Dementiva ebenso wie Vitamine und Kräuter-Extrakte. Die Ergebnisse waren eindeutig: Das Anti-Demenzmittel Piracetam sowie der Extrakt des Gingko biloba verbessern nachweislich die gestörte Funktion der Mitochondrien in Nervenzellen. Die Effekte sind zwar nicht sehr groß. Aber immerhin deutlich messbar.

    " Viele Patienten merken schon im Alter, dass sie bestimmte Dinge nicht mehr so gut, oder nicht mehr so schnell vor allen Dingen bewältigen können, wie sie es vor zwei, drei Jahren konnten. Das heißt, es sind leichte Defizite vorhanden, und in diesem Bereich haben wir durchaus Hinweise, dass Gingko eine Verbesserung erreicht. Es erreicht eine Verbesserung des emotionellen Wahrnehmens dieser Defizite, so dass auch viele ältere, mit leichteren Defiziten von Gingko profitieren können. "

    Auch in der klinischen Praxis hat sich bei Demenz- und Alzheimerpatienten gezeigt, dass die beiden Präparate Frühstadien der Krankheit hinauszögern können - um zirka sechs bis zwölf Monate. Bei jungen und gesunden Menschen sieht der Pharmakologe Walter Müller dagegen kaum messbare Effekte, weder bei Piracetym noch bei Gingko. Auch die anderen Substanzen, ob Rosenwurz, Ginseng oder die in den letzten Jahren als Lifestyle-Pillen bekannt gewordenen Hormone DHEA und Pregnenolon können nicht halten, was sie versprechen.

    " Wenn man jung und gesund und leistungsfähig ist, dann kann man die Hirnleistung normalerweise nicht wesentlich steigern. Gegebenenfalls wenn man sehr müde ist, Jüngere, Gesunde überbeansprucht sind, dann kann man gegebenenfalls durch Stimulanzien, im einfachsten Fall durch Koffein, oder andere Stimulanzien eine kurzfristige Leistungsverbesserung erreichen. Aber die ist auch umstritten. Man sollte die Leistungsbooster nicht überschätzen. Und wenn da irgendwelche Dinge angeboten werden, ist das meiner Meinung nach Unfug. "

    Es gebe zwar zahllose Studien zu allen möglichen Präparaten, und immer wieder werde auch mal die Wirksamkeit einer Substanz nachgewiesen. Seriösen Überprüfungen halten diese Untersuchungen Walter Müllers Ansicht nach aber nicht Stand. Auch PS, Phosphatidylserin, seit mehreren Jahren als mentaler Leistungssteigerer beworben, macht Müllers Forschungen zufolge den Konsumenten nicht schlauer.

    " Mit Phosphatidylserin haben wir vor Jahren gearbeitet. Phosphatidylserin ist ja ein Bestandteil von zellulären Membranen, und kann tatsächlich im vitro-Experiment, aber auch wenn es Tieren gegeben wird, gerade im alten Hirn die Membranen wieder etwas erneuern, also jünger machen. Und damit eben positive Effekte bewirken auch auf kognitive Prozesse. Der Einsatz von PS am Patienten allerdings war enttäuschend. So dass die Entwicklung gestoppt wurde. Inzwischen gibt es PS aus pflanzlichem Material, dazu gibt es aber praktisch keine Daten. "

    100 Milliarden Nervenzellen befinden sich im menschlichen Gehirn. Und jede einzelne kann bis zu mehrere Tausend Verbindungsstränge zu anderen Neuronen entwickeln. Niemals aber berühren sich die Zellen. Zwischen ihren Verbindungsarmen, den Dendriten, befindet sich immer ein winziger Spalt, die Synapse. Chemische Botenstoffe, die Neurotransmitter, überbrücken die Synapse und leiten so die Signale von einer Nervenzelle zur nächsten weiter. Wie diese Prozesse im Einzelnen funktionieren, war bis vor wenigen Jahren weitgehend unbekannt. Dank moderner Methoden wie der Gentechnik und bildgebender Verfahren nähern sich Forscher aber zunehmend den molekularen Vorgängen im Gehirn. Mehrere Unternehmen, vor allem in den Vereinigten Staaten, wollen diese Erkenntnisse nun nutzen, um neuartige brain booster zu entwickeln.

    Sechzig Kilometer östlich von New York. Fern von Verkehr und Großstadttrubel, mitten im Wald an einem See gelegen, befindet sich das Cold Spring Harbour Laboratory. Hier arbeitet Tim Tully, einer der Pioniere der Hirnforschung.

    In einem fensterlosen, zwei mal zwei Meter kleinen Raum stehen auf einem Tisch seltsame gläserne Röhren. Bei genauerem Hinschauen lassen sich darin winzige Fruchtfliegen entdecken.

    " So, hier ist der Raum, in dem wir unsere Fliegen testen. Alles ist in einem dunkelroten Licht, einer bestimmten Wellenlänge, die Fliegen nicht sehen können. Für sie ist es also dunkel und wir haben gerade genug Helligkeit, um zu sehen, was sie tun. Und damit die Fliegen möglichst zufrieden sind, wenn wir ihre Reaktionen und ihr Verhalten beobachten, werden sie in konstanter Temperatur und Feuchtigkeit gehalten. "

    Auf den ersten Blick haben Tim Tullys Forschungsobjekte mit den Höhenflügen menschlichen Denkens wenig gemein. Drosophila, die Fruchtfliege, ist für Tully aber deshalb interessant, weil sie einen vergleichsweise einfachen genetischen Code besitzt, und innerhalb kürzester Zeit können genetisch modifizierte Tiere gezüchtet werden.

    Um die kognitiven Fähigkeiten der Fliegen zu studieren, hat Tim Tully zunächst eine spezielle Versuchsanordnung für Pavlov’sche Experimente entwickelt. Dabei werden bestimmte Gerüche mit leichten Elektroschocks assoziiert, dann kann Tim Tully ermitteln, wie schnell die Tiere eine Lektion lernen und wie lange sie ihr Wissen behalten.

    " Um neue Informationen im Langzeitgedächtnis zu speichern, muss man häufiger repetieren. Einen Abend büffeln, wie wir es gerne vor Examen machen, reicht für das Langzeitgedächtnis nicht aus. Stattdessen muss man so lange lernen, bis man den Stoff gut begreift. Dann pausieren und am nächsten Tag ein wenig mehr lernen. Pausieren. Und wieder lernen. Und wir haben in unseren Pavlov´schen Experimenten gezeigt, dass das gleiche auch für Fliegen gilt. Wenn man ihnen zehn Trainingseinheiten gibt und dazwischen eine Pause von 15 Minuten einräumt, formen sie eine Erinnerung, die man bis zu ihrem Tod messen kann. "

    Um herauszufinden, welche Gene und Proteine nun im Einzelnen beteiligt sind, wenn Informationen aus dem Kurz- ins Langzeitgedächtnis transferiert werden, züchtet Tim Tully zahlreiche genetische Linien von Knock-Out-Tieren. Fliegen also, bei denen einzelne Gene an- bzw. abgeschaltet sind. Mit den Pavlovschen Experimenten untersucht der Forscher anschließend, ob eine mutierte Fliege die Elektroschock-Tests bewältigt oder nicht. Eine knifflige und zeitaufwändige Aufgabe:

    " Man kann sich vorstellen, dass wir zahlreiche zusätzliche Kontrollversuche durchführen müssen. Wenn man aufs Geratewohl das Genom mutiert, trifft man unter Umständen Gene, die mit der Fähigkeit zu tun haben, Gerüche wahrzunehmen. Das ist natürlich kein Lernmutant. Oder man könnte Gene verändern, die mit der Fähigkeit zu tun haben, Elektroschocks an den Füßen wahrzunehmen. "

    Schließlich findet Tim Tully rund 60 Gene, die an Lernprozessen beteiligt sind. Als besonders wichtig erweist sich aber die Entdeckung eines bestimmten Proteins: CREB – des cAMP response element binding protein. Mehrere Forscher entdecken Anfang der 90er Jahre, dass dieses Protein maßgeblich an der Bildung von Langzeitgedächtnis beteiligt ist. Während das Kurzzeitgedächtnis auf einer temporären Veränderung der Synapsen-Aktivität im Gehirn beruht, werden bei der Bildung von Langzeitgedächtnis Signalketten vom Rand der Zelle in den Zellkern in Gang gesetzt. Sie bewirken eine Veränderung der Genexpression, und in deren Folge bilden sich neue Verbindungen zwischen Nervenzellen beziehungsweise wird die Aktivität von bestehenden Synapsen dauerhaft erhöht. CREB scheint dabei ein maßgeblicher Schalter zu sein, der diesen Prozess in Gang setzt.

    Tim Tully nutzt diese Erkenntnisse, um genetisch veränderte Fliegen mit einem niedrigen CREB-Wert im Gehirn zu kreieren. Das Resultat bestätigt die Hypothesen: Die Fliegen können beliebig oft trainiert werden. Nach wenigen Stunden haben sie alles Erlernte wieder vergessen. Sie sind unfähig, ein Langzeitgedächtnis zu bilden.

    " Und dann haben wir das Gegenteil gemacht: Wir haben Fliegen mit einem hohen CREB-Wert gezüchtet. Und hier stießen wir auf etwas wirklich Interessantes. Diese Fliegen mit einem hohen CREB-Wert formten ein Langzeitgedächtnis schon nach einer einzigen Trainingseinheit. Sie brauchten keine zehnmaligen Wiederholungen, um ein Langzeitgedächtnis zu bilden. Anders gesagt: die Tiere hatten ein photopgraphisches Gedächtnis. "

    Eine spektakuläre Entdeckung. Denn wenn beim Lernen und Vergessen die molekularen Prozesse bei Fruchtfliege und Mensch tatsächlich so ähnlich sind, wie viele Forscher annehmen, dann müsste ein Mensch mit einem hohen CREB-Wert im Gehirn Informationen ohne langwieriges Lernen direkt ins Langzeitgedächtnis befördern können. Wie aber lässt sich der CREB-Wert im menschlichen Hirn erhöhen, wie kann die Hypothese getestet werden? Genetische Manipulation am Menschen scheidet schließlich aus.

    " Die einzige Möglichkeit, diese Hypothese zu testen, besteht darin, Medikamente zu schaffen, die CREB und ein Partner-Protein CBP beeinflussen, welches ebenfalls an diesen molekularen Prozessen beteiligt ist. Deshalb beschlossen wir, eine Firma zu gründen und Kapital zu aquirieren, um nach Wirkstoffen zu suchen, die die CREB-abhängigen Prozesse beeinflussen. Wir haben schließlich 355.000 Verbindungen untersucht. Und wir haben einige gefunden, die die CREB-Signale in menschlichen Zellen zu erhöhen scheinen. Auf jeden Fall haben wir einen Wirkstoff entdeckt, die die Bildung von Langzeitgedächtnis von jungen Mäusen und Ratte signifikant erhöht. Das funktioniert bestens, ohne irgendwelche Probleme. "

    Mit diesem Wirkstoff, HT-0712 genannt, führt Tim Tullys Firma Helicon Therapeutics seit Dezember 2004 die ersten klinischen Studien mit Menschen durch. Wie gut der Wirkstoff funktioniert, wird sich in den nächsten Monaten und Jahren erweisen müssen.

    Theoretisch könnte er zum Beispiel Schlaganfall-Patienten helfen. Sie könnten damit wesentlich schneller rehabilitiert, die Funktion der zerstörten Hirnareale durch neue synaptische Verknüpfungen ersetzt werden. Die Versuche mit Mäusen und Ratten waren zumindest durchweg überzeugend. Auch Alzheimer-Patienten im Frühstadium sowie Betroffene des 'Rubenstein Taybi-Syndrom’, einer genetisch bedingten geistigen und körperlichen Behinderung, könnten vom Eingriff in den molekularen Schalter profitieren. Der größte Markt dürfte aber vermutlich bei einer rapide wachsenden Bevölkerungsgruppe liegen: dem alternden Mensch und seiner Altersvergesslichkeit.

    " Die meisten von uns werden einen leichten Gedächtnisverlust bekommen, einen langsamen Rückgang unserer Fähigkeit, sich zu erinnern. Wenn man zum Beispiel eine Telefonnummer nachschlägt und sie dann 10 Minuten nicht wählt. Wenn man 25 ist, wird man sich an die Nummer noch erinnern. Mit 50 werden die meisten Menschen die Nummer 10 Minuten später wieder vergessen haben. In unseren Tierversuchen haben wir gezeigt, dass es auch bei Mäusen einen altersabhängigen Rückgang des Kurzzeitgedächtnisses gibt. Und durch unseren Wirkstoff haben wir die Gedächtnisleistung von alten Mäusen auf den Stand von Jungen gebracht. "

    Und wenn schon Menschen mit Altersvergesslichkeit davon profitieren – warum dann nicht auch gleich jüngere und gesunde Menschen? Sie könnten eine Pille schlucken, um zum Beispiel Chinesisch zu lernen. Statt mühsamen Büffelns würden sie die Hieroglyphen womöglich durch ein- oder zweimaliges Lesen verinnerlicht haben. Auf den ersten Blick eine bestechende Vision. Tim Tully will gleichwohl allzu hohe Erwartungen dämpfen.

    " Die meisten, wenn nicht gar alle Medikamente haben Nebenwirkungen. Deshalb muss immer eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt werden. Ist der Nutzen eines Medikaments groß genug, um die Risiken der Nebenwirkungen zu tragen.

    Und dann gibt noch ein weiteres Problem. Unsere Substanz ist neu und sie beeinflusst chemische Prozesse im Gehirn, die direkt mit der Gedächtnisbildung zu tun haben. Und wir wissen noch überhaupt nichts über die psychologischen Nebeneffekte. Ist es gut, oder ist es schlecht, sein Gedächtnis dauerhaft zu verbessern? Womöglich erinnern wir und dann an zu viele banale Details und überfordern das Gedächtnis. Wir wissen es einfach noch nicht. "

    Tim Tully ist bei weitem nicht der einzige, der sich an den neuartigen Gedächtnispillen versucht. Die auf Initiative des Nobelpreisträgers Eric Kandel gegründete Firma Memory Pharmaceuticals will zum Beispiel ebenfalls die CREB-Signalketten beeinflussen. Weitere Unternehmen versuchen in andere molekulare Prozesse einzugreifen. Konkrete Resultate am Menschen kann aber bislang keiner vorweisen. Und allmählich mehren sich auch Stimmen von Kritikern. Sie glauben zum Beispiel, dass die Vorgänge im Gehirn weitaus komplizierter sind, als es vielen scheint. Dorothea Eisenhardt, CREB-Forscherin an der FU Berlin.

    " Das war so ein Hype Anfang der 90er Jahre mit CREB. Weil die Idee so genial war: da gibt es so einen Schalter zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis. CREB war einfach der erste. Aber es gibt inzwischen auch andere Transkriptionsfaktoren, die in die Langzeitgedächtnisbildung involviert sind.

    Es scheint so zu sein, dass z.B. CREB nicht nur von einer Signalkaskade aktiviert wird, sondern von mehreren Signalkaskaden. Die Ausgangsuntersuchungen haben gesagt, CREB ist von CAMP-abhängigen Signalaskade aktiviert. Aber inzwischen weiß man, dass es von sehr viel mehr Kaskaden aktiviert wird. "

    Nicht nur wissenschaftliche Zweifel machen sich breit. Auch ethische und soziale Fragen bestimmen zunehmend die Diskussion. Vor allem im 'alten’ Europa werden die Forschungen in Übersee vielfach mit Skepsis betrachtet. Die Entwicklung immer raffinierterer psychoaktiver Substanzen wird zwar nicht aufzuhalten sein. Aber was werden die Folgen sein, wie soll die Gesellschaft damit umgehen? Professor Hanfried Helmchen, ehemaliger Direktor der Psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin und Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.

    " Wird soziale Ungleichheit noch mehr verstärkt dadurch, weil nur noch die, die sie sich leisten können, sich die Pille kaufen können? Oder, ist es nicht umgekehrt so: Pillen sind im Rahmen der Verteilungsgerechtigkeit - gesamten Bevölkerungsgruppen zur Verfügung zu stellen als hochqualifizierte Schulen mit speziellen Trainingsprogrammen. "

    " Aber man kann ja auch weiterfragen. Wie ist das eigentlich bei Arbeitnehmern, die ihre Unkonzentriertheit am Arbeitsplatz, ihre vielleicht auch leichte Vergesslichkeit durch solche Stoffe verbessern wollen, um mit den andern Arbeitskollegen Schritt zu halten. Inwieweit wird da aus dem Wettstreit ein Zwang für den einen, der manche Defizite aufweist, diese Defizite auszugleichen. Bis hin zu der Frage, ob nicht sogar Arbeitgeber in bestimmten Bereichen, oder auch Lehrer in Schulen sagen: Diese Kinder bleiben zurück, aus den und den Gründen. Und wir haben Substanzen, mit denen wir die Aufmerksamkeit verbessern können. "

    In den Vereinigten Staaten, und zunehmend auch in Deutschland, können solche Phänomene bereits beobachtet werden. Ritalin etwa, ein Medikament zur Behandlung von hyperaktiven Kindern, wird häufig schon bei diffusen Diagnosen verschrieben. Viele Kritiker sind sogar der Ansicht, dass mit Hilfe eines psychoaktiven Medikaments Kinder, die streng genommen gar nicht krank sind, kontrolliert und sozial angepasst werden sollen. Ritalin beruhigt aber nicht nur Zappel-Philippe. Bei gesunden Menschen bewirkt es quasi das Gegenteil: eine Steigerung der Aufmerksamkeit und Konzentration. An US-amerikanischen Schulen und Universitäten ist das Medikament inzwischen als brain booster weit verbreitet. Und zahlreiche Erwachsene mussten sich bereits einer Entziehungstherapie unterziehen, nachdem sie das Ritalin ihrer Kinder geschluckt hatten.

    Viele Wissenschaftler betrachten deshalb das ganze Thema mit Skepsis. Der Gerontopsychiater Professor Ralf Ihl von der Universität Düsseldorf vertritt hier eine einfache These: wo vorher nichts war, kann auch durch Medikamente nichts verbessert werden.

    " Es ist auch nicht zu erwarten, dass jemand, der sich in einen Lehnstuhl setzt und eine hirnleistungssteigernde Pille einnimmt, auf einmal Geistsblitze hat. Das sehen sie nicht einmal bei den verruchten Anabolika, dass jemand dann auf einmal im Sessel Muskelwachstum hat. Das kann nicht sein. Generell gilt für junge wie für alte Menschen: Man muss aktiv sein, und sich dann erst mal überhaupt in Bewegung bringen und die Basis bringen. "

    Und so faszinierend der Gedanke sein mag, sein Gehirn auf Höchstleistungen zu bringen – die Frage ist, ob das ewige Jung-Bleiben, das Höher, Schneller, Weiter tatsächlich erstrebenswert ist.

    " Es fällt auf, dass im Laufe des gesunden Alterns Veränderungen der Hirnnutzung entstehen. Während zum Beispiel in der Jugend Entscheidungen alle sehr rasch erfolgen, ist es oftmals so, dass Entscheidungen im Alter etwas mehr Zeit brauchen. Da gibt eine Reihe von plausiblen Erklärungen, z.B. dass man immer mehr Erfahrungen sammelt und natürlich im Alter mehr Erfahrungen abgleichen muss, bevor man zu einer Antwort kommt als in der Jugend. Das findet sich auch in den elektrophysiologischen Untersuchungen. Wir sehen also, dass ältere Menschen mehr Bereiche des Gehirns ansprechen, während sie eine bestimmte Aufgabe bearbeiten und vergleichen. Und dadurch sicherlich auch ein bisschen länger brauchen, bis sie zu der Antwort kommen. Was man, wenn man’s hochtrabend sagen will, mit der Weisheit des Alters gleichsetzen kann. Und sagen kann, dass das bei jungen Leuten eher spontan erfolgt und dadurch häufiger mal etwas nicht durchdacht ist. "