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Droht im Irak ein neuer Bürgerkrieg?

"Es war ein Spannungszustand, der jetzt zum Ausbruch gekommen ist ", beschreibt Paul Freiherr von Maltzahn, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und ehemaliger Botschafter im Irak, das Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten. Wenn die Gruppen nicht wieder zusammenfinden, werde es "im nächsten Jahr sehr schwierig, zur Ruhe zu finden".

Paul Freiherr von Maltzahn im Gespräch mit Anne Raith | 23.12.2011
    Anne Raith: Dass es so einfach nicht werden würde, dass man mit einem simplen symbolischen Flagge einholen nicht einen jahrelangen Krieg für beendet erklären kann, das wussten nicht nur die Amerikaner. Dass die Lage im Irak jedoch so schnell nach dem Abzug wieder eskalieren würde, hat vielleicht doch überrascht. Zahlreiche Explosionen haben gestern die irakische Hauptstadt erschüttert über die ganze Stadt verteilt. In vielen Vierteln Bagdads explodierten Bomben, die über 70 Menschen töteten. Darüber wollen wir nun sprechen und am Telefon begrüße ich Paul Freiherr von Maltzahn. Er war von 2009 bis 2010 deutscher Botschafter im Irak und ist seit seiner Rückkehr Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Morgen!

    Paul Freiherr von Maltzahn: Guten Morgen, Frau Raith!

    Raith: Schiiten und Sunniten der Regierungskoalition schieben sich ja jetzt gegenseitig die Verantwortung zu. Wie ordnen Sie denn diese Serie von Bombenexplosionen ein?

    von Maltzahn: Ich würde die in einen etwas anderen Rahmen stellen. Ich fürchte, diese Bombenaktionen gehen aufs Konto der el Kaida im Irak, die in regelmäßigen, muss man leider sagen, Abständen zuschlägt und am liebsten mit symbolischem Gehalt – sei es gegenüber Regierungsinstitutionen, sei es gegenüber Botschaften, sei es gegen simplen Bürgern. Ich erinnere daran, dass Ostern letzten Jahres Attentate gleichzeitig gegen vier Botschaften verübt wurden, unter anderem auch die deutsche Botschaft. Jetzt steht das Weihnachtsfest vor der Tür, eine wunderbare Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen.
    Aber sehr viel mehr beunruhigt mich das politische Gefüge, nämlich die Machtspiele, die kein Ende nehmen. Diese Serie von Bombenattentaten wird mit diesem Jahr nicht zu Ende gehen, wird es weiter geben, aber irgendwann vielleicht auch ein Ende finden. Die Besorgnis, die ich habe, ist, dass die politischen Kräfte weiterhin nicht zueinanderfinden.

    Raith: Aus dem Weißen Haus heißt es ja nun, die Anschläge werden die Fortschritte im Irak nicht aufhalten. Aber Sie haben es angesprochen: Wenn man nach Bagdad schaut, auch auf den Zustand der tief zerstrittenen Regierung, kommt man zu einem anderen Ergebnis. Wohin soll das führen?

    von Maltzahn: Ja, das ist die Frage, ob eine gewisse Kompromissbereitschaft sich einsetzt. Von der ist bislang beim Premierminister nicht besonders viel zu spüren. Er hat ja schon in der Art und Weise, wie er sich an die Spitze der Regierung gesetzt hat, mit, ja man muss sagen, manchen Verfahrenstricks und sehr viel Überzeugungsarbeit, die teilweise auch im Nachbarland Iran getan wurde, eine eigene Koalitionsmehrheit zusammengebracht und damit den eigentlichen Sieger der Wahlen, die Iraqiya-Partei el Alaoui und den jetzt beschuldigten Vizepräsidenten Haschimi und den abgesetzten Vizepräsidenten Mutlaq ausgetrickst. Seitdem hat er seinen ungebändigten Machtwillen auch weiterhin unter Beweis gestellt, indem er es in einem Jahr nicht geschafft hat, die wichtigsten Positionen in der Regierung für Sicherheit, nämlich Innenministerium, Verteidigungsministerium und die Zuständigkeit für die Nachrichtendienste, nicht an Minister teilweise der anderen Koalitionspartner zu delegieren, sondern weiterhin bei sich selbst in seiner Person zu vereinigen.

    Raith: Kann man denn Nuri al Maliki – Sie sprechen ihn an, den Ministerpräsidenten – allein für diese Koalitionskrise verantwortlich machen?

    von Maltzahn: Nein. Es ist leider der Zustand des allgemeinen Misstrauens, das eben durch solche Maßnahmen weiterhin geschürt wird, zwischen den religiösen Gemeinschaften, Schiiten auf der einen Seite, Sunniten auf der anderen Seite. Und das Ganze hängt natürlich auch mit dem Syndrom zusammen, dass die Sunniten, die jahrzehntelang oder jahrhundertlang an der Macht waren, jetzt in die zweite Rolle oder vielleicht dritte oder gar die Versenkung gedrängt werden.

    Raith: Warum brechen diese alten Gräben jetzt wieder so ostentativ auf? Konnte man diese Entwicklung absehen? War das ein Burgfrieden, den die Amerikaner in irgendeiner Weise erzwungen hatten und der jetzt nach diesem Abzug erst wieder sichtbar wird?

    von Maltzahn: Es war kein echter Burgfrieden. Es war ein Spannungszustand, der jetzt zum Ausbruch gekommen ist, vielleicht, weil die Gelegenheit günstig erschien. Aber ich glaube, die einzelnen Elemente, die dazu geführt haben, lagen schon lange auf der Straße und es fing gleich mit der Regierungsbildung damit an, dass das dem Gegenspieler el Alaoui zugedachte Mandat als eine Art Koordinator für Sicherheitsfragen, dass dieses Amt nie geschaffen wurde. Und seitdem ist es im Grunde genommen nie zur Ruhe gekommen in der irakischen Hauptstadt.

    Raith: Sie sprechen es an: Es war ja ein monatelanges, ein sehr zähes Ringen, bis die Koalition überhaupt gebildet werden konnte. Wie kurz vor dem Scheitern steht sie nun? Was ist Ihre Einschätzung?

    von Maltzahn: Im Augenblick ist sie als Koalition vorübergehend gescheitert. Jetzt geht es darum, ob man sie wieder flicken kann, denn eigentlich führt kein Weg daran vorbei, dass die beiden Gemeinschaften - und die Iraqiya-Koalition von el Alaoui steht ja letztlich für die Interessen auch der Sunniten -, dass diese beiden Gemeinschaften in der einen oder anderen Form wieder zusammenfinden, in welcher Form auch immer. Aber sonst ist es für den Irak im nächsten Jahr sehr schwierig, zur Ruhe zu finden.

    Raith: Was glauben Sie, was dem Land droht? Es ist in manchen Artikeln nun schon zu lesen, dass ein Zerbrechen des Staates droht. Fürchten Sie das auch?

    von Maltzahn: Mit diesem Gedanken haben die politischen Kräfte eine Zeit lang gespielt, bis sie die Rechnung aufgemacht haben. Ich glaube nicht, dass es zu der seinerzeit erwogenen Dreiteilung kommt. Eine faktische Zweiteilung haben wir ja jetzt schon zwischen dem arabischen und dem kurdischen Teil des Iraks. Der nördliche Irak, der kurdische Teil, ist nicht nur im Namen autonom, sondern weitgehend auch unabhängig in seinem Tun, ist sich aber auch bewusst, dass weder die Regionalmächte, noch die ökonomischen Interessen es letztlich erlauben, sich völlig für unabhängig zu erklären. Aber auch da tut sich eine Bruchlinie auf, solange man da auch keine Kompromisse findet in der Frage der Grenz- und Demokrationsziehung zwischen den Interessensgebieten der Araber und der Kurden. Da gibt es ja diese sogenannten disputed areas mit der Stadt Kirkuk im Zentrum und da gibt es vor allem auch die Frage des Ausgleichs der Öleinnahmen-Interessen. All diese Fragen, die die Regierung hätte angehen sollen, sind bislang ungeklärt geblieben. Insofern gibt es enorme Probleme, die auf die Regierung Maliki oder auf eine Nachfolgeregierung zukommen.

    Raith: Heute will die Regierungskoalition einige dieser Probleme angehen, in einer eilig einberufenen Krisensitzung. Was muss passieren, damit diese Schritte in die richtige Richtung eingeleitet werden, wenn sie das überhaupt können?

    von Maltzahn: Der erste Schritt muss sein, dass man wieder eine Kommunikation herstellt zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Teil, denn die Mitglieder der Iraquiya-Koalition haben ja die Regierung verlassen. Insofern muss man da wieder einen Modus vivendi herstellen.

    Raith: Der ehemalige deutsche Botschafter im Irak, Paul Freiherr von Maltzahn, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Heute ist er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Haben Sie herzlichen Dank!

    von Maltzahn: Vielen Dank, Frau Raith, und frohe Weihnachten dennoch.

    Raith: Ihnen auch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.