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Durch die Orte unseres Lebens

Der Autor Ulf Erdmann Ziegler nennt sein Buch eine "Autogeographie". Anhand von Orten spinnt er seinen eigenen Lebenslauf und beschreibt darin auch die deutschen Provinzen. So überrascht es nicht: Zehn Ortsnamen, von kleinen Städten oder Stadtteilen, in Deutschland und einmal auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, die die zehn Kapitel dieses Buches "Wilde Wiesen" betiteln.

Von Christian Döring | 22.01.2008
    Ich kam nach Hause und konnte "ich".
    Schon am zweiten Schultag trägt das Lesenlernen ganzer Worte kindliche Erkenntnisfrüchte. Das Ich heißt Ulf. Und das ist wichtig, denn unsere Identität bildet sich auch mit unseren Namen aus.

    Ich kam nach Hause und konnte "ich".
    Und wenn im weiteren das erzählende Ich mit dem Namen Ulf Ziegler von erster Grundschulerfahrung mit einem grob zuschlagenden Schüler namens Heiner Ziegler berichtet, dann wird der "Schrecken" angesichts dieser verwirrend gleichen Nachnamen - Ziegler - anschaulich erinnert, einen Namen:

    Den ich bis dahin für eine Eigenschaft unserer Familie gehalten hatte.

    Kein anderer als der Autor Ulf Erdmann Ziegler, der sich gerade erst im Frühjahr mit seinem Debutroman "hamburger hochbahn" einen Ruf auch als Romancier von Rang erschrieb, gibt sich in dieser Passage einmal als erzählendes Ich preis, eingekleidet in feine Ironie und subtile Komik, wie wir es uns von diesem eleganten Essayisten mit originellem Stilwillen erhoffen. Wobei wir im Namen und Identifikationsspiel natürlich nichts weniger erwarten dürfen als Wahrheitsverpflichtung: Ziegler ist es und Ziegler ist es nicht.

    Als Heranwachsende, so erinnern wir uns, liebten wir die Namen - von Autos. Markennamen: der Käfer, der Variant, der Admiral, der 190er, die Aufschrift der
    Lastwagen: Spedition Hamacher oder Interfrigo. Unsere Mopeds wurden zu solchen erst mit den richtigen Namen: Peugeot 103, Zündapp, und schließlich, Steigerung von beiden, die Herkules.

    So überrascht es nicht: Namen sind es wiederum, zehn Ortsnamen, von kleinen Städten oder Stadtteilen, in Deutschland und einmal auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, die die zehn Kapitel dieses Buches "Wilde Wiesen" betiteln - etwa Einfeld oder Pillnitz, Orschel-Hagen oder Tungendorf, Dorstfeld oder Neukölln (in Berlin) oder Lindenthal im alten Köln am Rhein: Dort, wo vieles vom Kinderglück in der Hochparterre-Wohnung eines grauen Mietshauses mit dem süßlichen Bohnerwachsgeruch im Treppenhaus und dem dreitonig disharmonischen Glockenklang bei Großpapa und Großmutter im Kinderleben dieses Ulf Ziegler anfängt.

    Wir gehen nicht einfach durch die Orte unseres Lebens hindurch. Wie Ablagerungen sedimentieren sich vielmehr die Orte in uns. Auch die Randlagen, die Peripherien, die Allerweltsorte prägen das Selbst, das wir uns zusprechen.

    Und so trägt Ulf Erdmanns "Wilde Wiesen" nicht den Untertitel Erzählung oder Roman und schon gar nicht Autobiographie, sondern Ulf Erdmann Ziegler kreiert in originellem Kunstgriff eine neue Gattung. Er tauft sie:

    Autogeographie

    Orte schreiben, kritzeln oder zeichnen sich uns ein, hinterlassen Spuren. Nicht das vorgeblich Authentische, nicht das bloß Selbsterlebte, Selbstbespiegelnde ist es, was uns ausmacht - das ist der Wahn aller Pseudoliteratur -, sondern das Geschaffene in der Geschichte eines sich erst bildenden Ichs. Im Erzählen, im schreibenden Herausfinden desjenigen, der man geworden ist. Im Zusammensetzen der Bruchstücke.
    "Wilde Wiesen" animiert die Lebenslauf - Landkarten in uns, belebt und belichtet sie, darin auch die deutschen Provinzen. Der Erzähler birgt sie, betreibt phantasievoll eine Art Selbstvermessung. Und wer Ulf Erdmann Zieglers Roman "hamburger hochbahn" noch vor Augen hat, der erinnert sich an jene amerikanische "vernacular architecture" des Bodenständigen von Lebensräumen, die uns formen. Anlässlich einer ersten Reise als Vierzehnjähriger in den seltsam fremden Landstrich mit Namen DDR macht der Heranwachsende eine prägende Erfahrung

    Ich hatte mich für die Ortsnamen bis dahin wenig interessiert, für Gotha, Ruhla und Burgtonna, den Kyffhäuser und die Wartburg, die sich seit den ersten Monaten, in denen man Worte von Sätzen zu unterscheiden lernt, eingeprägt hatten als Zeichen von etwas, das fern und vielleicht unerreichbar war.

    Ulf Erdmann Ziegler ist ein imaginationsfähiger Zeichenleser in den Provinzen unserer Herkunft. Und dazu ein wunderbarer Portraitist seiner Figuren.

    Der Ort Lindenthal in Köln war bei den Großeltern ein "Bilderbuch". Das sächsische Pillnitz und der Thüringer Wald hingegen das verborgene Zentrum des familiären Zusammenhangs. Der Heranwachsende erahnt, was Heimat sein könnte und wird erst 1989, als der Staat weg ist und die Landschaft offen, verstehen, was das bedeutet.

    Überhaupt - jene Passagen, in denen die essayistischen und erzählerischen Begabungen von Ulf Erdmann Ziegler in kunstvoll verschlungenen Sätzen ineinander fließen, gehören zu den blühenden in "Wilde Wiesen".
    Und so begann sich zu zeigen, was die DDR gewesen war, nicht für uns, aber für die, die in ihr gelebt hatten: keine Landschaft und kein Land, sondern ein Virus oder ein Geflecht, etwas, das sich in den Körper setzt und ihn zu fressen beginnt. Wo die Augen saßen, wurde DDR, wo das Herz schlug, wurde DDR, wo das Rückgrat gewachsen war, wurde DDR, und so wie die Republik mit einem Mal zurückwich, ihre Gestalt verlor, bis sie nur noch Papier war, so wurden auch die Körper Papier, und man musste anfangen, in Archiven zu lesen und Behörden zu betören, um Seite für Seite vom eigenen Körper wieder, von der Erinnerung daran, von der Erinnerung an das, was er hätte sein können, Besitz zu ergreifen.
    Die Orte der Herkunft aber liegen im nördlichen Westen.

    Neumünster ist überall,
    heißt es einmal von der Stadt auf dem holsteinischen Geestrücken, wo der von der Mutter wohlbehütete Garten der Kindheit lag, und wo der Jugendliche Ulf, Drittgeborener im Lehrerhaushalt Ziegler, sich eingerichtet hatte - als einer von drei Tenören im Chor der prächtig gelben Backsteinkirche, und als Freund des überlegen klugen Probstsohnes Thorwald, mit dem er seine "Zweiersymposien" im Kirchhof pflegen konnte:

    So gingen die Jahre vorbei, unsere Gespräche über den Gerechten Krieg, die Jungfräulichkeit und die Zerstörung der Natur, abgezirkelt in These, Verteidigung und Gegenrede bis ein Uhr zweiundvierzig auf meiner Kienzle.

    Neumünster ist überall - oder wie es ironisch weiter heißt:

    Tätowiert in das Dokument, das ich dem Uniformierten reiche.

    Orschel-Hagen, ein anderer Lebensort, wird während mehrerer Sommer zum "schwäbischen Märchenland", untergründig im Gedächtnis verfugt mit dem
    älteren Bruder Bert - nur während der Ferien sind sie "Brüder von Beruf" - , mit Tante und Onkel, einer Cousine und der anderen Oma aus dem Gotha-Ostdeutschland; mit dem Erlebnis des Kindergartens, das Ulf im holsteinisch-heimischen Eindorf mit
    Einfamilienhaus auf dem "Handtuchgrundstück" unter mütterlicher Obhut nicht kennen gelernt hatte, mit einer Kirche, einem spendablen Kaugummiautomaten und schließlich einem Mädchen mit dem Namen Katrin Sturm, der mit zehn Jahren noch viel versprechender ist als mit fünf.

    Wobei jene "autogeographischen" Ortsnamen-Episoden im Erzählfluss von Ulf Erdmann Ziegler natürlich keiner Lebenschronologie gehorchen. Sie vermischen sich wie im Kaleidoskop, das von der Erinnerung bewegt immer wieder neue Bilder, Figuren und Überblendungen freigibt - die von unserer Phantasie gelesen werden .

    Tungendorf, ein anderes Kapitel wieder in der deutschen Nordprovinz, wird zum Ort protestantisch-pietistischer Schwärmerei eines zwölfjährig Frühkonfirmierten, wie immer in der Rolle des Jüngsten mit Wunderkindambitionen.

    Falls jemand den kurz geschorenen Knaben, der ich war, eher wunderlich gefunden denn für ein Wunder gehalten haben sollte: Es gab keine Autorität, die diese Anschauung bestärkt hätte. Im Gegenteil.

    Ulf Erdmann Ziegler versteht es hintersinnig, komisch-ernste Szenenfolgen dieser Kindheits- und Jugendregister sinnlich zu montieren, Szenen, in denen Begabung, Hochmut und Einsamkeit aufscheinen.

    Wenn der junge Ulf, schon ganz Architekt, aus Legosteinen ein kirchliches Missionsschiff mit dem Namen "Logos" nachbaut - ist der Weg zur grotesken Pointe des verspielt Wortmächtigen nicht weit:

    Lego und Logos, vom Kinderspiel zur Berufung.
    Die Operette der Landesbühne Schleswig-Holstein im Exkino Corso und die Kirche
    hundert Meter nahe bei, gehen eine so begeisternde Verbindung ein wie die Verstrickung mit einem schweigsamen Jungen namens René:

    Irgendwann untrennbar das Auge Gottes und der Geruch des Samens.
    Das frühe Faible dieses Ulf für das Kluge und Schöne verschmilzt Furcht und Trieb. OK-City, eine andere Station, bedeutet während eines puritanisch-amerikanischen Schuljahres für das sechszehnjährige "Adoptivkind mit befristetem Vertrag" vor allem - mit dem Fernseher im Haus 2717 allein zu sein - woraus der Erzähler Ulf Erdmann Ziegler "autogeographischen" Mehrwert bezieht:

    Und so sehr wie das Raster der Stadt einen Rest von Lesbarkeit garantiert, so dass man sich nicht verirren kann, ist es dennoch möglich, darin verloren zu gehen, einen bestimmten Zustand des Betrachtens zu erzeugen, der einer gleichmäßigen Bewegung geschuldet ist, so dass die 23. Straße zwischen Ann Arbor und McArthur als kleinstes schwebendes Teilchen für das pulverisierte Ganze steht, in dem alle Dinge des Lebens aufgehoben sind, von der frühesten Erinnerung bis zur letzten Fahrt.
    Neukölln, Berlins proletarisierte Peripherie, wird zur Kulisse eines neuen Lebens, zur Chiffre der späten Rückkehr eines Vierundzwanzigjährigen in die Herkunft des Bildungsbürgerlichen - gebrochen vom Milieu Berlins.

    Ein Jahr verbrachte ich in studentischer Ärmlichkeit, bis vier Dinge auf einmal geschahen: Ich wurde fliegender Antiquar, ich schrieb für Zeitungen, ich wurde als Rezensent von Verlagen beliefert, und ich fing an zu stehlen.
    Und dann

    zeigt sich, dass ich Bewohner der obersten Wohnung geworden bin, mit einer Öffnung zum Dachboden, zu den Dächern, all das meins, aber ungenutzt, eine gewaltige uralte Konstruktion auf Balken, die sich biegen.
    So wie die Prosa eines Ulf Erdmann Ziegler.

    Im letzten Kapitel - Dorstfeld, ein Ort am Rande Dortmunds - erzählt er vom Erlernen der Kunst des Fotografierens. Ulf Erdmann Ziegler fotografiert in elaborierter Prosatechnik die Bilder unserer Provenienz.

    So sprachen wir über das, was Willi "Bildlichkeit des Bildes" und Nicole eine "Metapher" nannte; Boris sprach geruhsam, und bevor wir gingen, hatte er gesagt:
    "Man müsste wissen, was hinter den Dingen ist".

    Ulf Erdmann Ziegler
    Wilde Wiesen
    Autogeographie
    152 Seiten
    Göttingen :Wallstein Verlag, 2007