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Draußenschule
Ein lohnendes Wagnis

Drei Grundschulen in Deutschland haben das Projekt "Draußenschule" getestet. Zwei Jahre lang verbrachten sie an einem Wochentag den gesamten Unterricht im Freien. Nun werden die Erfahrungen der Modellschulen in Mainz ausgetauscht und ausgewertet. Das erste Fazit ist bisher sehr positiv.

Von Anke Petermann | 01.10.2016
    Erstklässler der Katholischen Schule Salvator in Berlin-Reinickendorf beobachten in Berlin Wasserbüffel
    Grundschulkinder lernen gerne draußen und kommen zufriedener aus dem Unterricht: Alle drei Modellschulen sind zu dieser Erkenntnis gelangt. (picture alliance/ dpa/ Sophia Kembowski)
    Unterricht draußen abzuhalten, muss nicht aufwändig sein, hat Kerstin Neis erleichtert festgestellt. Sie leitet die Ahrbach-Grundschule im Norden von Rheinland-Pfalz, eine der drei ausgewählten Modellschulen. "Man kann einige Schritte gehen, und die nächste Wiese bietet schon ganz viel. Draußenschule heißt nicht ganz weit wandern, um zu etwas ganz Besonderem, Speziellen zu kommen, sondern einfach aus dem Klassenzimmer heraus zu gehen. Auf jeden Fall haben wir festgestellt, dass Draußenlernen viel nachhaltiger wirkt, als die theoretischen Stunden, die man im Klassenzimmer mit dem Buch verbringt.
    Unser Beispiel bei den Eltern war immer: Wieso muss ich im Biobuch schauen, wie sich die Raupe zum Schmetterling entwickelt, wenn der doch draußen rumflattert? Die Oberflächenspannung von Pfützen austesten, Abstände zwischen Bäumen einschätzen – forschend lernen lässt sich draußen nicht nur in Bio. Eltern fordert es allerdings Aufgeschlossenheit ab. Manche sind irritiert, wenn Kinder nach einem Draußenschultag erzählen, sie hätten "nur gespielt", weiß Uschi Vortisch vom Deutschen Wanderverband. Sie ist selbst Lehrerin.
    "Für die Eltern ist erstmal nicht erkennbar, dass dieses Spielen Lernen war, weil sie Tiere entdeckt, Pflanzen gesehen haben, weil sie gesehen haben, wie der Wald sich verhält, wenn es regnet. Wenn man durch Pfützen tobt, lernt man ganz viel - motorisch viel, zur Natur - da kann man auch in der Gruppe sozial viel lernen."
    "Die Pädagogik der toten Maus" ist ein Wagnis
    Draußenlernen funktioniert aber nicht nur in ländlichen Dorfschulen. Auch eine Großstadtschule in Stuttgart Zuffenhausen nahm am Modellprojekt teil. "Es geht nicht nur um Natur", präzisiert der Mainzer Sozialpädagogik-Professor Matthias Witte. "Wir verstehen unter Draußenschule ein Konzept, das sich mit dem gesamten Draußen-Raum beschäftigt. Die Kinder können auch in die Bäckerei, ins Museum gehen, sie können aber auch ins Kaufhaus gehen – als ein Ort, der uns alltäglich alle betrifft. Dass sie sozusagen Kompetenzen fürs Leben lernen, das ist der Grundgedanke der Draußenschule. Es geht nicht nur um Natur."
    Geschichte auf dem Friedhof, Schreiben über den Besuch beim Imker – kein Fach, kein Lehrplan-Ziel, das draußen nicht umzusetzen wäre, betonen die Verfechter des Draußen-Lernens. Das geführte Unterrichtsgespräch funktioniert hier allerdings nicht. Lehrer müssen sich auf Unvorhergesehenes einlassen. Für sie, so Uschi Vortisch, sei das Wagnis, "in einen nicht vorbereiteten Raum zu gehen, wie das Klassenzimmer ja normalerweise ist. Das gestaltet man ja in seinem Sinne und macht seinen Unterricht. Und wenn man rausgeht – wir haben immer gesagt, das ist die 'Pädagogik der toten Maus' – also, man kann unterrichten wollen, was man will: Wenn da 'ne tote Maus plötzlich liegt, dann kommt ein Kind und hat die am Schwanz in der Hand und dann läuft der Unterricht ganz anders als geplant. Dazu muss man bereit sein als Lehrkraft, sonst funktioniert Draußenunterricht nicht." Repräsentative Untersuchungen zum Lernerfolg an Draußenschulen liegen noch nicht vor. Doch in der Mittelstufe kann es dem Motivationseinbruch in den Naturwissenschaften vorbeugen, hat man in Norwegen nach zwanzig Jahren Erfahrung mit der "Uteskole" herausgefunden.
    Dass Grundschulkinder draußen gern lernen und zufriedener aus dem Unterricht kommen, haben die Akteure an den drei deutschen Modellschulen beobachtet. Bis morgen noch wertet die Mainzer Tagung diese ersten Erkenntnisse aus. Erlebnispädagogen geben Tipps fürs Wandern als Geo-Caching-Tour. Der Wanderverband referiert, wie dörfliche oder quartiersbezogene Netzwerke das Organisieren des Draußenlernens erleichtern können. Denn die Wissenschaftler der Uni Mainz und der Wanderverband als Projektträger sind sich einig: Das Wagnis lohnt sich.