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Drogenkartell Mexiko
"Legalisierung ist nicht allein die Lösung"

Das Buch "Es reicht! Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen" von Carmen Boullosa und Mike Wallace zeigt die Geschichte des mexikanischen Drogenkartells und seine Probleme: Korruption, Vetternwirtschaft und Abhängigkeiten. Eine zentrale Rolle spielen bei dieser Entwicklung auch die Präsidenten des Landes.

Von Ina Rottscheidt | 18.01.2016
    Als der mexikanische Präsident Felipe Calderón am 1. Dezember 2006 sein Amt antrat, ahnte niemand, wie viel Gewalt Mexiko bevorstehen würde.
    Die Wahl des christlich-konservativen Politikers war begleitet gewesen von landesweiten Demonstrationen: Wie immer in den vergangenen Jahrzehnten gab es in Mexiko Vorwürfe des Wahlbetrugs. Oppositionelle riefen daraufhin den damals überaus beliebten Manuel López Obrador zum Gegenpräsidenten aus, auf den Straßen der Hauptstadt herrschten wochenlang tumultartige Szenen.
    Nach einem in aller Eile und unter wütenden Protesten abgelegten Amtseid trat Calderón die Flucht nach vorn an: In einer seiner ersten Reden sagte er den Drogenkartellen den Kampf an:
    Kriminalisierung treibt Preise in die Höhe
    "Viele Mexikaner waren verblüfft. Calderón hatte im Wahlkampf nicht den geringsten Hinweis darauf gegeben, dass er ein solches militärisches Projekt im Kopf hatte. So überraschte es nicht, dass viele diesen plötzlich aus dem Hut gezauberten Drogenkrieg für einen verzweifelten Versuch hielten, seine Präsidentschaft zu retten."
    Calderóns Ankündigung gilt Vielen als der Beginn des sogenannten Drogenkrieges in Mexiko. Doch die Wurzeln dieses Konfliktes liegen tiefer: Das arbeiten die mexikanische Schriftstellerin Carmen Boullosa und der US-amerikanische Historiker Mike Wallace in ihrem Buch: "Es reicht! Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen" heraus.
    "So wie die Prohibition des Alkohols im Jahr 1919 erst das organisierte Verbrechen und mit ihm käufliche Politiker und Gesetzeshüter auf den Plan rief, so war das noch ältere Verbot von Rauschmitteln im Jahr 1914 [...] die Geburtsstunde einer Drogen- und Schmuggelindustrie in Mexiko, deren riesige Profite dazu genutzt wurden, mexikanische Politiker und Vollzugsbehörden zu bestechen. [...] Mächtige Kräfte im Land profitierten gewaltig und mit Freuden davon, den Gringos zu liefern, was deren Regierung ihnen verbot."
    Die Kriminalisierung trieb die Preise für Drogen in die Höhe, an denen viele Akteure auf beiden Seiten des Rio Bravo kräftig verdienten. Bis die USA Mexiko ebenfalls zu einem Drogenverbot zwangen:
    "So erhoben sich die USA, der weltweit größte Konsument illegaler Drogen, zum Richter über den Fortschritt anderer Länder bei der Lösung von Problemen, die sie selbst nicht in den Griff bekommen konnten. Wenn ein Land dieses Kriterium nicht erfüllte – was auf Mexiko offensichtlich zutraf -, wurde es von anderen Entwicklungshilfeprogrammen ausgeschlossen. Schlimmer noch (insbesondere für Mexiko): Die USA votierten gegen Kredite dieses Landes durch internationale Entwicklungsbanken, etwa den Internationalen Währungsfonds, was einem Todesstoß gleichkam."
    Auf rund 200 Seiten zeigen Carmen Boullosa und Mike Wallace auf, wie sich Mexikos Präsidenten immer wieder den Wünschen der USA nach einer rigideren Drogenpolitik beugten und wie diese mehr Probleme schaffte als sie löste – denn der Drogenkonsum in den USA ging dadurch nicht zurück.
    Ein festes Netz aus Korruption und Vetternwirtschaft
    Stattdessen erwuchs in Mexiko ein für viele einträgliches Netz aus Korruption, Vetternwirtschaft und über Jahrzehnte gewachsenen Abhängigkeiten, das die Basis der Drogenkartelle wurde. In dieses Westpennest stach 2006 Felipe Calderón, ohne die Macht seines Gegners wirklich zu kennen:
    "Aber die fantastischen Summen, die den Drogenbossen zur Verfügung standen, hätten einen vorsichtigeren Mann innehalten lassen. Auch gab es keine Pläne für die etwa zweitausend lokalen Polizeieinheiten, die bestenfalls nutzlos, in der Mehrzahl aber aktive Gehilfen der Kartelle waren, außer, sie aus dem Amt zu entfernen [...]. [...] Das Strafjustizsystem war ein schlechter Scherz, unglaublich korrupt, extrem ineffizient, die Verhandlungsrate minimal, die Gefängnisse durchlässig oder von Insassen kontrolliert."
    Die Bilanz war verheerend: In Calderóns Amtszeit stieg die Zahl der Morde und Entführungen sprunghaft an. Die Brutalität der Verbrechen nahm absurde Züge an, Städte wie Ciudad Juarez erreichten Mordraten, wie es sie bisher nur in Bagdad oder Kabul gegeben hatte, sagt die mexikanische Autorin Carmen Boullosa:
    "Es war die falsche Strategie. Calderón schickte das Militär in Mexikos Straßen und er glaubte fest daran, dass er mit der Verhaftung der Drogenbosse das Problem lösen könnte. Aber das war wie bei der Hydra, der man den Kopf abschlägt und es wachsen zwei neue nach. Das ist wirklich ein Albtraum geworden."
    Daran änderte sich auch unter Enrique Peña Nieto nichts, der 2012 auf Felipe Calderón im Präsidentenamt folgte. Der jugendliche-telegene Kandidat von der Partei der Institutionalisierten Revolution PRI war den Mexikanern bislang vor allem durch seine Ehe mit einem Seifenopern-Star bekannt. Auch er präsentierte bislang kein überzeugende Strategie, viel zu spät reagierte er auf die Entführung der 43 Studenten im September 2014, die erneut auf dubiose Verstrickungen zwischen dem organisierten Verbrechen, Polizei und Politik hindeuten.
    Lösung ist nicht allein die Legalisierung
    Bis heute begreife die Politik nicht, dass diese Probleme tiefere Wurzeln haben, sagt Boullosa. Allerdings liege die Lösung nicht allein in der Legalisierung von Drogen:
    "Nein, natürlich ist das nicht die einzige Lösung, sondern eine von vielen. Der Justizapparat und die Polizei müssen reformiert werden. Und was wir am dringendsten brauchen, sind Jobs und Perspektiven: Kein junger Mensch hat den Berufswunsch, Auftragsmörder zu werden. Und hunderttausende Kleinbauern stellen ihre Dienste nur in die Narco-Wirtschaft, weil sie keine Alternativen haben. Diese Komplexität wollen wir in dem Buch abbilden, denn wenn man diese Situation nicht versteht, kann man die Probleme auch nicht lösen."
    Von daher ist die deutsche Übersetzung des Buchtitels: "Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen" irreführend. Im englischen Original trägt das Buch den Titel "Eine Narco-Geschichte. Wie die Vereinigten Staaten und Mexiko gemeinsam den mexikanischen Drogenkrieg schufen".
    Das ist jeder Hinsicht korrekter, weil es auf die US-amerikanische Mitverantwortung für den viel zitierten "mexikanischen Drogenkrieg" hinweist. Das Buch ist ein detaillierter und interessanter Überblick über die Geschichte Mexikos, die aktuelle Innenpolitik und die Beziehungen zu den USA. So mancher mag angesichts der vielen Abkürzungen, Organisationen und Namen den Überblick verlieren. Für einen Einstieg in das Thema eignet sich das Buch nicht, dafür ist es zu komplex. Doch komplex ist eben auch diese mexikanisch-amerikanische Realität, ohne deren Verständnis auch die Krise nicht zu lösen ist.
    Carmen Boullosa und Mike Wallace:
    "Es reicht ! Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen." In der Übersetzung von Gabriele Gockel und Thomas Wollermann, Antje Kustmann Verlag, 288 Seiten, 19,95 Euro