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Drogenhandel, Entführung, Chaos

Ein funktionierender Staat ist Kolumbien schon lange nicht mehr. Seit fast vier Jahrzehnten herrscht Bürgerkrieg im Land, und Frieden ist nicht in Sicht. Das Buch "Die Tragödie Kolumbiens" setzt sich mit den Ursachen des scheinbar ausweglosen Konflikts auseinander. Eine Rezension von Peter Schumann.

07.01.2008
    "Heute hat die größte Demobilisierung einer illegalen bewaffneten Gruppierung in Kolumbien begonnen. Nahezu 1500 Mann des Blocks Catatumbo, kommandiert von Salvatore Mancuso, sind dabei, ihre Waffen abzuliefern. Die Zeremonie findet in Anwesenheit des Hochkommissars für den Frieden, Luis Carlos Restrepo, und des Delegierten der Organisation Amerikanischer Staaten, Sergio Caramaña, statt."

    Diese Nachricht von Radio Caracol signalisierte im Dezember 2004 eine neue Qualität in den endlosen Machtkämpfen in Kolumbien: Ein Teil der Paramilitärs, die sogenannte AUC, war bereit, den Krieg zu beenden. Er reicht bis weit ins 19. Jahrhundert zurück und verheert bis heute das Land.

    Aus dem anfänglichen Kampf zweier politischer Parteien, der Konservativen und der Liberalen, war in den letzten Jahrzehnten ein Bürgerkrieg mit neuen Akteuren geworden: den Guerillas, die ursprünglich zum Schutz der Bauern gegründet worden waren, den Paramilitärs, welche die Großgrundbesitzer gegen die Guerillas mobilisierten, und schließlich der Drogenmafia, derer sich beide bedienen.

    "Seit langem rangiert Kolumbien in den ruhmlosen Statistiken dieser Welt auf den vordersten Plätzen: längster Krieg des Kontinents, größter Kokainproduzent überhaupt, und bei den Raten für Morde, Entführungen und Vertreibungen steht das Land stets unter den ersten weltweit."

    So heißt es im Vorwort der Studie von Professor Thomas Jäger und seinem Team von Wissenschaftlern an der Universität Köln. Es ist eine akribische Untersuchung der Ursachen dieses scheinbar ausweglosen Krieges, seiner Hauptbeteiligten und ihres fatalen Zusammenwirkens sowie der nationalen, regionalen und internationalen Folgen, das heißt der Komplexität dieses Konfliktes, die eine Lösung außerordentlich schwer macht.

    "In Kolumbien existieren Symptome von Staatszerfall seit Mitte der 1980er Jahre, aber seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die Lage erheblich verschlechtert. Trotz Verstärkung der staatlichen Kräfte dehnten sich Guerillas und Paramilitärs über einen Großteil des Territoriums aus und haben das staatliche Gewaltmonopol in circa 80 Prozent des kolumbianischen Gebietes gebrochen."

    Daran hat die Politik der harten Hand von Präsident Uribe nur insofern etwas geändert, als in den letzten drei Jahren ein Teil der Paramilitärs die Gewaltakte eingestellt und angeblich auch alle Waffen abgegeben hat. Der Umfang der Demobilisierung ist zwar umstritten, aber Kolumbien ist in einzelnen Regionen sichtbar etwas friedlicher geworden. Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Schwäche des Staates und seiner Institutionen, die von den Autoren sogar als Staatszerfall charakterisiert wird. Sie kommen dabei zu einem überraschenden Ergebnis:

    "Der schwache Staat hat durch die formale Demokratisierung auf institutioneller Ebene seine reale Entdemokratisierung auf der Ebene der Verfassungswirklichkeit mit verursacht."

    Das heißt: Mit der neuen Verfassung von 1991 wurden die Rotation der Macht im bisherigen Zwei-Parteien-System endlich abgeschafft und die Voraussetzungen für eine funktionierende Opposition geschaffen. Seither sind erstmals in Kolumbien auch alle Freiheits- und Menschenrechte de jure gewährleistet. Aber dem schwachen Staat fehlen das legitime Gewaltmonopol zu ihrer Durchsetzung und eine unabhängige, nicht korrupte Justiz. Außerdem hat Präsident Uribes sogenannte "Politik der demokratischen Sicherheit" zu einer weiteren demokratischen Verunsicherung geführt.

    "In ihrer Folge werden die liberalen Freiheiten von Seiten des Staates wieder eingeschränkt und das Militär gestärkt. Sie ist der Versuch, die Guerilla mittels Gewalt zu besiegen. Angesichts der Milde gegenüber konkurrierenden, den Paramilitärs und dem Drogenhandel zuzuordnenden Gruppierungen muss in Zweifel gezogen werden, ob damit tatsächlich ein Schritt in Richtung der Monopolisierung und Legitimierung staatlicher Gewalt getan ist."

    Thomas Jäger und seine Kollegen erforschen detailreich, was sie als "Kriegsökonomie" bezeichnen, also die Ressourcen des kolumbianischen Krieges: den Drogenhandel, in dem Paramilitärs und Guerillas gleichermaßen aktiv mitmischen; die Ölindustrie, die beide buchstäblich anzapfen oder die sie sich durch das Androhen von Sabotageakten und das Erpressen von Schutzgeldern gefügig machen; sowie die Entführungen als dritte Einnahmequelle, die bevorzugt die Guerilla der FARC praktiziert. Damit finanzieren die privaten Gewaltakteure ihre Truppen, ihre Waffen und mitunter sogar soziale Maßnahmen für die Menschen in den von ihnen beherrschten Gebieten.

    "FARC und AUC stellen zwar politisch entgegen gesetzte Pole dar, verfolgen aber ähnliche Strategien zur Mobilisierung von Ressourcen und zur Kontrolle der Bevölkerung. Die spezielle Form der Kriegsökonomie ermöglicht ihnen ein militärisches Wachstum weit über ihren politischen Rückhalt hinaus."

    Das Autorenteam bietet nicht nur eine fundierte Innenansicht der kolumbianischen Tragödie, sondern durchforstet auch "die regionale und globale Einbettung des kolumbianischen Konflikts". Anfangs dienten die Grenzbereiche der Nachbarländer Paramilitärs und vor allem Guerillas lediglich als Rückzugsräume. Doch seit sie zunehmend mit dem Drogengeschäft verfilzt sind, ist die gesamte, politisch instabile Region davon betroffen.

    "Ecuadorianer, Panamaer, Venezolaner und Peruaner sind nicht nur beim Transport der in Kolumbien produzierten Drogen ins Ausland, sondern auch bei der Versorgung der bewaffneten Gruppen mit Waffen, Munition und anderen Ausrüstungsgegenständen direkt beteiligt."

    Dieser Regionalkonflikt hat längst eine internationale Dimension.

    "Die Drogenindustrie und die kolumbianische Guerilla bedrohen die regionale Stabilität und gefährden dadurch amerikanische Interessen, zu denen nicht zuletzt die reichen Ölvorkommen der Region zählen."

    Deshalb wurde vor Jahren von den USA, dem größten Drogenmarkt, der Plan Colombia geschaffen und mit Milliarden von Dollars ausgestattet. Er sollte die Drogenproduktion in Kolumbien zurückdrängen und die Gewaltakteure bekämpfen. In ihrem ausführlichsten Kapitel weisen die Autoren nach, dass diese US-amerikanische Politik die Probleme stattdessen verschärft hat.

    "Nachdem sichtbar wurde, dass die angestrengten Maßnahmen keineswegs dazu führten, den Drogenanbau und seinen Transport in die USA zu unterbinden, griffen die amerikanischen Regierungen direkt und über private Militärunternehmen in den kolumbianischen Konflikt ein. Auch dieses Eingreifen brachte die Drogenökonomie nicht an ihr Ende, sorgte aber weiterhin für eine Schwächung der staatlichen Institutionen."

    Deshalb fordern die Autoren:

    "den Abzug privater Militärakteure"

    sowie

    "eine veränderte politische Organisation von Drogenmärkten."

    Das heißt konkret:

    "eine international kontrollierte Legalisierung der Drogen."

    Sie sind sich bewusst, dass dies schwer zu realisieren ist. Aber eine militärische Lösung des kolumbianischen Konfliktes sehen sie nicht.

    "Solange die angebotsorientierte Drogenpolitik militärisch weitergeführt und der Kampf gegen die Narcoguerilla mit privaten Militärfirmen fortgesetzt wird, besteht seitens der beteiligten Akteure wohl kein nahe liegendes Interesse an einem handlungsfähigen kolumbianischen Staat."

    "Die Tragödie Kolumbiens" ist keine leichte Lektüre, zumal sie von Wissenschaftlern für Wissenschaftler, hauptsächlich für Politologen gedacht ist. Doch die Fülle an Fakten und Statistiken ist für jeden, der sich mit diesem geschlagenen Land auseinandersetzen will, eine unerlässliche Quelle der Erkenntnis. Viele der Ergebnisse sind nicht neu, aber sie werden hier aus dem Kontext, aus der Vielschichtigkeit der Probleme herausgefiltert und mit neuesten Materialien belegt.

    Leider vernachlässigen die Wissenschaftler einen Aspekt, der in den letzten Jahren, in denen ihre Untersuchung entstanden ist, große Bedeutung erlangt hat: die alternativen politischen Kräfte, besonders die Zivilgesellschaft. Ihren Vertretern ist es beispielsweise gelungen, Medellín, die einstige städtische Hochburg der Gewalt, zu befrieden. Vor kurzem wurde zum zweiten Mal der Kandidat der Unabhängigen Bürgerbewegung an die Spitze der Stadtverwaltung gewählt. Der Philosoph Carlos B. Gutiérrez resümiert:

    ""In Medellín sind normalerweise die traditionellen politischen Parteien und der Einfluss des Präsidenten sehr stark. Aber die Leute haben sich davon frei gemacht. Sie sind an konkreten Themen wie der Beseitigung der Gewalt in den Armenvierteln von Medellín interessiert und vertrauen darauf, dass frische Kräfte von außen durch konkrete Projekte besser zu ihrer Lösung in der Lage sind als die korrupten Parteien. Denn sie haben gesehen, dass ihre Steuern nicht mehr in trüben Kanälen versickern, sondern zur Veränderung der Stadt verwendet werden. Was in Medellín geschehen ist, das ist überall möglich. Das ist eine Alternative für die Zukunft."

    Thomas Jäger , Anna Daun und andere: Die Tragödie Kolumbiens
    Staatszerfall, Gewaltmärkte und Drogenökonomie

    VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, 311 Seiten, 39,90 Euro