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Drucksachen: "Blätter"
"Wir sind ein Projekt der völligen Unabhängigkeit"

Kritische Kommentare, Analysen und Alternativen: Die "Blätter für deutsche und internationale Politik" haben den Anspruch, "sich den universalistischen Werten, den Menschenrechten, aber auch einem liberalen Verständnis verpflichtet zu sehen", sagte der politische Publizist, Jurist und "Blätter"-Redakteur Albrecht von Lucke im Deutschlandfunk.

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Natascha Freundel | 10.07.2016
    Albrecht von Lucke
    Der Politikwissenschaftler, Publizist und Jurist Albrecht von Lucke (dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Die "Blätter" verstehen sich als Forum für aktuelle wissenschaftliche und politische Diskussionen und entstehen unabhängig von Konzernen, Parteien, Verbänden und Kirchen. Ein Herausgeberkreis, der den Anspruch einer emanzipatorischen Analyse politischer Debatten teilt, unterstützt die Redaktion der schon seit 1956 bestehenden "Blätter", die Karl Barth einmal "eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn" nannte.
    Albrecht von Lucke, 1967 geboren, lebt seit 1989 in Berlin. Er ist Jurist und Politikwissenschaftler sowie politischer Publizist. Seit 2003 ist er Redakteur der renommierten politischen Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik".
    (Teil 3 am 17.7.16)

    Natascha Freundel: Vorab fünf Zitate aus fünf jüngeren Ausgaben der Blätter: "Der Sozialstaat muss für alle, auch für Deutsche wieder ein Wort mit konkretem Inhalt werden." "Der Legitimationskrise der universellen Werte der Demokratie ist nur mit einem sozialen Universalismus in Wort und Tat beizukommen." "Der Internationalismus der Linken hat seine Bewährung in Theorie und Praxis noch vor sich." "Die gesetzlich geschützte Pressefreiheit muss dringend neu mit Leben gefüllt werden." Und: "Der "Postkapitalismus wird ein Wirtschaftssystem sein, das auf menschlichen Faktoren beruht." Die Blätter für deutsche und internationale Politik sind eindeutig Blätter für linke Politik - oder, Albrecht von Lucke?
    Albrecht von Lucke: Das kann man durchaus so sagen. Die Blätter haben jedenfalls den Anspruch - und das, finde ich, kommt in diesen Zitaten sehr gut zum Ausdruck -, sich den universalistischen Werten, den Menschenrechten, aber auch natürlich einem liberalen Verständnis verpflichtet zu sehen, einem liberalen Verständnis, das natürlich dann weit über bloße Deutschen- oder Staatsbürgerrechte hinausgeht, sondern die menschenrechtlichen Kategorien im Blick hat, also natürlich damit, wie es auch der Name der Blätter sagt, Blätter für deutsche und internationale Politik sind.
    "Linkes Denken hat die Menschenrechtsfrage im Blick"
    Freundel: Eines der von mir herausgepickten Zitate stammt von dem Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, der in den Blättern vom März das alte Denken der neuen Rechten analysiert und dabei auch die Schnittmengen zwischen linken und rechten Positionen verdeutlicht, zum Beispiel in der Kapitalismuskritik oder der USA-Kritik. Was ist denn für Sie, Albrecht von Lucke:, eine linke Haltung, die sich eben nicht mit dem rechten Denken verbrüdern lässt?
    von Lucke: Das ist natürlich eine ganz große Frage, vielleicht die größte, die Grundsatzfrage. Linkes Denken - und da versuche ich durchaus, im Kontext der Blätter zu sprechen und dessen, was die Blätter sich zu eigen machen - ist natürlich zunächst einmal eines, wie wir schon sagten, das die Menschenrechtsfrage, die Frage der gleichen Rechte für alle im zentralen Blick hat. Also, man kann fast zu den Werten der Französischen Revolution natürlich zurückgehen, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und Freiheit eben immer nur zu denken im Sinne der gleichen Rechte für alle. Damit kommt die universalistische Kategorie notwendigerweise hinein. Und wenn Sie gerade diesen großen Text von Micha Brumlik nannten, also der da den Titel ja nicht ohne Grund trägt, "Das alte Denken der neuen Rechten", dann ist genau dieses identitäre Denken, was er dort identifiziert, eines, das sich von Heidegger über Evola bis zu Alexander Dugin, dem russischen Vordenker ethnopluralistischer Ideen von Putin spannt, dann ist genau dieses identitäre Denken, das Denken immer nur als ein Denken des eigenen gegen die anderen denkt, die fernzuhalten sind, genau das nicht linke Denken. Also, man kann meines Erachtens in der Tat ein universalistisches linkes Denken einem rechten, identitären gerade in diesen Zeiten wieder sehr stark entgegensetzen. Und ich glaube, da entbrennt sich eine neue Polarisierung und ein neuer Konflikt ganz anderer und stärkerer Art als vielleicht in letzteren und jüngeren Jahren.
    Freundel: Und jetzt noch ein Zitat aus dem Juni-Heft der Blätter, da heißt es: "Echter Wertkonservatismus im Sinne der Bewahrung der Schöpfung, vulgo der natürlichen Lebensgrundlagen verlangt die fundamentale Infragestellung des ressourcenverschlingenden kapitalistischen Produktions- und Konsummodells." Mit diesen Worten lesen Sie, Albrecht von Lucke, der ersten grün-schwarzen Koalition im Lande die Leviten. Der Wertkonservatismus, auf den sich Winfried Kretschmann und Thomas Strobel in Baden-Württemberg berufen, der ist in Ihren Augen eine leere Phrase, solange er weiter auf die Wahrung nur wirtschaftlicher Werte setzt. Also, plötzlich verteidigen Sie einen radikalen Konservatismus, könnte man meinen.
    von Lucke: Ja, und ich glaube, das ist eine Tradition, die ja nicht bei mir beginnt. Ich berufe mich nicht ohne Grund, wie ich glaube, auf Erhard Eppler, der bereits in den 70er-Jahren zu Recht, wie ich finde, Strukturkonservatismus von Wertkonservatismus unterschieden hat und damit deutlich machte - man muss es mal zuspitzen -, dass letztlich der Strukturkonservative, der bloße Strukturen - nennen wir es konkret in Württemberg eine ressourcenverschlingende Automobilindustrie - verkörpernde Konservatismus sich zu unterscheiden weiß beziehungsweise zu trennen ist von einem Wertkonservatismus, der auf die wirklichen konservativen Werte, die da lauten Bewahrung der Schöpfung im christlichen Sinne, wenn man es auf die CDU münzt, oder auch die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen als die Notwendigkeit der Ermöglichung weiteren Lebens setzt. Diese große Unterscheidung ist eine, die meines Erachtens auch heute eine ist, die eigentlich fast zwischen Rechts und Links verläuft. Auch schon Erhard Eppler wusste natürlich, dass Wertkonservative durchaus Linke sein können. Hier ist also eine Tradition im Spiel, die den Begriff des Wertkonservativen nicht gleichsam an die Rechte aufgeben will. Und ich glaube, das ist eine heute ganz wichtige Frage, da wir doch erleben, dass auch konservative Themen neu in den Mittelpunkt geraten. Und dort gilt es auch, von der Linken Ansprüche geltend zu machen und kenntlich zu machen, dass sie nicht an die Rechte einfach zu verlieren sind.
    Freundel: Immerhin spricht ja auch die AfD von einem modernen Konservatismus.
    von Lucke: Ja, sie sagt sogar mit ihrem Sprecher Jörg Meuthen, sie wolle selber wertkonservativ sein. Und da, meine ich, wird es ganz entscheidend, nämlich die große Frage: Ist die AfD konservativ, wertkonservativ gar, also in einem wie von mir eben formulierten Sinne, der dann eben durchaus linker Implikation sein müsste … Erhaltung der Schöpfung beziehungsweise auch durchaus Gleichberechtigung, universalistische Werte, nämlich Werte für alle, die da auch überhaupt nur bedeuten würden, dass zum Beispiel die Schöpfung, die Ressourcen bewahrt werden können, wenn wir denn bereit sind, eben wie es das Zitat zum Ausdruck bringt, am Kapitalismus Reduktionen, Veränderungen vorzunehmen? Oder heißt Wertkonservatismus - so jedenfalls im rechten Verständnis der AfD - Ausgrenzung der anderen? Und das wäre eben im Epplerschen oder linken Sinne eines Wertkonservatismus gerade nicht konservativ, es wäre rechts.
    "Wir haben so etwas wie eine Politisierung von rechts"
    Freundel: Die neuen Rechten insbesondere in Gestalt der AfD sind ja schon seit Längerem Thema in den Blättern. Sie, Albrecht von Lucke, haben schon vor dem Höhenflug der AfD bei den Landtagswahlen im März geschrieben, die AfD ist nicht stark aus eigener Kraft, sondern sie profitiert von der Schwäche ihrer Gegner. Nun ist der von Pegida bekannte Populismus in den Landtagen angekommen, aber was bedeutet das konkret für ein populismuskritisches, humanistisches, universalistisches Denken? Müssen wir die neue Rechte überall in Europa als Herausforderung begreifen? Sind das vielleicht sogar gute Zeiten für eine politische Neubesinnung und damit auch gute Zeiten für eine politisch linke Zeitschrift?
    von Lucke: Die Herausforderung ist es fraglos. Und, wie wir gerade erleben, ja in ganz Europa. Wenn wir die jüngsten Ereignisse in Österreich betrachten, wenn wir die Sorge in Frankreich uns vor Augen führen, dass Le Pen einen Siegeszug bei den nächsten Parlaments- und Präsidentenwahlen feiern wird, und in alle anderen Ländern, in Ungarn, Polen und selbst Skandinavien als die vermeintlich urliberalen Staaten Europas schauen, dann ist so etwas am Platze wie eine flächendeckende rechtspopulistische Attacke. Das ist aber genau, wie Sie sagen, natürlich auch eine Zeit der möglichen Politisierung der ganzen Gesellschaft und damit etwas, was auch den Rest der Gesellschaft als Herausforderung aufzuwecken in der Lage ist. Das heißt in der Tat, dass ich glaube, wir können durchaus auch eine Chance darin sehen. Ich überspitze, wir haben so etwas wie eine Politisierung von rechts, die wir Ende der 60er-Jahre, ‘68 wie eine Politisierung von links erlebt haben. Und diese Politisierung von links führte auch zu einer Politisierung auf der konservativen Seite. Die CDU/CSU hat sich anschließend unter Helmut Kohl ironischerweise, der zum Reformer sich aufschwang, politisiert, sie ist in einem Maße reformfähig gewesen, wie man es davor der Honoratiorenpartei CDU/CSU gar nicht zugetraut hätte. Und heute meine ich tatsächlich, dass auch die Linke und auch die Liberalen sich gezwungen sehen, ihr Profil aufgrund der rechten Herausforderung zu schärfen, aber gerade nicht den Rechten hinterherzulaufen. Das ist die große Frage und die große Herausforderung dieser Gesellschaft.
    "Die 'Blätter' sind in keinster Weise eng geführt"
    Freundel: Nun, Sie haben es erwähnt, sind die Blätter nicht nur eine Zeitschrift für deutsche, sondern eben auch für internationale Politik. Und Sie nehmen die weltweite Entwicklung immer wieder in den Blick. Lateinamerika ist immer wieder ein Thema, aber eben auch die USA. Im Mai zum Beispiel haben Sie einen Text von John McCain aus der New York Times abgedruckt, in dem der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Republikaner ausgerechnet ein Loblied auf einen US‑amerikanischen Kommunisten singt, der im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft hat. Wie findet so ein Text seinen Weg in die Blätter?
    von Lucke: Nun, Sie sehen daran, dass die Blätter in keinster Weise eng geführt sind. Wenn also John McCain, den wir natürlich in vielen Punkten - nicht nur seiner Außenpolitik halber - nicht nur schätzen, wenn aber ein solcher Mann, der ja eine eigene, zutiefst beeindruckende Kriegserfahrung hat als Gefangener im Vietnam-Krieg, hochgradig unter dem Kriege leidend, wenn er in der Lage ist, ein Loblied auf einen Kommunisten anzustimmen, der im spanischen Bürgerkrieg offensichtlich auf der richtigen, in seinem Sinne auf der freiheitlichen Seite gekämpft hat und dort sich Meriten verdient hat, dann ist das für uns Ausdruck doch einer beeindruckenden Tatsache. Und da sind wir auch in der Lage natürlich, John McCain, der hier, glaube ich … Ich kann es Ihnen, glaube ich, noch nicht mal ganz genau sagen, ob über The Nation möglicherweise oder Project Syndicate, einen der möglichen Anbieter, die uns durchaus mit Debattenbeiträgen internationaler Couleur aushelfen beziehungsweise auf die wir zugreifen, um eine Position in diesem Bereich kenntlich zu machen, die besonders heraussticht. Und in diesem Falle eben John McCain.
    "Wir sind ein Projekt der völligen Unabhängigkeit"
    Freundel: Die internationalen Verbindungen der Blätter sind ja auch schon dem Kreis der Herausgeber zu entnehmen. Dazu gehören eben nicht nur Jürgen Habermas, Micha Brumlik, Claus Leggewie oder Friedrich Schorlemmer, sondern auch die türkisch‑amerikanische Philosophin Seyla Benhabib oder der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum, der israelisch-deutsche Historiker Dan Diner oder die niederländisch-amerikanische Soziologin Saskia Sassen. Das heißt, die Blätter haben eine starke Verbindung in die US-amerikanische akademische Welt der Human Studies. Aber welchen Einfluss haben die Herausgeber auf die Arbeit der fünfköpfigen Redaktion, der Sie angehören?
    von Lucke: Nun, zunächst einmal ist es ein großes Glück, dass wir mit den Herausgebern - und Sie sagen es zu Recht -, die sowohl dem nationalen liberal-linken Spektrum entstammen, aber genauso dem angelsächsisch/US-amerikanischen vor allem, so etwas haben wie eine Beglaubigung der relevanten liberalen Stimmen dieser Öffentlichkeit. Das ist natürlich für uns eine Unterstützung eher der symbolischen Art, denn wenn wir von den Herausgebern profitieren im direkten Sinne, dann ob der Tatsache, dass wir von ihnen starke Texte bringen. Von Jürgen Habermas in den letzten Jahren immer wieder, aber auch von all den anderen. Das heißt, diese Form der möglichen Verstärkung der intellektuellen Schlagkraft der Blätter ist das, was uns die Herausgeber bieten neben der Tatsache, dass sie ihren guten Namen für dieses Projekt zur Verfügung stellen. Eine direkte Einflussnahme, die gibt es gar nicht. Und das ist natürlich für uns als Redaktion aus fünf Personen, die völlig unabhängig agiert, ganz entscheidend. Wir sind, und das macht uns auch so eigen, ein Projekt der völligen Unabhängigkeit. Das liegt an der Stärke unserer Auflagen. Wir sind ein im Vergleich zu anderen Organen auflagenstarkes Blatt. Wir haben 10.000 Auflage und 8.000 Abonnenten. Das ermöglicht es uns, frei und unabhängig zu publizieren, und es ermöglicht uns als kleiner Redaktion, aber schlagkräftiger Redaktion, der eben fünf Personen angehören, unsere Arbeit unabhängig zu machen. Und das sind - ich kann Ihnen Namen, und das möchte ich sehr gern - nennen. Das sind Annett Mängel, Daniel Leisegang, Anne Britt Arps und Steffen Vogel und ich, die eben mit fünf Kräften dieses Blatt führen.
    "Wir haben nicht so etwas wie eine vorgegebene Linie"
    Freundel: Eine, wenn man sich die Jahrgänge anschaut, doch andere Generation als die meisten der Herausgeber. Sie sind mit Jahrgang '67 gewissermaßen ein Bindeglied zwischen den anderen Mitgliedern der Redaktion, die alle so um die zehn Jahre jünger sind als Sie, und den Herausgebern - na ja, wir haben Jahrgänge noch aus den Zwanzigern mit Birnbaum und Habermas. Wir haben eine breite Front der sogenannten Achtundsechziger, also der 1968 politisierten Intellektuellen. Erleben Sie da auch Spannungen zwischen den Generationen, Albrecht von Lucke?
    von Lucke: Nein. Das ist das Fantastische. Wir haben jedes Jahr eine Herausgeberkonferenz, bei der sich dann zu diesem Zweck Redaktion und Herausgeberschaft einen Tag lang richtig in Klausur, aber intellektuell-inhaltliche Klausur begeben. Man diskutiert die großen Fragen dieser Gegenwart, und leider haben wir ja nun seit gut zehn Jahren die allergrößten Fragen und Herausforderungen, und dort ist allergrößtes Einvernehmen. Das heißt, es gibt natürlich Konflikte, es gibt inhaltliche Auseinandersetzungen, aber wir haben nicht so etwas wie eine vorgegebene Linie. Es gibt eine Debattenbereitschaft, eine Diskussionsbereitschaft, und das verbindet über die Generationen und Jahrgänge hinweg. Aber Sie sagen eines völlig zu Recht: Es gibt natürlich in der Geschichte eine gewisse Fokussierung dieses Blattes in den älteren Generationen auf die ‘68er-Generation. Das ist tatsächlich die Ausstrahlung nach hinten, wenn man so sagen darf. Jürgen Habermas war ja gleichermaßen Kritiker, aber auch ein sehr wohlwollender Kritiker der Achtundsechziger, der in dieser Generation so etwas wie ein - ja, wie er es sagte, eine Fundamentalliberalisierung der knöchernen Gesellschaft sah. Und im Zuge dessen sind auch die nachfolgenden Jahrgänge politisiert worden. Das heißt, es ist schon so etwas, wie es ja dann der Bayernkurier auch sagte, die Blätter als das Organ der APO. Das war zeitweilig der Nukleus, und das strahlt bis heute aus, und in der Tat sind selbst wir als Redaktion natürlich in diesem Lande noch durch die Folgen von '68 in Bejahung, aber durchaus in Teilen auch in Absetzung geprägt.
    Freundel: Interessant. Sie beschreiben auf Ihrer Webseite für das Jahr 1968 - oder Sie zitieren den Bayernkurier mit den Worten, die Blätter für Deutsche und Internationale Politik seien das Zentralorgan der APO gewesen. Nun findet man ähnliche Zitate auch, wenn man sich informiert über das Kursbuch beispielsweise. Und ich, die nun weit entfernt ist davon, von '68 geprägt zu sein, frage mich: Gab es damals mehrere Zentralorgane, ging das Hand in Hand, hat man es in den Spätsechzigern, 70er‑Jahren einfach mit einer Theoriegier, Neugier, Diskussionsgier zu tun, die hier und da sich in den intellektuellen Zeitschriften in unterschiedlichster Weise fortsetzt heute?
    von Lucke: Letzteres ist, finde ich, eher zweifelhaft. Ersteres stimmt ohne Frage. Wir haben es in der Tat - und man tut den Blättern nicht Unrecht, wenn man sagt, beim Kursbuch mit Sicherheit, mit einem genau so wichtigen Organ der APO zu tun, in einer anderen Weise. Das Kursbuch war nicht in dem Maße klar einer gewissen Strömung später zugeschrieben. Die Blätter hatten eine klare Links-DKPistische Schlagseite in den 70er-Jahren zeitweilig. Das Kursbuch war als Enzensberger-Organ natürlich in einer anderen Richtung orientiert. Das heißt, hier gab es viel mehr an Konkurrenz. Es gab hier viel mehr an Auseinandersetzung. Aber in all diesen Zeitschriften fand sich die starke Strömung durch '68 verkörpert wieder, und sie hatten einen starken Disput. Wenn wir noch an andere Organe denken wie das Argument und einige andere, die es damals gab und die es ja heute auch in kleinerer Form noch gibt, wenn es auch, und das ist das Interessante, seitdem einen enormen Schwund an Zeitschriften gegeben hat. Die Blätter sind tatsächlich - neben dem Kursbuch, aber mit dem großen Unterschied, dass das Kursbuch von einem großen Verlag gehalten wird - wie übrigens alle anderen großen Zeitschriften, die es noch gibt, sogar aus der ganz alten Zeit der Zeitschriftentradition - wenn wir an den Merkur denken oder an die Frankfurter Hefte, die später mit der Neuen Gesellschaft zusammengegangen sind - diese Zeitschriften haben alle in der Regel Verlage im Hintergrund, wenn nicht sogar eine Partei, wie die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte als Organ der SPD beziehungsweise der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Blätter sind insofern ein Unikat, als sie als einzige völlig unabhängig sind. Und das ist schon etwas Originäres. Und ich würde mir manchmal ja sogar die alten Zeiten stärker herbeiwünschen, in denen tatsächlich so etwas wie eine fruchtbare Kontroverse zwischen den verschiedenen Zeitschriften stattgefunden hat. Heute, würde ich sagen, sind die Verbliebenen doch gewisse Leuchttürme, die noch existieren, aber der ganz große Disput, wie er übrigens interessanterweise noch stärker als '68 in den Anfangsjahren der Republik existierte, mit dem Ruf, mit dem Monat, mit einer wirklichen intellektuellen Neugierde nach der Katastrophe des Nationalsozialismus, nach also der Indoktrination, die keine freie Debatte zuließ. Diese Zeiten sind ein Stück weit vorbei, und ich hoffe durchaus, dass wir vielleicht heute - wir sprachen davon - eine Politisierung im positiven Sinne erleben, dass wieder so etwas stattfindet wie eine Reorganisation der Debatte über unsere Zeitschriftenlandschaft.
    Freundel: Würden Sie sagen, dass sich in den Blättern der Ton der Dringlichkeit, des Appellierens über alle Zäsuren, alle Zeitenwenden, '89 und dann auch der Umzug von Bonn nach Berlin, dass sich dieser Ton der Dringlichkeit erhalten hat? In anderen Zeitschriften erlebt man ja eher so ein Interesse an essayistischer Schärfe, den ich jetzt in den Blättern nicht unbedingt so finde.
    von Lucke: Ich glaube, man trifft es in der Hinsicht, wenn man sogar noch sagt, ein Ton der Dringlichkeit, das ist richtig, und auch der politischen Ernsthaftigkeit. Die Blätter sind, wenn man sie auch in der Genese unterscheidet, durch alle drei Epochen, die man ziemlich genau unterscheiden kann, in ihrer Verpflichtung auf ein hochgradiges politisches Engagement gleich geblieben. Auch in dem Willen übrigens zur politischen Intervention, wenn auch jeweils in unterschiedlicher Tonlage. Denn auch in der Anfangszeit, die ja eine völlig andere war als die der 60er-, 70er-Jahre, die dann erst '89 endete im harten Sinne mit dem Ende auch der DDR, und damit einem Entlassen der Blätter in die Unabhängigkeit, die aus dem Pahl-Rugenstein-Verlag hinaustraten und völlig unabhängig dann 1989 wurden mit einer schon damals sehr großen Auflage und starken Abonnentenschaft. In dieser Vorzeit, zu Anfang der Bundesrepublik, war die politische Ausrichtung ja eine völlig andere, und aber auch damals mit großer Ernsthaftigkeit verfochten, nämlich eine neutralistische, anti‑Adenauersche Position, die dort für die Einheit Deutschlands plädierte und deshalb klar einen Anti-Adenauer-Kurs formulierte. Und das war interessanterweise die politischen Lager weit übergreifend. Es war ein Angehöriger mit Hermann Etzel der Bayernpartei dabei, es war mit Paul Neuhöfer ein Kommunist dabei, aber es waren auch andere, völlig unabhängige große Namen dabei, die sich stark machten für einen gemeinsamen nationalen Weg gegen die Westorientierung und die klare ein Stück weit auch Bereitschaft, die Teilung zu akzeptieren, von Adenauer. Da war die Ernsthaftigkeit schon da, und das setzte sich in der Tat in den 70er-, 80er-Jahren fort und ist bis heute, würde ich sagen, mit dem Willen, Politik als das Schicksal hinzunehmen, man kann es fast so formulieren, gleich geblieben.
    "Wir haben an Stärke enorm zugelegt"
    Freundel: 2004 zog die Redaktion, wir hatten es eben schon angesprochen, von Bonn nach Berlin um. Sie, Albrecht von Lucke, haben ein Buch geschrieben über Die gefährdete Republik in Bezug auf die Gefährdung der alten Werte der Bundesrepublik mit dem Umzug von Bonn nach Berlin. Nun war der Umzug der Zeitschrift sicher keine Gefährdung, aber eine Erneuerung. Das aktuelle Redaktionsteam ist mit diesem Umzug sozusagen angetreten. Was war denn damals, 2004, Ihr Impuls, zu sagen, ja, ich werde Redakteur bei den Blättern?
    von Lucke: Ich persönlich war zu dem Zeitpunkt schon ein paar Jahre Korrespondent in Berlin gewesen, freier Publizist durchaus, aber für die Blätter immer wieder in verschiedenen Funktionen tätig, vor allem als Autor, als Kommentator und aber auch durchaus als jemand, der versuchte, andere Autoren zu werben, zu Veranstaltungen zu gehen und dergleichen. Aber in dem Jahr fand so etwas statt wie der große - und das ist für alle Zeitschriften ein Stück weit, glaube ich, entscheidend, Generationswechsel innerhalb der Blätter. Der Vorgänger, der mit seinen Kollegen über lange Jahre die Blätter geführt hatte, Karl D. Bredthauer, der eigentlich seit '68 diese Zeitschrift wesentlich geprägt hatte, war bereit zu sagen, ich gebe das Blatt ab. Und damals waren es meine Kollegen Annett Mängel und ich, die sagten, ja, wir sind willens, das Blatt fortzuführen, wir übernehmen den Stab in gewisser Weise, aber uns war klar, dass wir beide, da wir den Lebensmittelpunkt in Berlin hatten, sagten, da spielt ein Stück weit auch die politische Musik, aber wir werden die Blätter in der Tradition fortführen, aber wir machen es von Berlin aus. Und das hat sich, glaube ich, in der Tat, nicht primär der Nähe zur Politik wegen, aber trotzdem, dem stärkeren Sensorium zu den Themen wegen, nicht als Schaden herausgestellt, sondern es war ein Stück weit ein Glücksfall, und seitdem haben wir uns, ja, man kann sagen, in der Kontinuität erneuert. Wir haben an Stärke enorm zugelegt.
    Freundel: Der Begriff der Generation, Albrecht von Lucke, ist eben schon gefallen. Sie sind ein Kenner der ‘68er-Generation, haben auch darüber ein Buch geschrieben und immer wieder argumentiert, die Achtundsechziger, die sogenannten, seien vielleicht die letzte politische Generation hierzulande, wenn man davon ausgeht, dass politische Generationen aus Krisen und inneren Konflikten oder polarisierenden Ereignissen hervorgehen. Wenn wir nun die aktuelle Flüchtlingskrise und die damit verbundene Krise der Europäischen Union betrachten, dann haben wir ja wieder sehr starke, polarisierende Ereignisse. Erwarten Sie eine neue politische Generation, oder haben wir die vielleicht schon mit einer ja nun rechten APO?
    von Lucke: Ja, ganz ersichtlich. Wir haben so etwas wie eine neue radikal polarisierende Lage. Ich würde tatsächlich sagen, dass wir - denken wir nur an dieses Wort von der "Herrschaft des Unrechts" von Horst Seehofer. Ein ganz fatales Wort, wie ich meine, des letzten Jahres, das den Eindruck erweckt, wir würden hier regelrecht in einem Unrechtsstaat leben. Das zeigt, dass wir mittlerweile mit Begriffen konfrontiert sind, die so hart in die Polarisierung gehen, die ja übrigens mitten durch die Parteien und Schwesterparteien gehen. Wenn Sie sehen, welcher Konflikt zwischen CSU und CDU ausgebrochen ist. Das heißt, die Polarisierung ist in einem Maße wieder gegeben, wie wir sie, und da gebe ich Ihnen recht, wahrscheinlich seit '68 nicht mehr erlebt haben. Und das macht es so interessant, sich zu fragen: Ist das, was '89 ausgeblieben ist, und das ist ja bis heute ein zu erklärendes Phänomen, warum konnte das wesentlich geschichtsträchtigere Datum '89 nicht in dem Maße eine politische Generation prägen wie '68? Meine These: weil es in primärer Hinsicht doch ein Datum der Freude gewesen ist, in weiten Teilen eher von Zustimmung geprägt, der erst nach und nach Momente der Absetzung kamen, vor allem im Osten die Enttäuschung. Aber in erster Hinsicht war es ein Datum der Zustimmung. '68 war ein Jahr radikalen Konfliktes, beginnend mit dem Tode Benno Ohnesorgs bereits im Jahr '67. Dieses Datum, das übrigens auch Vorläufer hatte - wir denken an die Spiegel‑Affäre, all das ist in den Sechzigern passiert - dieses Phänomen einer Politisierung und Radikalisierung von links meine ich, könnte sich in der Tat von rechts wiederholen. Und das wirft für unsere Gesellschaft, wie übrigens in allen anderen europäischen Staaten die Frage auf, haben sie auch genug Substanz - und deshalb der Titel meines zweiten Buches dann, Die gefährdete Republik -, haben sie die Substanz, einem neuen Freund-Feind-Denken zu widerstehen und die demokratischen Errungenschaften, die ja auch linke Errungenschaften sind, universalistische Werte hochzuhalten, eine Offenheit der pluralen, liberalen Gesellschaften zu gewährleisten, haben sie die Substanz, diese Gesellschaften wirklich zu schützen. Das ist meines Erachtens die entscheidende Frage, und ich glaube, darüber kann eine neue Polarisierung und eine neue Politisierung einer Generation vonstatten gehen.
    "Heute der Konflikt zwischen den Generationen fast unmöglich"
    Freundel: Aber warum ist es so schwer, eine starke linke Bewegung in Gang zu setzen? Intellektuelle auch in den Akademien lesen wieder Karl Marx, kapitalismuskritische Autoren ziehen Tausende Menschen an - Sie erleben es selbst bei Ihren Democracy Lectures. Sie haben Thomas Piketty eingeladen, Sie haben Naomi Klein eingeladen, Sie haben in diesem Jahr Paul Mason eingeladen mit seinem Buch zum Postkapitalismus. Da kommen sehr viele Zuhörer, aber eine starke Bewegung formiert sich nicht.
    von Lucke: Der ganz große, ich meine kategoriale Unterschied ist gerade, wenn wir noch mal die Parallele zu den 60er-Jahren bemühen, ist der, dass das Empfinden in allen westlichen Staaten doch das war, dass sie es mit radikal autoritären Demokratien zu tun haben, mit Demokratien, die dem Einzelnen nicht das richtige Maß an Beteiligung, Partizipation ermöglichen. Heute haben wir es letztlich mit einem hochgradig liberalen System zu tun, mit liberalisierten Gesellschaften, was ja fast sogar in die Generationsfrage hineingeht, während in den Sechzigern es autoritäre Elternhäuser waren, ist heute der Konflikt zwischen den Generationen fast unmöglich, wie viele Jüngere sagen, weil sie gar keine Möglichkeit haben, sich gegen ihre fundamentalliberalen Eltern aufzulehnen. Das heißt, diese Grundfrage, gegen was ist zu agitieren, stellt sich heute anders. Heute ist es eine Verteidigungsposition, es ist nämlich die Frage aufgeworfen, wie verteidigen wir das Erreichte, in vielerlei Hinsicht. In sozialer Hinsicht - wie ist die europäische Union, der europäische Gedanke zu verteidigen, als eine ganz große Frage, nämlich das soziale Projekt Europa, aber auch die Frage natürlich, wie werden die liberalen Gesellschaften verteidigt gegen einen Freund-Feind-Angriff und genau gegen so etwas wie dieses neue identitäre rechte Denken, das primär das Eigene definiert und den Fremden, den Feind als Feind identifiziert und ausgrenzt, also eine neue Carl-Schmittsche Fragestellung, die den anderen als Feind begreift. Dagegen die Demokratie zu verteidigen, die man vermeintlich noch immer als Selbstverständlichkeit weiß, und das ist ja noch immer das Empfinden von vielen, glaube ich, das ist die große Herausforderung. Und da fällt Politisierung und Polarisierung ersichtlich schwerer als gegen ein autoritäres System sich wehren zu müssen.
    "Der Anspruch der Blätter ist auch der der Intervention"
    Freundel: Um noch einmal auf die Politik der Blätter selbst zurückzukommen, also die "Blatt"-Politik, wie bringt man so eine Zeitschrift heute, eine sehr nüchtern ja daherkommende Zeitschrift, unter die Leute? Wir haben über den Auftritt von Paul Mason gesprochen, über Ihre Democracy Lectures - welche Funktion haben diese öffentlichen Veranstaltungen für das gedruckte Wort in den Blättern?
    von Lucke: Sie sind insofern wichtig, als sie deutlich machen, dass der Anspruch der Blätter auch der der Intervention ist. Dass wir uns nicht damit begnügen, eine wissenschaftliche Zeitschrift zu sein. Das sind wir zum Teil. Wir sind aber immer auch, und deswegen begreifen wir uns ja als eine politisch-wissenschaftliche Zeitschrift, wir sind auch immer willens und bemüht, das macht eigentlich das Credo aus, journalistisch, aber auch politisch zu intervenieren. Und dieser Anspruch funktioniert natürlich auch stark, wenn man obendrein mit einem so guten Kooperationspartner wie dem Haus der Kulturen der Welt in einem großen Maße in die Öffentlichkeit treten kann. Und das ist uns mit der Veranstaltung, die wir jetzt seit drei Jahren betreiben, mit Thomas Piketty, mit Naomi Klein und Paul Mason in besonderer Weise gelungen. In Berlin, das ja wenig darüber klagen kann, dass es keine Konkurrenz gäbe beziehungsweise dass es an Veranstaltungen mangelte, ist es schon eine Leistung, bis zu 3.000 Leute plötzlich ins Haus der Kulturen der Welt zu holen. Das hat Aufhorchen lassen und das zeigt, dass die Blätter einen öffentlichen Raum auch bespielen wollen. Und das ist gewissermaßen das, was korrespondiert mit unserem Wachstum als Zeitschrift. Denn wir müssen sagen, das ist das Interessante, wir erleben gegenwärtig, trotz des Zeitschriften-, des Zeitungensterbens und des Rückgangs, dass man mit Zeitschriften wachsen kann. Wir wachsen pro Jahr um 300 Abonnenten. Das ist also ein Wachstum gegen den Trend, und wir sehen, dass das Bedürfnis nach Orientierung, nach politischer Orientierung wächst und die Leute zu einer Zeitschrift - wie Sie sagten - so puristischer Art, eine Bleiwüste, wie wir sagen - wir haben keine Illustrationen, wir haben keine Bilder, nein, es ist reiner Sachverhalt, reiner Inhalt, reine Buchstaben. Die Menschen greifen dazu und wollen sich orientieren über die großen, drängenden Herausforderungen dieser Zeit.
    Freundel: Und auch der digitale Auftritt ist für Sie wichtig. Aber dennoch bleibt das gedruckte Wort, die Bleiwüste, die Hauptspielfläche, Albrecht von Lucke.
    von Lucke: Das kann man sagen. Aber wir sind sehr glücklich, dass wir aufgrund auch eines unserer Kollegen, Daniel Leisegang, der eine große Gabe für den Internetauftritt auch hat und als Mann der Medienlandschaft und der Medien dort sehr viel investiert, in der Lage sind, einen sehr guten Auftritt auch zu haben. Also das heißt, die neuen Medien spielen zunehmend eine Rolle. Wir sind natürlich auch auf Facebook präsent und haben unseren Auftritt. Und auch dort merkt man, dass sukzessive mehr und mehr Menschen die rein virtuelle, wenn ich das so sagen darf, Auflage, also die reine digitale Version der Blätter goutieren oder, das ist auch möglich, beide, das heißt digital und gedruckt. Das heißt, wir sind in der Lage, sowohl die sogenannte alte Holzklasse - so wird ja schon spöttisch über die Printmedien gesprochen -, also das natürlich weiter als unser Flaggschiff zu begreifen. Aber wir setzen natürlich sehr stark darauf, auch die jungen Menschen über die digitalen neuen Medien, über Facebook und unsere Website zu erreichen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.