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Down-Syndrom
Kunststück Integration

Im Berliner Circus Sonnenstich lernen Menschen mit Down-Syndrom Kunststücke mit dem Diabolo oder akrobatische Tricks. Sie wollen damit zeigen, dass sie weit mehr können, als ihnen zugetraut wird. Deshalb stellt sich der Verein auch gegen den Trisomie-21-Bluttest als Kassenleistung.

Von Carolin Born | 20.06.2019
Diabolo-Künstler Florian Klotz (vorn) und sein Tandempartner Johannes Dudek vom Circus Sonnenstich
Diabolo-Künstler Florian Klotz ist schon seit acht Jahren beim Circus Sonnenstich (picture alliance / dpa / Tagesspiegel / Thilo Rückeis)
"Los geht’s, ihr Lieben! Sarah, extra für dich: Schultern schütteln." Donnerstagnachmittag in Berlin. Gut 20 Artisten bewegen sich durch die Turnhalle, lockern ihre Muskeln, wärmen sich auf.
"Und du hüpfst vorsichtig, Jannick, aber du machst es gut. So Sascha, eine neue Idee, was machen wir als nächstes?"
Die Teilnehmer stehen auf allen vieren und formen mit ihrem Körper ein Dreieck: die Hüfte ist nach oben gestreckt. Während sich die gut zwanzig Artisten noch dehnen, liegen schon Stelzen bereit und große Kugeln zum darauf laufen. Von der Decke hängt ein Trapez.
Die Erwachsenen-Gruppe des Circus Sonnenstich hat heute Training. Viele der Artisten leben mit Trisomie 21, auch bekannt als Down-Syndrom. Einer von ihnen ist der 29-jährige Florian Klotz aus Potsdam. Er macht schon acht Jahre mit. Und hat seine Kunststücke sogar schon dem schwedischen Königspaar gezeigt.
"Meine Lieblingsdisziplin ist noch immer Diabolo. Ich mache auch gerne die Disziplin Kugel. Rola Bola mache ich gerne. Das ist ein Brett auf Rollen drauf."
Gemeinsame Sprache für Bewegung gefunden
Auf Florians Stirn haben sich kleine Schweißperlen gebildet. Der Blick folgt konzentriert dem orangenen Diabolo, das er von vorne über die Schultern hinter seinen Rücken wandern lässt. Er zerlegt den Trick in einzelne Schritte.
"Das ist ein M. Dann gehe ich mit dem U-Boot hier rein. Dann außen mit dem Stab rein."
"Wir haben – das war jetzt sehr deutlich auch an der Erklärung von Florian – wirklich eine Sprache für Bewegung erfunden. Und anhand dieser Sprache haben unsere Artisten eine enorme Qualität für Bewegungsanalyse entwickelt", sagt Michael Pigl-Andrees, der neben Florian in der Halle steht.
Florian Klotz trägt ein weinrotes T-Shirt, darauf steht in goldenen Buchstaben: Sonnenstich. Den Zirkus hat der Sozialpädagoge Michael Pigl-Andrees gemeinsam mit seiner Frau vor über 20 Jahren gegründet. Nicht alle Tricks haben auf Anhieb so gut geklappt.
Menschen mit Trisomie 21 haben ein Chromosom mehr, nämlich das 21. Eine Behinderung oder eine Besonderheit, für manche sogar eine Krankheit. Sie haben andere neuronale Strukturen, sagt Michael Pigl-Andrees. Und deswegen zum Beispiel eine kleinere Aufmerksamkeitsspanne. Außerdem eine Vorliebe fürs Detail.
"Menschen haben mir auch gesagt: ‚Warum machst du mit diesen Menschen mit Trisomie 21 Akrobatik?‘ Die normalen Menschen können doch viel besser Akrobatik. Das hat mich aber eher angestachelt. Ich habe mir gesagt: Wenn das erst mal nicht möglich ist, dann suchen wir doch Mittel und Wege, damit das gut gelingt."
Und so haben er und Florian Klotz einen Lernprozess durchlaufen. Michael Pigl-Andrees hat dabei seine Methoden verändert. Er hat sich jede Bewegung ganz genau angeschaut, Schritt für Schritt, und ein Bild dafür gesucht. Diese Bilder lassen sich zusammenbauen und verknüpfen. Heraus kommen dann zum Beispiel Diabolo-Kunststücke oder Akrobatik zu zweit.
"Rückenschaukel. Abklatschen. Aufpusten. Kleiner Frosch werden. Sprung zur Seite."
Die meisten Eltern wollen kein Kind mit Down-Syndrom
Die Leidenschaft der Artisten und das Können vom Circus Sonnenstich – das könne dazu beitragen, die Bilder in den Köpfen über Menschen mit Behinderungen zu hinterfragen, so Jürgen Dusel, seit ungefähr einem Jahr Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. Er ist von Geburt an stark sehbehindert.
"Ich glaube schon, dass oftmals Menschen, die keine Behinderung haben, Behinderung immer noch sehen als so eine Art Krankheit, die man therapieren oder verhindern müsste. Dagegen ist mit einer Behinderung zu leben ja sehr unterschiedlich. Ich selbst lebe mit einer Behinderung, so wie 13 Millionen Menschen in Deutschland auch."
Wird es etwas an der Situation dieser Menschen ändern, wenn die Krankenkassen künftig den vorgeburtlichen Bluttest auf Trisomie 21 bezahlen? Menschen können dadurch als vermeidbar gelten, befürchten Kritiker. Nicht ohne Grund: Nach der Diagnose Down-Syndrom entscheiden sich 9 von 10 werdenden Eltern für einen Schwangerschaftsabbruch.
Der Bundestag hat im Frühjahr darüber debattiert: engagierte Reden dafür, dagegen aber vor allem darüber, dass es eine schwierige Frage ist, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Mittlerweile ist klar, dass der vorgeburtliche Bluttest kurz vor der Kassen-Zulassung steht. Der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss wird voraussichtlich im Herbst darüber entscheiden.
Es könnte gesellschaftlicher Druck entstehen
Eine kleine Gruppe Abgeordneter verschiedener Fraktionen berät darüber, ob und wie sie zu vorgeburtlichen Bluttests gesetzgeberisch tätig werden sollen – obwohl sie durchaus unterschiedliche Positionen vertreten. Zur Gruppe gehört Jens Beeck, teilhabepolitischer Sprecher der FDP. Er ist sich – das hört man von Politikern selten – noch nicht sicher.
"Der Rahmen ist klar. Zu dem Rahmen gehört, dass wir alles tun, um diese Gesellschaft barrierefreier – auch im Kopf – zu machen. Dann muss man eine Abgrenzung finden, welcher Wissenserwerb zulässig und welcher das nicht ist."
Bei der vorgeburtlichen Diagnostik stellt sich die Frage, ob das, was technisch möglich ist, auch gesellschaftlich wünschenswert ist. Also ob werdende Eltern wissen sollen, welche Merkmale ihr zukünftiges Kind hat. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
"Es gibt eben auch ein Interesse von Eltern daran, bestimmtes Wissen erwerben zu können. Und auch das wäre eine grundrechtserhebliche Entscheidung zu sagen, dass wir das an keiner Stelle mehr zulassen wollen."
Also: wie viel Information in Zukunft erlaubt sein soll, oder auch: wie wenig. Kritiker bemängeln allerdings, dass ein Recht auf Nichtwissen kaum durchsetzbar sei und Druck auf die werdenden Eltern entstehe, die Bluttests dann auch zu nutzen.
Jens Beeck und Jürgen Dusel sind sich einig: Es braucht eine bessere, kostenlose Beratung der werdenden Eltern, auch schon vor dem Test. Weil zukünftige Mütter und Väter oft nicht wissen, wie sie mit einem Testergebnis umgehen sollen. Auch Zirkusgründer Michael Pigl-Andrees stimmt zu:
"Es gibt Ärzte, die sagen den Eltern: ‚Wenn Sie dieses Kind annehmen, dann werden Sie nie mehr in Ihrem Leben Urlaub machen können.‘ Aber die Chancen und die Möglichkeiten, die wir ja über unsere Arbeit transportieren, die sind eben nicht sichtbar."
Für heute hat der Circus Sonnenstich sein Training mit einem Abschlusskreis beendet: Soledad Rein-Saunders geht zufrieden nach Hause. Die 20-Jährige hat Diabolo für einen Auftritt geübt. Ihr Ziel ist es, vor allem beim Handstand besser zu werden.
"Es klappt, aber man muss immer wieder üben, bis es funktioniert. Es ist reine Kopfsache."