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Dritte Biennale von Belleville
Arbeiterviertel als Kulturhotspot

Belleville ist einer der letzten Pariser Stadtteile mit bezahlbaren Mieten. Das zieht Migranten und Künstler in das ehemalige Arbeiterviertel. Die Biennale von Belleville findet jetzt bereits zum dritten Mal statt. Ihr Thema ist in diesem Jahr: das Unterwegssein, das Flanieren als künstlerische Praxis.

Von Sabine Oelze | 25.09.2014
    Kochbananen, Mais oder gefälschte Markenuhren. Auf dem Markt von Belleville gibt es alles und vor allem billig. Es herrscht ein Sprachgewirr aus: französisch, arabisch, chinesisch. 80 Nationen leben hier. Mitten in diesem Multikulti-Gemisch empfängt die Biennale von Belleville ab heute das Kunstvolk. Das Motto: Auf den Spuren der Apachen.
    "Apachen - so hießen in den 30er- und 40er-Jahren die Kleinkriminellen von Belleville. Der Titel der Biennale verweise augenzwinkernd auf das Milieu, das dieses Viertel lange Jahre geprägt hat, sagt Kurator Patrice Joly. Inzwischen ist Belleville das geworden, was Früher Montmartre war: ein Zentrum der künstlerischen Avantgarde."
    "Als die ersten Galeristen vor zehn Jahren hierherzogen, glaubte keiner, dass sie überleben würden. Inzwischen ist Belleville für den Kunstmarkt neben dem Marais die zweitwichtigste Adresse."
    Biennale als künstlerische Stadtforschung
    Und die Biennale hat sich mitten im öffentlichen Raum etabliert. Jean-Christoph Norman schreibt mit Kreide fünf Tage lang James Joyce's Ulysses auf die Straßen von Belleville. Auch für Michel Dupuy und seinen Kollegen Michel Dector ist Belleville wie ein Buch, das gelesen und entziffert werden will. Das Duo betreibt künstlerische Stadtforschung. Auf ihre Streifzüge nehmen sie die Besucher mit.
    "Dieses Viertel ist sehr interessant, vor allem wegen seiner politischen Vergangenheit. Immerhin ging hier die Kommune zu Ende. Gleichzeitig ist es ein Quartier der einfachen Leute mit einem hohen Gemeinschaftssinn. Sehen Sie dort : Da hängen an den Scheiben des Restaurants Protest-Plakate. Hier war mal eine Volksküche, die aber geschlossen wurde. Der Kampf gegen die Gentrifizierung geht weiter. Hier weht noch immer ein anarchischer Geist."
    Dupuy ist ein Phänomenologe des Alltags. Mal stoppt er, um über ein Kaugummi an einem Geländer zu reden, mal um über ein Graffiti an einer Häuserwand zu philosophieren. Unprominente Zeichen reichen ihm aus, um politische oder poetische Geschichten zu erzählen. Dupuy zeigt auf die Fassade einer koptischen Kirche.
    "Auf diese Fassade hat jemand das Wort Feuer gesprüht. Der Priester hat versucht, es übermalen zu lassen. Für ihn ist es ein Angriff, nicht nur auf das Gebäude, sondern auf seine gesamte Glaubensrichtung. Man muss wissen, dass es in Ägypten einen Konflikt zwischen den Kopten und den Moslems gibt. Diese beiden Punkte, die versehentlich nicht übermalt wurden, sehen aus wie Einschusslöcher. Die Architektur wird zu einer Art Körper, der verwundet wurde."
    Kunstmarkt erobert neue Räume
    Auch der Künstler Jacques Clayssen erforscht gehend das urbane Gedächtnis von Paris. Walkspace, Spazierlandschaft, nennt er die Stadtwanderung. Sie verbindet zwei Galerien der wichtigsten Global Player des Kunstmarktes: Gagosian und Ropac. Das Besondere: Sie residieren nicht im Galerienviertel Marais, sondern außerhalb des Autobahnrings Périphérique. Ein erstes Anzeigen, dass sich der Kunstmarkt neue Räume erobert. Sogar in der Banlieue. Dort, wo sich die Stadt allmählich auflöst.
    "Zwischen diesen Orten liegt ein Weg, der nicht für Fußgänger gemacht ist. Die Banlieue ist eine Zone, die wie unsichtbar ist, die niemand freiwillig besucht, über die es kaum Dokumente oder Fotos gibt. Eine städtische Leere ohne Eigenschaften. Das zu erkunden hat uns interessiert."
    Die dritte Belleville-Biennale ist eine Anti-Ausstellung. Ihre Kunst hängt nicht im Museum, sondern ist überall zu entdecken. Auch an hässlichen Straßenecken. Wer sich den Spazierkünstlern anschließt, der kann sich auf eine große Reise gefasst machen.