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Düstere Moritaten in Schwarz-Weiß

In Japan gilt der 78-jährige Yoshihiro Tatsumi als einer der einflussreichsten Comic-Autoren überhaupt. Berühmt wurde er mit seinen "Gekiga", "dramatische Bilder" von den Verlierern der japanischen Gesellschaft. Mit "Geliebter Affe und andere Offenbarungen" ist er nun hierzulande zu entdecken.

Von Christian Gasser | 22.04.2013
    Ein Abteilungsleiter steht kurz vor der Pensionierung - und fürchtet sich vor dem Ruhestand an der Seite seiner ungeliebten Gattin.

    Mit den 300.000 Yen, die er heimlich gespart hat, sucht er Ablenkung in den Armen anderer Frauen. Vergeblich.

    Ein betrogener Ehemann steckt einen Skorpion in die Handtasche seiner Gattin, als sich diese für ein Liebeswochenende mit ihrem Vorgesetzten bereit macht …

    Es ist eine Welt von Verlierern, die Yoshihiro Tatsumi inszeniert. Helden, sagt er selber, haben ihn nie interessiert: Helden müssten immer gewinnen, und das habe mit dem richtigen Leben nichts zu tun.

    In Japan gilt der 78-jährige Yoshihiro Tatsumi als einer der einflussreichsten Comic-Autoren überhaupt. Er begann seine Laufbahn vor sechzig Jahren mit witzigen Gag-Mangas, doch zog es ihn in den späten Fünfzigerjahren immer stärker zu Geschichten mit mehr gesellschaftlicher und politischer Brisanz. Niemand wollte den Wirtschaftsaufschwung verpassen, erinnert sich Tatsumi. Und er habe beobachtet, wie sich viele Menschen materiell bereicherten, innerlich aber verarmten.

    Tatsumi interessierte sich für die Opfer des Aufschwungs. Seine Geschichten spielen sich in U-Bahnstationen ab, in Fabriken, Wettbüros und Armensiedlungen, in Restaurantküchen und Imbissbuden, in Bordellen und Love-Motels.

    Seine Figuren sind kleine Angestellte und Arbeiter, Arbeitslose und Gelegenheitskriminelle, Penner und Prostituierte – erbärmliche und einsame Verlierer, von ihren Frauen verachtet, von ihren Vorgesetzten ausgenutzt, von den Arbeitskollegen gedemütigt und selbst von Prostituierten verspottet.

    Wenn sie sich nicht resigniert in ihr Schicksal fügen, wehren sie sich mit einem Ausbruch von sinnloser oder mörderischer Gewalt.

    Es sei ihm allerdings nie um politische Kritik gegangen, betont Tatsumi. Er habe lediglich das beschrieben, was er beobachtete. Sein Ziel sei es gewesen, die innere Schönheit dieser Verliererfiguren zu zeigen.

    Mit seinen düsteren Moritaten lag Tatsumi völlig quer im damaligen Manga-Markt der 50er-Jahre, der von gut gelaunten Kindergeschichten beherrscht wurde.

    Um seine Geschichten von diesen Mangas abzugrenzen, nannte er sie "Gekiga" - "dramatische Bilder". Und schaffte es, eine neue, eine erwachsene Leserschaft anzusprechen. Das habe ihm erlaubt, sagt Tatsumi rückblickend, auch andere Themen aufzugreifen und die psychologische Dimension seiner Figuren auszuloten.

    Tatsumis "Gekiga" waren neu und ungewohnt – und erfolgreich. Die jungen Proletarier, aber auch die Studenten, die scharenweise in die Städte strömten, erkannten sich in Tatsumis Antihelden wieder und machten seine Geschichten zu Bestsellern. Mit dem Gekiga begründete Tatsumi den japanischen Comic für Erwachsene - zu einem Zeitpunkt, als solche realistischen Comics im Westen noch völlig undenkbar waren.

    Mit großer Verspätung wird Yoshihiro Tatsumi nun auch bei uns entdeckt: "Geliebter Affe und andere Offenbarungen" versammelt dreizehn Geschichten, die ein ungeschöntes Bild vom japanischen Alltag zwischen 1970 und 1998 zeigen.

    Tatsumis Zeichnungen sind wie seine Geschichten und sein Blick auf die Welt: schwarz und weiß, klar und nüchtern, kaum überzeichnet, schnörkellos und lakonisch, unbestechlich und pessimistisch.

    Buchtipp:
    Yoshihiro Tatsumi: Geliebter Affe und andere Offenbarungen
    Carlsen Verlag, 320 Seiten, 19,90 Euro