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Doppelkunst

Anselm Glück ist Maler und Schriftsteller - und genau diese beiden Künste bringt er in seinem Buch "Schattenabtasten" in Symbiose. Darin verschrauben sich Utopie, Resignation und anarchischer Witz zu einer eindrucksvollen Prosakonstruktion.

Von Joachim Büthe | 14.09.2009
    Schatten, das wissen wir, existieren nicht für sich allein. Sie werden geworfen, wenn das Licht auf eine Person oder einen Gegenstand trifft. Sie sind Abbilder wie das Spiegelbild, vorhanden, jedoch körperlos. Man kann sie nicht anfassen. Kann man sie abtasten? Anselm Glück kann es. Aber wie macht er es? Sein Einstieg ist ebenso simpel wie überraschend. Er nimmt Handreichungen, die auf Kinderfreizeiten oder in von der modernen Pädagogik noch nicht berührten Kindergärten vermutlich noch eingesetzt werden und benutzt sie als Startrampe. "Was Kinder gerne basteln" oder "Wie Kinder gerne turnen", so heißen die einschlägigen Werke, und unter der Hand von Anselm Glück beginnen sie sich zu verwandeln. Am Anfang sind sie noch kenntlich.

    "Drähte sind biegsam und halten die Form. Sie lassen sich zu vielem verwenden. Tiere zum Beispiel stellt man leicht aus zwei oder drei Drähten her, wobei ein Hinterbein mitsamt einem Stück Rumpf die eine Seite bildet. Der Kopf wird zusammengehalten und durch einfaches Umbiegen hergestellt. Ohne weiteres können Augen aufgesteckt werden, und wenn ich richtig in Fahrt bin, erfinden meine Finger alles von ganz allein"

    Anselm Glück, der fingerfertige, verwandelt sein Material schon bald in etwas gänzlich Anderes, seine Welt ist mit dieser Welt verwoben ohne dass ein simples Strickmuster dabei herauskäme, ein identitätsstiftendes schon gar nicht. "Aus unseren Einstiegslöchern werden Fallgruben", so heißt das erste Kapitel. Wer sich auf die Fallgruben einlässt, findet zurück zu den Einstiegslöchern oder beginnt sie zu vergessen. Stattdessen verliert man sich im Vexierspiel der Schatten, Spiegelbilder und Doppelgänger, die angelegt sind in der Person des Autors und selbstverständlich auch in der eigenen, die beide, weil sie nicht anders können, die Welt konstruieren.

    "In nimmermüden Erfindungen rennen meine Worte in die Welt gegenüber, und körperlich hervorgehoben, finde ich mich immer wieder vor dem Spiegel ein. Vieles spricht dafür, dass die Welt ohne mich kaum in Betracht zu ziehen wäre"

    Manchmal kriechen die Worte in den Bleistift zurück und kommen als Zeichnungen wieder hervor. Jede dieser Prosaminiaturen wird von einer Zeichnung begleitet. Es sind keine Illustrationen, keine Kommentierungen oder Kontrastierungen. Sie feuern sich gegenseitig an und in den Worten, die in den Zeichnungen auftauchen, erscheint in fragmentarischen Stichworten eine Erzählung, die man sich vorstellen kann. "Jetzt" ist dort zu lesen und "ja" und "so" und "meanwhile" und "danke" und "Kunst". Anselm Glücks Texte sind alles Mögliche und das ist ein Kompliment, das man nicht vielen Autoren machen kann. Jetzt steht oben auf dem Blatt und unten träumt der Text von einer Welt die offen ist, auch wenn der Glaube daran fehlt.

    "Vor langer Zeit war die Welt noch abgeschafft, die Dinge waren außer Betrieb und doch schon, inmitten einer großen Stille und bewegungslos in ihr zukünftiges Dasein geschraubt. Langsam zeigt sich, was aus uns geworden sein könnte "

    Bei Anselm Glück verschrauben sich Utopie, Resignation und anarchischer Witz zu einer Prosakonstruktion, in der die Spiegelbilder sich verselbstständigen, die Schatten mitunter realer sind als ihre Verursacher und die Zeiten ihrer geregelten Abfolge spotten. Halb erinnert, halb vorhergesehen, so sah es Virginia Woolf, die Glück zitiert. Mit diesen Worten ließe sich seine Vorgehensweise beschreiben, wenn sie nicht so grundlegend für nahezu jeden poetischen Schreibprozess wären. Bei Glück greifen die mutwilligen Einfälle mit einer Leichtigkeit und Kindlichkeit ineinander, dass eine neue Folgerichtigkeit entsteht und man lesend und schauend zu schweben beginnt.

    "Es dämmert. Licht flog durchs Zimmer und Bilder von Einrichtungsgegenständen gingen in mir auf. Draußen fielen in den Baumkronen Vögel übereinander her. Alles erinnerte mich. Um herauszufinden, wie ich hereingeraten war, schlug ich mit der Bettdecke auch gleich das Zimmer zurück."

    Schreibend kann man das Zimmer leicht zurückschlagen, zeichnend wird es schon etwas komplizierter. Anselm Glück jedenfalls gehört zu den raren Doppelbegabungen, die sich nicht voneinander abziehen lassen, sondern sich addieren. Beide Professionen können für sich bestehen, doch gemeinsam wird es noch schöner. Aber was ist es, das noch schöner wird? Diese Schreib- und Suchbewegungen. Weil es in der Kunst kein endgültiges Ergebnis, das keine Fragen offen lässt, geben kann. Das ist nicht immer angenehm für die Freunde des Abhakens, die nach einer spannend erzählten Geschichte ermattet ins Bett sinken wollen. Es ist auch nicht immer angenehm für die Künstler, die kein Ende finden können und der Mischung aus Vergnügen und sich quälen nicht entkommen können.

    "Meine Gedanken saugten sich von innen an mir fest, und ohne loszulassen, verdrückte ich mich ins Bett. Etwas schüttelte mich. Ich lag angefacht und stieß mit ganzer Kraft die Nachttischlampe um. Wie von Sinnen erinnerte ich mich. Ich bäumte mich auf. Mein Herz leuchtete. Alles ergab einen Sinn"

    Anselm Glück schreibt orthografisch korrekte Sätze. Aber eines verweigert er. Den Schlusspunkt am Ende eines Textes. Den gibt es bei ihm nicht.

    Anselm Glück: Schatten abtasten. Verlag Jung und Jung, 156 Seiten, 25 Euro