Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Duma-Wahlen
"Man will die Kontrolle, aber mit feineren Instrumenten als früher"

Der Politologe Alexander Libman blickt kritisch auf die Duma-Wahlen in Russland. Zwar würden anders als vor fünf Jahren keine massiven Fälschungen erwartet. Das bedeute aber nicht, dass die heutige Duma-Wahl demokratischer ablaufen werde, sagte Libman im DLF. Die Menschen in Russland akzeptierten eine gewisse Art von Manipulation.

Alexander Libman im Gespräch mit Birgid Becker | 18.09.2016
    Das Blaulicht eines Regierungsfahrzeug spiegelt sich auf dem Boden vor dem Duma-Gebäude in der russischen Hauptstadt Moskau.
    Das Gebäude der russischen Staatsduma in Moskau (picture alliance / dpa / Maxim Shipenkov)
    Birgid Becker: Russland wählt heute sein Parlament, die Duma. Und vom Leiter der Moskauer Dependance des amerikanischen Carnegie-Zentrums – eine für Auftragslob unverdächtige Adresse – gab es Vorschusslorbeer: Dies werde die sauberste Abstimmung seit 1996. Aber trotzdem: Was nützt eine Stimmabgabe in einem System, das nicht wirklich demokratisch ist? Das habe ich vor der Sendung Alexander Libman gefragt, den Osteuropa-Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik.
    Alexander Libman: Die Menschen bekommen natürlich davon relativ wenig. Einen Einfluss auf die Politik kann man durch die Stimmabgabe nur indirekt ausüben. Die Regierung schaut etwa darauf, wie die Wahlbeteiligung ist, und wenn sie zu gering ist, kann sie zu gewissen Maßnahmen bewogen werden. Aber sehr wahrscheinlich ist die Teilnahme an Wahlen keine Bedingung dafür, dass sich irgendwas in der Politik ändert.
    Becker: Bei der vergangenen Duma-Wahl 2011, da waren ja die Wahlfälschungen so offensichtlich, dass es zu massiven Protesten kam. In vielen Städten des Landes gingen zehntausende Menschen auf die Straßen und so etwas soll nun unbedingt verhindert werden. Es gibt neue Regeln, neuerdings ja auch unabhängige Kandidaten und kleinere Parteien haben es einfacher. Was wird das bringen im Ergebnis?
    Libman: Na ja, die meisten Beobachter erwarten in diesem Jahr nicht die massiven Fälschungen, wie wir sie vor fünf Jahren beobachtet haben. Das bedeutet allerdings nicht, dass die neuen Wahlen als demokratischer oder pluralistisch zu bezeichnen sind. Eher geht es darum, dass man die Kontrolle über die Wahlen auf eine andere Schiene ausübt. Nicht zu dem Zeitpunkt, wo die Wahlen stattfinden durch Fälschung, sondern vor den Wahlen, wenn man manipuliert, wer zu den Wahlen überhaupt zugelassen wird, wie die Verteilung der Informationen in den Medien aussieht und so weiter.
    Die Chance der kleinen Parteien sind verschwindend gering
    Becker: Obwohl das ja auf den ersten Blick schon durchaus nach Veränderung aussieht: vierzehn Parteien zur Wahl, doppelt so viele wie 2011. Das sieht doch schon nach einer neuen Ausgangslage aus.
    Libman: Na ja, das würde ich nicht überschätzen. Die Parteien, die tatsächlich eine Chance haben, in die Duma gewählt zu werden, sind dieselben vier Parteien, die es auch in der letzten und in der vorletzten Duma gab: die Regierungspartei Jedina Rossija, Einheitspartei Russlands, und dann die kommunistische Partei, die nationalistisch-liberaldemokratische Partei und die populistisch-soziale Partei das gerechte Russland. Die anderen Parteien sind zwar zugelassen, aber ihre Chancen, über die notwenige Schwelle zu kommen, sind vernichtend klein. Und was noch wichtig ist: Die Duma wird jetzt nach einem anderen Prinzip gewählt, nicht nur nach Verhältniswahlen. Die Hälfte der Abgeordneten werden in allen Wahlkreisen gewählt. Da hat die Regierung eine absolute Kontrolle. Bis auf wenige Ausnahmen müssen wir nicht erwarten, dass aus diesen Kreisen Kandidaten kommen, die tatsächlich regierungskritisch sind.
    Becker: Diese 23 unabhängigen Kandidaten, die sich haben registrieren lassen, auch von denen sehen Sie nicht, dass da ein demokratischer Impuls ausgeht?
    Libman: Na ja. Ich schließe es nicht aus, dass einzelne jetzt in die Duma gewählt werden. Die Frage ist ja die: Wenn Sie in der Staatsduma ein paar unabhängige Kandidaten haben, bedeutet das nicht, dass das Entscheidungssystem im Land sich ändert. In der Politikwissenschaft spricht man manchmal von den Wahlen, die in einem nichtdemokratischen System alles ändern, wenn plötzlich die Oppositionsparteien massive Mehrheiten gewinnen, oder die Menschen die alten Wahlfälschungen und Manipulationen nicht mehr akzeptieren. Das ist in diesem Jahr in Russland überhaupt nicht zu erwarten.
    Becker: Welchen Unterschied macht dann Ella Pamfilowa, die prominente Menschenrechtlerin, die neue Vorsitzende der sogenannten zentralen Wahlkommission, die ja schon im Vorfeld verhindern soll, dass die Abstimmung ein weiteres Mal wegen Fälschung und Betrug für Schlagzeilen sorgt? Welchen Unterschied macht sie?
    Libman: Ich vermute, der Tatbestand, dass Ella Pamfilowa die zentrale Wahlkommission leitet, ist genau ein Signal des Kreml, dass der alte Ansatz, wenn man die Wahl schlichtweg fälscht, nicht mehr akzeptabel, nicht mehr gewollt ist. Was man will ist, die Kontrolle zu behalten, aber mit feineren Instrumenten, als man das früher gemacht hat. Und die Präsenz einer, wie Sie zurecht sagen, prominenten Menschenrechtlerin als Leiterin der Behörde, die für die Wahlen verantwortlich ist, ist ein Signal dafür. Aber Kontrolle muss trotzdem bleiben.
    "Von den Menschen als sauber perzipierte Wahlen sind wichtig für Putins Legitimität"
    Becker: Putin braucht kein Parlament, keine Regierung und schon gar nicht braucht er Wähler für seine Entscheidungen. Das ist eine Lagebeschreibung der "Frankfurter Rundschau" ein paar Tage jetzt vor der Wahl. Ja, warum braucht Putin dann die Wähler und diese Wahl überhaupt, und warum legt er so viel Wert auf ein feineres Vorgehen?
    Libman: Na ja. Putin kann tatsächlich ohne eine direkte Beteiligung des Parlaments entscheiden, das ist möglich. Aber Parlament und auch ruhige und von den Menschen als sauber perzipierte Wahlen sind wichtig für seine Legitimität. Was er unter allen Umständen vermeiden will ist, dass die Regierung oder dass die Macht gewisse Maßnahmen ergreift, die Menschen sehr kritisch sehen, weil vor allem unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise kann das irgendwann zu Protesten und Unzufriedenheit führen. Das heißt, seine Aufgabe ist es jetzt, einerseits Kontrolle zu behalten - das habe ich schon gesagt -, andererseits aber die Illusion dessen zu schaffen, dass die Wahlen demokratisch und vor allem nach existierendem Recht verlaufen. Das scheint er gut im Griff zu haben.
    Becker: Braucht er denn diese Illusion? Tatsächlich scheint es ja so zu sein, dass das, was wir als Demokratiedefizit sehen, wir im Westen, für die Mehrzahl der Russen ja gar kein Problem darstellt.
    Libman: Da wäre ich etwas vorsichtiger. Die Russen sind tatsächlich deutlich kritischer zu dem Begriff Demokratie als die Leute im Westen. Wobei es gibt auch Studien, die diese gängige Aussage in Frage stellen. Aber die Russen erwarten schon, dass die Macht nach gewissen Prinzipien, nach gewissen Ansätzen funktioniert. Sie wollen einfach nicht belogen werden, sie wollen nicht offensichtlich belogen werden, und das ist genau das, was bei diesen Wahlen erreicht werden muss, nicht nur bei diesen Wahlen. Die Regierung muss den Menschen signalisieren, dass die alten Vorgehensweisen nicht mehr passieren.
    Das andere Problem ist natürlich: Ja, für die Mehrheit der Russen ist möglicherweise die Wahlmanipulation kein Problem. Aber wie sich 2011 gezeigt hat, es gibt doch eine genug große Minderheit, die hypothetisch in dieser Situation sensibel werden könnte, und es ist wichtig für den Kreml, auch diese Minderheit unter Kontrolle zu beschaffen. Und dieser Doppelansatz, Manipulation vor den Wahlen, aber die Illusion der fairen Wahlen, bringt genau dieses Ziel.
    Becker: Wenn Sie sagen, die Russen mögen es nicht, belogen zu werden, nun mag es keiner, belogen zu werden, aber wenn Sie unterstellen, dass das eine Motivation für russische Bürger ist, besonders genau auf das Wahlgeschehen zu achten, dann müssten sie doch aber auch die Tricks, die jetzt angewandt werden, durchschauen.
    Libman: Na ja, es ist etwas komplexer. Ich würde es so formulieren: Die Russen wollen nicht offensichtlich belogen werden. Eine gewisse Art von Manipulation akzeptieren sie schon, zumal in diesen Fällen die Grenze zwischen der Manipulation und den akzeptierten Wahlverfahren eigentlich sehr gering wird. Wir haben auch in demokratischen Ländern Situationen, wo dieselbe Partei jahrzehntelang an der Macht bleibt. Japan war ein Paradebeispiel dafür. Und in diesem Fall ist die Illusion besser.
    Ich verstehe, was Sie sagen. Natürlich ist dieser Ansatz, den jetzt die Regierung benutzt, kein absolutes Heilmittel. Es ist ein Versuch, das Problem zu lösen, ohne die Gründe für das Problem zu beheben. Aber das ist das Beste, was ein autoritäres System in solcher Situation überhaupt unternehmen kann, und das genau wird jetzt versucht, die bestmögliche Politik, wenn ich das so sagen würde, aus Sicht der Machtinhaber.
    "Eines der Kontrollinstrumente ist, dass nicht so viele wählen"
    Becker: Anders herum gefragt: Was motiviert dann Russlands Bürger, wählen zu gehen? Oder was sollte sie motivieren?
    Libman: Ja, das ist eine gute Frage. Erstens würden wir tatsächlich in diesem Jahr erwarten, dass die Wahlbeteiligung nicht sehr hoch ist. In einigen Fällen wird sie auch sehr gering. Die Regierung macht übrigens sehr wenig, um die Leute zu motivieren, wählen zu gehen, weil eines dieser Kontrollinstrumente ist eben, dass nicht so viele wählen.
    Wenn die Leute wählen, dann gibt es verschiedene Gründe. Einige beteiligen sich an den Wahlen, weil sie das als ein soziales Ritual sehen. In der UDSSR gab es ja auch Wahlen, wo die Leute zu 100 Prozent sich daran beteiligt haben.
    Becker: Und beteiligen mussten?
    Libman: Ja, mussten, das ist richtig, sogar sollten. Aber das haben viele auch gemacht, weil sie das einfach für richtig hielten. Und das stimmt auch für relativ viele Russen, obwohl sie wissen, dass die Wahlbeteiligung nicht so viel ändert. Man hat ja immer gewählt, man wird auch in diesem Jahr wählen gehen.
    Dann gibt es auch diejenigen, die expressiv wählen wollen. Sie verstehen, dass sie nichts ändern können, aber sie wollen durch ihre Wahlabgabe vor allem sich selbst, aber möglicherweise auch den anderen, denen sie darüber erzählen, zeigen, wie sie zu der aktuellen Lage stehen. Das ist der klassische Grund, warum die Menschen für Populisten stimmen - nicht weil sie die wirklich an der Macht wollen, sondern weil sie ein Signal setzen wollen, dass sie mit gewissen Vorgängen unzufrieden oder auch zufrieden sind.
    Becker: Ab welcher Schwelle wäre denn eine geringe Wahlbeteiligung peinlich? Oder erwarten Sie überhaupt eine besonders, eine signifikant geringe Wahlbeteiligung?
    Libman: Nein, das erwarte ich nicht. Ich glaube nicht, dass die Wahlbeteiligung so gering sein wird, dass wir wirklich von illegitimen Wahlen sprechen können. Wenn es auch tatsächlich dazu kommen würde - und ich erwarte das in Russland im Allgemeinen gar nicht, aber vielleicht in einzelnen Wahldistrikten -, dann schließe ich nicht aus, dass die alten Manipulationsverfahren verwendet werden, also direkte Fälschungen. Aber das ist ein sehr unwahrscheinliches Szenario.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.