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"Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges."
Sucht ist eine Anpassung

Sucht ist eine Anpassung und keine Krankheit. Das ist eine zentrale These in Johann Haris Buch "Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges." Eine These, die er mit seiner eigenen Biografie sicher stützt: Der Journalist erlebte eine steile Karriere, bis der hohe Schaffensdruck ihn zum Medikamentenmissbrauch verleitete und er sich zurückzog. Sein Buch basiert daher nicht nur auf einer ausführlichen und zeitintensiven Recherche, sondern auf einen Blick zurück.

Von Martin Zähringer | 18.01.2016
    Für Eltern kann ein drogenabhängiges Kind zur Lebensqual werden.
    Sind die Drogen das Problem oder die Umstände, in denen Menschen sich befinden? Johann Haris Buch wirft dazu Thesen auf. (imago/Mavericks)
    Johann Hari hat sein Thema Drogenkrieg jahrelang und länderweit recherchiert, er reportiert aus den Drogenszenen von London, New York, Vancouver, aus Lissabon oder dem berüchtigten Ciudad Juárez in Mexico. Er besuchte Fachkonferenzen, sprach mit Dealern und Drogenbossen, mit Süchtigen und Sozialarbeitern, mit Wissenschaftlern und Polizisten. Das Ergebnis ist eine komplexe Geschichte mit klarer Zielrichtung: Hari will nachweisen, dass nicht Drogen und Drogenmissbrauch der entscheidende Fehler sind, sondern der Drogenkrieg, den ein autoritär geprägtes westliches Establishment seit nunmehr 100 Jahren führt. Hari schreibt:
    "Wir alle kennen das Drehbuch: Es wurde uns eingeschärft wie die richtige Richtung, in die man zu blicken hat, wenn man die Straße überquert. Behandle Drogenkonsumenten und Süchtige wie Verbrecher! Unterdrücke sie! Mache ihnen ein schlechtes Gewissen! Zwinge sie, mit den Drogen aufzuhören!"
    Diese Politik beginnt in den USA mit dem Drogengesetz von 1914, dem eine systematische Manipulation der Öffentlichkeit durch rassistische Propaganda folgt - angeblich würden Afroamerikaner und Mexikaner durch Marihuanakonsum zur Vergewaltigung weißer Frauen animiert, aber auch Weiße würden nach dem Konsum zu süchtigen Monstern. Der Autor dieser Geschichte, Harry Anslinger von der amerikanischen Drogenbehörde FBN, schafft es bis ins Drogenkomitee der Vereinten Nationen, wo er ein weltweites Cannabisverbot durchsetzt. Hari resümiert:
    "Während Anslinger behauptete, die Mafia zu bekämpfen, überließ er in Wahrheit eine riesige, höchst profitable Industrie ihrer alleinigen Kontrolle. Zum anderen sorgte Anslingers Department dafür, dass sich der Preis für die Drogen mehr als vertausendfachte, was bedeutete, dass Süchtige gezwungen waren, Verbrechen zu begehen, um ihren nächsten Schuss zu finanzieren."
    Zahlreiche Reportagen über das weltweite Schlachtfeld des Drogenkriegs
    Anslinger ist der Protagonist des Drogenkriegers, die heroinabhängige Jazz-Sängerin Billie Holliday sein erstes Opfer, als Modell für den Drogenzar schließlich dient der jüdische Drogenboss Arnold Rothstein, dessen Macht sich von New York über die gesamte Ostküste ausdehnt. Dieses Trio aus den historischen Anfängen des Drogenkrieges bildet die dramatische Folie für eine große Geschichte, die kein gutes Ende hat. In zahlreichen Reportagen schildert Hari das weltweite Schlachtfeld des Drogenkrieges bis in unsere Tage. Dazu zählt die mörderische Bande der Zetasin Mexiko ebenso wie gnadenlose Richter in London oder Polizeidepartments in New York, die sich durch das versteigerte Eigentum von Drogenstraftätern finanzieren.
    Der zweite Teil des Buches gilt den Alternativen, und versteht sich als Debattenbeitrag, der strittige Hypothesen und Argumente abbildet. Hari ist davon überzeugt, dass seit den Anfängen des Drogenkrieges jede Alternative zu Repression und Kriminalisierung systematisch unterdrückt wird. Denn Sucht führe zu Unmündigkeit, man müsse den Süchtigen disziplinieren und resozialisieren, dies sei die Grundidee der repressiven Drogenpolitik. Die wissenschaftliche Basis dafür sei die sogenannte "pharmazeutische Suchttheorie":
    "Unsere Kultur hält eine Geschichte als Antwort auf die Frage parat, wie Sucht funktioniert, und es ist eine gute Geschichte. Ihr zufolge sind gewisse chemische Substanzen so wirksam, dass sie das Gehirn eines jeden bezwingen, der sie einnimmt. Sie verändern die Neurochemie. Sie verursachen Hirnschäden. Und dann verlangt der Körper nach der Droge. Falls Sie oder ich oder die nächstbesten zehn Menschen einen Monat lang jeden Tag eine süchtig machende Droge einnehmen, dann sind wir am 30. Tag süchtig. Sucht ist folglich das zwangsläufige Resultat einer wiederholten Einnahme starker Chemikalien.
    Sucht ist eine Anpassung
    Doch Hari glaubt nicht an das Primat des Chemischen, ihn überzeugt der soziologische Ansatz von Dr. Bruce Alexander. Dieser widerlegte ein bekanntes Suchtexperiment mit Ratten, das angeblich die pharmazeutische Suchttheorie bestätigt: Man nehme eine einzelne Ratte, setze sie in einen nackten Käfig, biete ihr gleichzeitig Wasser und Morphium an und siehe da, zu 90 Prozent werden die Versuchstiere süchtig. Dr. Alexander erweiterte das Experiment, machte seinen Ratten dasselbe Angebot, setzte sie jedoch in einen perfekt ausgestatteten Käfig mit vielen Artgenossen. Bei dieser Versuchsanordnung verfiel kaum ein Tier der Droge. Hari folgert:
    "Die alten Experimente waren also offenbar fehlerhaft. Nicht die Droge ist schuld am schädlichen Verhalten, sondern die Umgebung. Eine isolierte Ratte wird fast immer zum Junkie. Eine Ratte mit einem guten Leben dagegen so gut wie nie, auch wenn man ihr noch so viele Drogen bereitstellt."
    Sucht, so Haris Fazit, sei also keine Krankheit, sondern eine Anpassung, es läge nicht am Einzelnen, sondern an dem Käfig, in dem er steckt. Ein Beweis seien die amerikanischen Soldaten, die heroinsüchtig aus Vietnam zurückkamen, in ihrer Heimat aber schnell von der Droge abließen. Der Autor findet auch Tendenzen für einen Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik. Portugal hat die legale Abgabe von weichen und harten Drogen eingeführt, in Uruguay wird der Drogenkrieg durch die Freigabe von Marihuana selbst bekämpft, ebenso in verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten.
    Johann Haris Buch ist ein Plädoyer für einen anderen Umgang mit Drogen. Die globale Perspektive bietet einen spannenden politischen Lagebericht, gleichzeitig erzeugt die teilnehmende Beobachtung des Rechercheurs eine solidarische Nähe zu den Betroffenen. Leider geht Haris allzu subjektives Erzählen zulasten einer stringenteren Argumentation. Glaubwürdigkeit und korrektes Zitieren sind hier nicht das Problem, aber das wegweisende neue Paradigma eines "Hundertjährigen Drogenkriegs" übersteigt und überfordert die Möglichkeiten seiner literarischen Reportage.
    Johann Hari:
    Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges. Aus dem englischen von Bernhard Robben, S. Fischer Verlag, 448 Seiten, 24,99 Euro