Antonio Scurati: "M. - Der Sohn des Jahrhunderts"

Vom abgehalfterten Grundschullehrer zum Diktator

06:22 Minuten
Antonio Scurati "M. Der Sohn des Jahrhunderts", Klett-Cotta Verlag.
Zwar gelinge es Antonio Scurati in "M.", das fatale Zusammenwirken verschiedener Kräfte anschaulich zu machen, aber die Handlung zerfasere, kritisiert Maike Albath. © Klett-Cotta / Deutschlandradio
Von Maike Albath · 04.04.2020
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Mussolini hat den Führerkult erfunden und dem europäischen Faschismus den Weg geebnet. Diesen Aufstieg zu einem Roman zu verarbeiten, gelingt Antonio Scurati aber nur teilweise. Auch er scheitert letztlich an den Verführungskräften dieses abgründigen Mannes.
In Deutschland galt er lange als Opern-Buffo, als harmlosere Variante von Adolf Hitler, dabei war er der Urheber des Führerkults und der Prototyp des faschistischen Herrschers: der italienische Diktator Benito Mussolini. Diesem Mann widmet Antonio Scurati, Jahrgang 1969, Spezialist für Medientheorie, erfahrener Schriftsteller und bekannt für seinen Geschmack an brisanten Zeitgeistthemen, eine Trilogie. "M. - Der Sohn des Jahrhunderts" lautet der Titel des über 800-seitigen ersten Bandes, der jetzt in der makellosen Übersetzung von Verena von Koskull auf Deutsch vorliegt und in Italien zum Bestseller wurde.
Der Zeitrahmen reicht vom 23. März 1919 bis zum 3. Januar 1925, und es geht um Mussolinis Gespür für die Stimmung auf den Straßen, seine Tätigkeit als erfolgreicher Journalist, seine zahlreichen Affären, die Zerrüttung der öffentlichen Ordnung durch seine gewalttätigen Schlägertrupps, die Gründung der Faschistischen Partei, den Marsch auf Rom, die Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti und den endgültigen Umbau Italiens zur Diktatur.

Fiktion mit Dokumenten und O-Tönen

Das Ganze wird unterfüttert durch eine Fülle von Dokumenten und O-Tönen, trägt aber die Genrebezeichnung Roman. Wie sich Mussolini von einem abgehalfterten Grundschullehrer in den umjubelten Duce wandelte, entfaltet in der Tat romanhafte Züge. Besser als jeder andere schien der zukünftige Duce, der zuerst als Journalist der sozialistischen Zeitung "Avanti!" Karriere machte, bis er mithilfe einiger Industrieller sein eigenes Blatt "Il Popolo d’Italia" gründete und schließlich Politiker wurde, die Bedürfnisse der Italiener begriffen zu haben und zu wissen, wie man das vom Ersten Weltkrieg und hohen Gefallenenzahlen geplagte Land befrieden konnte.
Der Autor lugt in chronologisch aufgefädelten Kurzkapiteln immer wieder jemand anderem über die Schulter und beschränkt sich nicht auf die Geschicke des Duce, sondern bietet eine ganze Kompanie an Figuren auf – rund 70 Personen sind im Spiel.

Zerfasernder Spannungsbogen

Der Grundgedanke war vermutlich, den Jahrhundertsohn in ein zeitgeschichtliches Panorama einzubetten. Zwar gelingt es Scurati auf diese Weise, das fatale Zusammenwirken verschiedener Kräfte anschaulich zu machen: arbeitslose Veteranen, erschrockene Industrielle, Liberale, die den Mob fürchteten, aufstiegsbesessene Faschisten der ersten Stunde. In der dramaturgischen Entscheidung liegt aber zugleich eines der zentralen Probleme dieses dickleibigen Romans. Der Spannungsbogen hält nicht, die Handlung zerfasert, die zahllosen Zuspitzungen und sich wiederholenden Gewalttaten verlieren an Vehemenz.
Scurati hätte sich auf wenige zentrale Akteure konzentrieren können: Mussolinis jüdische Geliebte Margherita Sarfatti zum Beispiel, die ihm den gesellschaftlichen Schliff gegeben hat, ohne den er niemals reüssiert hätte. Und seinen Gegner, den couragierten Abgeordneten Matteotti. Auch der Kniff, Mussolini durch die Schilderung intimer Gewohnheiten zu einem nahbaren Menschen zu machen, ist riskant. Letztendlich scheitert auch Scurati an den Verführungskräften dieses abgründigen Mannes und kokettiert mit seinem Reiz.

Antonio Scurati: "M. - Der Sohn des Jahrhunderts"
Aus dem Italienischen übersetzt von Verena von Koskull
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020
830 Seiten, 32 Euro

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