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Drama eines einzigen Augenblicks

Welche Rolle spielt der Zufall; wie ist es zu verstehen, dass sich ein Mensch von einer Minute auf die andere verändert; was bedeutet der plötzliche Schrei eines Jungen am Strand von Saint Tropez? Wolf Wondratschek beantwortet diese Fragen durch reflektierte Beobachtung, im Medium einer Sprache, die durch die Fakten hindurch greift auf tiefere Schichten der Wahrheit.

von Werner Köhne | 24.10.2005
    Ein Feuerwehrmann in Wien, der jahrelang ohne Auffälligkeiten seinen Job als Sicherheitsmanager im großen Konzertsaal ausübt, wird eines Abends von einem Blitz namens "Mozart" getroffen. Er verliert alles, seine Frau, die Kollegen, die Arbeit und landet mit der Ladung Musik im Kopf auf der nächtlichen Parkbank. Ein Arzt setzt alles daran, einem russischen Mädchen zu helfen, das in jungen Jahren durch falsches Knochenwachstum zum Krüppel zu werden droht.

    Nach erfolgreicher Operation fällt sie dem erstbesten Säufer in die Hände und zerstört so die moralisch angereicherte Lebensphilosophie des Arztes. Ein chinesischer Geigenspieler, der ohne Noten spielen kann, weckt bei so manchem anderen Wohlwollen; aber er täuscht alle, findet allein im Roulettespiel seine Passion. Der Spielleidenschaft opfert er alles, zuletzt seinen kindlichen Charme.

    Das Leben ist so kraus und wirr, das es weder Moral verträgt noch den Sinn einer abgerundeten Geschichte. Das beweisen Hochstapler ebenso wie Normalbürger. Und auch die Erzählung, die dem Buch den Titel gibt. Darin erleben wir einen Schriftsteller, der sich für die Wintermonate in die Wohnung eines Freundes in Saint Tropez zurückgezogen hat, offensichtlich leer geschrieben, in eine Wolke Josef Conrad'scher Verlorenheit gehüllt, mit der Welt so fertig, dass er nur noch Traum verhangen das Treiben um sich herum notiert.

    Zitat:
    "Ich zählte die Glockenschläge der beiden Kirchen, die als lägen sie im Streit um die genaue Stunde, zeitversetzt läuteten, ich traute keiner der beiden, so wenig wie ich dem allnächtlich angestimmten Gelächter und Geschrei später Passanten traute, die unter meinem Fenster einigen Lärm machten. Wer so laut ist, ist einsam. Es sind die Einsamen, die ich höre."

    Dem Zivilisationsmüden begegnet am Strand ein merkwürdiger kleiner Junge, der offensichtlich Angst hat und ihm gegenüber in stummem Trotz verharrt. Dem Jungen widmet der Schriftsteller jene Anteilnahme, die er der Welt verweigert. Das Kind entpuppt sich als der vergessene Sohn einer geschiedenen in die Jahre gekommenen Schauspielerin, die sich ihrerseits in kindisch zäher Abhängigkeit zu einem jüngeren Mann befindet. Der Strandgigolo schafft es, seine Dominanz höhnisch auszuspielen und den Jungen der Mutter zu entfremden. Ein vielleicht gewöhnliches alptraumhaftes Saint Tropez - Patchwork , das den Jungen bis in die Körpermotorik hinein gefrieren läßt.

    Zitat:
    "Es fehlte ihm das Normalgewicht eines leicht und warm zu Ende geborenen Kindes. Irgendwann mußte sich ein Fehler eingeschlichen haben, eine Unregelmäßigkeit, ein Systemfehler im Zusammenspiel aller Teile, die ein Lebewesen überlebensfähig machen."

    Das ganze Drama des jungen enthüllt sich dem Erzähler schließlich in einem einzigen Augenblick: Der Junge beobachtet einen Fischer bei seiner Arbeit.

    Zitat:
    "Als ich mich nach ihm umdrehte, rannte er schon los, direkt auf den kräftigen Mann zu einen Fischer, der seinen Fang, einen ausgewachsenen vielarmigen Oktopus, mit weit ausholenden Schwung und harter professioneller Präzision gegen einen Stein schlug. Das taten Männer an allen Küsten der Welt, und sie tun es seit Jesu-Zeiten. Es gehörte zur Ordnung der Welt, ein uraltes Bild. Aber der Junge schrie. Er schrie alle an, die nicht schrieen. Er war dabei verrückt zu werden, so schrie er... Er sprang um den Stein, um den Mann herum, was wie ein Tanz aussah, der Tanz eines Gequälten, der sterben muß."

    Die Szene erinnert daran, wie sich Nietzsche kurz vor seinem Tod in einen tierischen Aufschrei an den Hals eines gequälten Pferdes warf; sie öffnet erst recht den Blick auf das Universum von Wolf Wondratschek: die Welt ist gleichgültig gegen das Leiden; das Leben bietet eine unversöhnliche Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten – und die Kunst zu leben, wenn man denn davon sprechen sollte, wäre ein Akt jenseits von Zynismus und gut und böse.

    Wolf Wondratschek ist inzwischen eine singuläre Erscheinung im deutschen Literaturbetrieb. Dabei hat er eine wundersame Entwicklung hinter sich. Er begann als Provokateur im Medium der Poesie, fiel zwischenzeitlich als eine Art Rauhbein-Bohemian auf, der den damals angesagten "Tod der Literatur" am Boxring und im roten Milieu zelebrierte.

    Schließlich fand er, die größte Überraschung, mit zunehmenden Alter zu einem Stil, den man beinahe als alteuropäisch und bürgerlich bezeichnen könnte, so elegant, gelassen, sich Zeit nehmend und im Bitterhonig der Erfahrungen getaucht kamen die späten Novellen und Erzählungen daher. Einiges mag dabei an seinem Domizil Wien liegen: die Stadt der verwehten Erinnerungen könnte das Leben in einer Weise entschleunigt haben, wie es einer bedächtigen Wahrnehmung und Schreibhaltung entspricht.