Freitag, 19. April 2024

Archiv


Düstere Vergangenheit

Der Ural ist eines der größten nuklearen Gewerbegebiete weltweit. Dort steht auch die Atomanlage von Majak. Ende der 50er-Jahre ereignete sich hier eine nukleare Katastrophe, mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung. Doch heute wendet sich auch in Majak einiges zum Guten - mit internationaler Hilfe.

Von Andreas Rehmsmeier | 10.11.2010
    "Es passierte am 29. September 1957, gegen vier Uhr Nachmittags. Wir waren gerade bei der Kartoffelernte. Plötzlich gab es eine starke Explosion, die Erde bebte von der Erschütterung. Wir Kinder sind schnell nach Hause gelaufen. Von dort aus haben wir alles beobachtet: Die Erde hebt sich, und eine schmutzige, rote Wolke steigt auf. Groß wie der Himmel. Die Fenster im Haus sind zersprungen. Die Erwachsenen haben geschrieen: 'Das ist der Weltkrieg!’ Dann wurde es wieder still. Nichts passierte. Drei Tage sind wir zuhause geblieben. Dann haben sie uns wieder zur Ernte abgeholt. Aber es war anders als sonst: Sie haben uns gesagt, dass wir die Kartoffeln eingraben sollen! Nur nicht essen, weil sie verschmutzt sind."

    Gulschará Nadschibullovna: Als sich im Jahr 1957 am Süd-Ural die erste Nuklearkatastrophe der Geschichte ereignete, da mussten Schulkinder wie sie mit nackten Händen die verseuchte Ernte vernichten. In der nahegelegenen Kernanlage Majak war ein Tank mit 80 Tonnen Atommüll explodiert. Die radioaktive Wolke verseuchte breite Landstriche, 13.000 Menschen wurden evakuiert. Mayak: Heute gilt der Name weltweit als Synonym für die Sünden der frühen Nuklear-Ära. Ausgerechnet hierhin sollen jetzt fast 1000 abgebrannte Brennelemente gebracht werden, die bislang im Zwischenlager Ahaus lagern – aus Gründen der "Atomwaffennichtverbreitung". So sieht das russisch-amerikanische Abkommen über die Rücknahme von Versuchsreaktor-Brennstäben aus sowjetischer Produktion vor. Und Kritiker fragen sich, ob der in Deutschland produzierte Atommüll hier tatsächlich sicherer lagert als im westfälischen Ahaus.

    Doch tatsächlich hat sich in Mayak inzwischen vieles zum Besseren gewandelt. Die USA haben hier ein modernes Spaltmateriallager für Uran und Plutonium aus abgerüsteten Nuklearsprengköpfen gebaut. Und Deutschland errichtet gerade eine Hightech-Zaunanlage. Die technische Leitung des Baus hat Axel Hagemann von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln (GRS).

    "Es geht zwar ne Menge Geld rüber an das reiche Russland. Aber ich glaube, wir bewegen was, und durch unsere finanzielle Hilfeleistung haben wie die Möglichkeit, mitzubestimmen. Ohne das hätten wir überhaupt keinen Einfluss darauf zu sagen, wann und wie diese Anlagen mal modernisiert werden. Aus unserer Sicht ist die Modernisierung notwendig. Und ich glaube, dass es insgesamt auch uns hilft, damit wir uns besser geschützt fühlen vor dem Missbrauch von solchem Material."

    Mit 30 Quadratkilometern Fläche und weit über 10.000 Beschäftigten zählt Majak zu den größten nuklearen Gewerbegebieten der Welt. Teilweise unterirdisch gibt es eine Wiederaufbereitungsanlage, zwei Reaktoren und diverse Lagerstätten. Riesige Mengen Nuklearmaterial aller Art werden in Eisenbahnwaggons an- und abtransportiert.

    Ob internationale Standards dabei immer und überall eingehalten werden? Von außen ist das kaum zu beurteilen. Auf Interviewanfragen der Auslandspresse reagiert die Betriebsleitung nicht, auch ausländische Fachleute bekommen nur selten Zutritt. Aber auch am Ural gibt es wachsame Bürger. Den Rentner German Lukaschin etwa, der als ehemaliger Strahlenschutzbeauftragter viele russische Kernanlagen von innen kennt. Er hat eine Luftaufnahme des Betriebsgeländes in seinem Laptop.

    "Dieses Gebäude hier ist das amerikanische Spaltmaterial-Lager. Es enthält 25 Tonnen Waffen-Plutonium, außerdem 255 Tonnen hoch angereichertes Uran, aber das ist weit weniger gefährlich. Das Lager hat durch eine sieben Meter dicke Betonwand – das ist tatsächlich ordentlich. Aber hier, in diesem Reaktorgebäude, lagern weitere 38 Tonnen Plutonium, das aus zivilem Atommüll abgetrennt wurde. Das wurde im Jahr 1948 gebaut – da kann keine Rede sein von irgendeinem Schutzmantel. Und das dort ist der See Karatschai, der gilt als der radioaktivste Ort der Erde. Dort wurde Strontium und Cäsium eingeleitet mit einer Konzentration von 120 Millionen Curie. Und all dieser Dreck befindet sich auf einem Gebiet von 30 Quadratkilometer. Wahnsinn: so eine Konzentration!"

    Seit Jahren versucht Lukaschin, die Öffentlichkeit vor Sicherheitsmängeln in der Kernanlage Mayak zu warnen. Die 2000-fache Strahlenkonzentration des Tschernobyl-GAUs, hat er errechnet, lagert in Majak – und das meiste davon eben nicht in dem hochgelobten amerikanischen Spaltmateriallager, sondern in anderen Lagern - überirdisch, in unmittelbarer Nähe der Flughäfen in den Ural-Metropolen Jekaterinburg und Tscheljabinsk. Lukaschins Schreckensvision: In eines dieser Lager könnte ein Passagierflugzeug stürzen – sei es durch Pilotenfehler oder Terroranschlag.

    "Die Folgen eines solchen Unglücks würden stark abhängen von den meteorologischen Bedingungen in diesem Moment. Aber seien Sie sicher: Gegen die Radioaktivität, die in Majak freigesetzt werden könnte, würde Tschernobyl verblassen zum unbedeutenden Störfall in ferner Perestrojka-Zeit."