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"Drei zu zwei Punktsieg für Steinmeier - leider"

Herausforder Frank-Walter Steinmeier hat "die letzte Chance, die er eigentlich gar nicht mehr hatte, genutzt", meint Hans-Hermann Tiedje. Der Vizekanzler habe einfach mehr argumentiert, während Angela Merkel "immer so schnippisch geguckt" habe.

Hans-Hermann Tiedje im Gespräch mit Dirk Müller | 14.09.2009
    Dirk Müller: Noch einmal soll unser Thema sein das TV-Duell zwischen der Kanzlerin und dem Vizekanzler gestern Abend in Berlin. Ursprünglich wollte Politikberater Hans-Hermann Tiedje, vormals Chefredakteur der Bild-Zeitung, die Fernsehdebatte gar nicht anschauen. Auf unseren Wunsch hin hat er es doch getan, 90 Minuten lang. Guten Morgen, Herr Tiedje.

    Hans-Hermann Tiedje: Ich grüße Sie, Herr Müller.

    Müller: Haben Sie es denn bereut, dass der "Tatort" abgesetzt wurde?

    Tiedje: Nein, ich habe es nicht bereut. Sie haben völlig richtig gesagt: Ich wollte eigentlich erst nicht zuschauen und habe es dann eben doch getan und ein gewisser Erkenntnisgewinn war dann doch da.

    Müller: Welchen Erkenntnisgewinn haben Sie denn?

    Tiedje: Ich habe als Erkenntnisgewinn etwas, was ich vorher eigentlich für unmöglich hielt und was mir auch irgendwie politisch weniger passt. Ich hatte eigentlich gedacht, dass die Merkel da die schwarz-gelbe Variante vielleicht dicht macht, aber das ist überhaupt nicht gelungen. Wenn man das mal mit einem Boxkampf vergleicht, auch wenn es ohne Leidenschaft und ohne Visionen war, würde ich mal sagen drei zu zwei Punktsieg für Steinmeier - leider.

    Müller: Der Vizekanzler hat Sie überzeugt?

    Tiedje: Nein, er hat mich nicht überzeugt. Ich würde ihn auch jetzt nicht wählen mit der Zweitstimme, so weit geht es nicht. Aber wenn da 20 Millionen oder 25 Millionen zuschauen, dann ist das natürlich eine einzigartige Bühne für die beiden Kontrahenten und da hat Steinmeier insgesamt einfach mehr argumentiert, er war ein bisschen menschlicher, wärmer. Die erste Stunde hat er in meiner Wahrnehmung dominiert. Zum Schluss hatte Frau Merkel ein relativ starkes Finish, aber ich denke, insgesamt ist es so, dass Steinmeier die letzte Chance, die er eigentlich gar nicht mehr hatte, genutzt hat. Es war jetzt nicht der Durchbruch, wie Franz Müntefering vorhin bei Ihnen behauptet hat, aber es war für ihn eine Variante, ein bisschen weg von 23 Prozent zu kommen, vielleicht auf 24, 25.

    Müller: Und die Kanzlerin, Herr Tiedje, war vergleichsweise schwach, weil sie nur verlieren konnte?

    Tiedje: Sie hätte natürlich auch gewinnen können, wenn sie Steinmeier gestern im Fernsehen wirklich versenkt hätte. Das ist ihr aber nicht gelungen, weil sie hat immer so schnippisch geguckt und hat mit Verlaub immer so ein Nussknackergesicht dazwischen gemacht, und dann gesagt "unterbrechen sie mich nicht" und gelegentlich die Journalisten angefahren. Insgesamt fand ich den Auftritt eher enttäuschend, wobei ich bei der Gelegenheit noch mal sagen möchte, auch wenn das Format mit vier Journalisten und zwei Politikern eigentlich ungewöhnlich ist oder gar nicht geht, die vier Kollegen haben allesamt gestern in einer Form nachgefragt, dass jedenfalls der Berufsstand der Journalisten sich nicht schämen muss.

    Müller: Deswegen könnte man das so noch mal machen?

    Tiedje: Muss man nicht unbedingt. Zwei mit zwei Politikern oder einer mit zweien ist besser. In Schleswig-Holstein gibt es ja am 23. die Auseinandersetzung zwischen Carstensen und Stegner. Ich glaube, da könnte man auf einen Moderator auch verzichten. Es wird sehr viel spannender als gestern. Aber immerhin: Der SPD droht ja nun eine Riesen-Wahlschlappe, das ist ja nichts Neues, und Steinmeier hat sich gestellt und Steinmeier war auf eine bestimmte Art und Weise ziemlich überzeugend. Das muss ich schon sagen.

    Müller: Reden wir vielleicht ein bisschen mehr von außen betrachtet, Herr Tiedje, etwas "philosophisch" über die Politikerkaste, reden wir über die beiden, Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier. Sind das charismatische Figuren, die Deutschland nach vorne bringen?

    Tiedje: Ich weiß jetzt nicht, ob Charisma entscheidend dafür ist, das Land nach vorne zu bringen. Es gibt auch völlig uncharismatische Leute, die erfolgreich regieren können. Insofern: Charisma ist nicht das entscheidende Kriterium. Aber richtig ist: Charisma haben sie beide nicht. Frau Merkel löst bei mir immer wieder die Frage aus, was an der ist eigentlich CDU, und Steinmeier, wie immer er argumentiert - und das war gestern nicht schlecht -, wirkt immer wieder noch so etwas wie der alte Sekretär von Schröder. So kommt das raus.

    Müller: Sollte Barack Obama so ein paar Trainingskurse einlegen in Deutschland?

    Tiedje: Der hat was anderes zu tun, der muss die Gesundheitsreform in Amerika durchbringen, der hat keine Zeit dafür. Aber das hat man, oder man hat es nicht. Adenauer hatte diese Adenauer-Power, Kohl hatte sie, Willy Brandt hatte es und Schröder hatte es auch und andere haben es eben nicht und die haben es nun beide nicht.

    Müller: Aber Sie sagen, Herr Tiedje, es hat keine Auswirkungen unmittelbar auf die Qualität der Politik?

    Tiedje: Auf die Qualität der Politik nicht, aber vielleicht auf den Wahlausgang, weil es so eng ist.

    Müller: Ist das schwierig für die Deutschen, sich zu entscheiden, wenn alles irgendwie so gleich ist?

    Tiedje: Ich glaube, dass Sie da einen Punkt ansprechen, der entscheidend sein kann. Es sind so viele Ähnlichkeiten da, dass viele Leute in der Tat auch diesmal vermutlich wieder bis zum Schluss warten. Meine Prognose war vorher, dass es weitgehend gelaufen ist, aber seit gestern bin ich nicht ganz so sicher, weil nehmen Sie zum Beispiel den Punkt Afghanistan. Steinmeier hat sich zu den deutschen Truppen in Afghanistan bekannt, das hätte er in der Art gar nicht tun müssen. Er hat es aber getan und ich glaube, das wirkt auf viele Leute überzeugend, dass einer sagt, hier stehe ich und ich kann nicht anders, während Frau Merkel eben leider, muss ich sagen, aus meiner Sicht einige Sachen einfach hat liegen lassen, oder versucht hat, ganz billig zu punkten. Den Fall Eick gestern, das habe ich fast als skandalös empfunden, dass sie einen Manager angreift, der 15 Millionen gekriegt hat, von denen kein einziger Cent Staatsknete ist, gar nichts. Das geht Frau Merkel eigentlich gar nichts an.

    Müller: Herr Tiedje, wenn wir noch ein bisschen weiter nach vorne blicken. Wir haben vielleicht auch beide die Presseschau im Deutschlandfunk gehört. Ich weiß nicht mehr, welcher Kommentator welcher Zeitung das gesagt hat, aber ich habe das noch so ein bisschen im Ohr, der da jedenfalls behauptet hat, der eigentliche Gewinner dieses TV-Duells ist die Opposition. Könnte der Recht haben?

    Tiedje: Der könnte Recht haben und es gibt auch einen zweiten Gewinner für mich. Ich habe mir das 90 Minuten reingezogen, eigentlich wollte ich es nicht und habe mir gedacht, Mensch, Friedrich Merz, wo bist du geblieben. Das wäre es doch. Das ist CDU, das ist Herz und Seele und Frau Merkel ist Erfolg, aber auf welchem Niveau. Sind 35 Prozent nachher ein Erfolg?

    Müller: Hätte Guido Westerwelle das anders gemacht?

    Tiedje: Ich glaube, dass der ganz anders da reingegangen wäre, mit einer anderen Kraft und natürlich aus der Opposition kommend mit mehr Verve und mit mehr Druck. Das wäre eine völlig andere Veranstaltung geworden, klar!

    Müller: Oskar Lafontaine, Jürgen Trittin?

    Tiedje: Ja, Lafontaine auch. Trittin ist ja nun nicht der größte aller Redner, aber Westerwelle und Lafontaine, die hätten da eine andere Veranstaltung abgegeben. Ob man das nun begrüßen muss inhaltlich im Fall Lafontaine, ist wieder was anderes, aber Sie haben mit Ihrer Frage die Antwort vorweg genommen. Die Antwort lautet "ja".

    Müller: Hans-Hermann Tiedje, Politikberater, bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.

    Tiedje: Schönen Gruß an ihre Hörer.

    Müller: Auf Wiederhören.

    Tiedje: Tschüß!