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Durch Erzählen Schweigen brechen

Für ihren Roman "Die Mittagsfrau" erhielt Julia Franck in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis. Die Jury hat einen Roman ausgezeichnet, der sich einem weit zurückliegenden ungewöhnlichen Ereignis zuwendet, und die Geschichte einer Frau im Kontext einer Familiengeschichte über den Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten erzählt.

Moderation: Michael Opitz | 17.10.2007
    Es handelt sich bei "Die Mittgasfrau" um einen Roman, dem autobiographische Erlebnisse zugrunde liegen. Sehr lange ist in Julia Francks Familie über ein sehr entscheidendes Ereignis geschwiegen worden. Nun bringt es die 1970 in Berlin geborene Autorin zur Sprache.

    Ihre eigene und die Geschichte ihrer Familie hat Julia Franck bereits in dem 2003 erschienenen Roman "Lagerfeuer" thematisiert. Sie spinnt also mit dem neuen Roman einen Erzählfaden weiter und verhält sich, wie es die Mittagsfrau, eine Gestalt aus dem sorbischen Sagenschatz, von jenen erwartet, die die Mittagsruhe stören. Ihnen kann nur erzählen helfen. Doch Julia Franck stellt nicht nur eine Beziehung zu dieser Sagengestalt in ihrem neuen Roman her - das taten vor ihr bereits Kerstin Hensel und Gert Neumann -, sondern sie bezieht sich auch auf eine von Hugo von Hofmannsthal in seinem Brief an den Lord Chandos begründete Tradition. Der Schwierigkeit, die richtigen Worte zu finden, begegnet sie als Erzählerin, indem sie zur Sprache bringt, wofür es keine Worte zu geben schien. Julia Francks Roman "Die Mittagsfrau" will durch Erzählen Schweigen brechen. Unser Mitarbeiter Michael Opitz traf Julia Franck in Berlin ...

    "Nur bin ich als Erzählerin - ich bin ja nicht Gott - und ich bin nicht für die Gerechtigkeit zuständig. Eher für das Aufschreiben und die Differenzierung der widersprüchlichen Erfahrungen, die auch zu Ungerechtigkeiten und zu einer gewissen Gottlosigkeit führen."

    Zweifel an der Gerechtigkeit und einem gütigen Gott könnten einem durchaus kommen, wenn man sich in die Lage der literarischen Figur versetzt, von der Julia Franck in ihrem neuen Roman die "Die Mittagsfrau" erzählt. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlässt eine Mutter ihr Kind auf einem Bahnhof. Bevor sie geht, ermahnt sie den Jungen noch, sich nicht vom Fleck zu bewegen und auf sie zu warten. Peter hofft bis tief in die Nacht auf die Rückkehr seiner Mutter, aber sie kommt nicht.
    Ein ungeheurer Entschluss steht im Zentrum des Prologs von Julia Francks Roman, der vor dem Ersten Weltkrieg beginnt und nach dem Zweiten endet.

    "Ich glaube, dass ich diese Geschichte nur in dieser Zeit erzählen konnte. Das hat nicht nur mit dem Anlass zu tun, dass es eine wahre Begebenheit, als Kern des Romans, gibt. Mein Vater ist wie dieser Peter 1937 in Stettin geboren worden und 1945 im Zuge der Vertreibung von seiner Mutter, die Krankenschwester war, auf dem erstbesten Bahnsteig westlich der Oder-Neiße-Grenze hingesetzt worden. Und sie versprach wiederzukommen, was sie nie tat. Also, es gab diese wahre Begebenheit, die genau zu dieser Zeit spielte, und die mir, seit ich Kind bin, immer Anlass zu Fragen gab, ohne dass ich die befriedigend oder eindeutig beantworten konnte. Fragen vor allem deshalb, weil man natürlich spontan denkt: Das Schlimmste ist überstanden, der Krieg ist vorbei, es kann nur noch besser gehen. Warum also ausgerechnet zu so einem Zeitpunkt? Mein Vater war damals sieben Jahre alt. Und zum anderen aber auch deshalb, weil er natürlich ein Mann wurde, der von dieser Erfahrung sehr stark geprägt war, der in gewisser Weise auch traumatisiert in seinem Verhältnis zu Frauen war, der Frauen liebte, sie verehrte, aber sich nie in seinem kurzen Leben - er ist mit 49 Jahren gestorben - sich nie traute, mit einer Frau zusammen zu leben. Das heißt, diese Leerstelle, die er so schmerzhaft erfahren hat, die hat er in gewisser Weise weitergegeben. Da würde ich von so einer Art sozialem Erbe sprechen. Und ich fragte mich also, was bringt eine Frau zu dieser Zeit dazu?"

    Dieser Frage geht Julia Franck in "Die Mittagsfrau" nach. In der Chronologie des Handlungsgeschehens ereignet sich das, wovon im Prolog die Rede ist, sehr viel später. Doch die Autorin unterbricht die Chronologie des Handlungsverlaufs bewusst, um ein Ereignis herauszustellen, das Fragen aufwirft. Zugleich verändert sie nach dem Prolog die Perspektive auf die Figuren. Peter, der zurückgelassene Junge, tritt während des weiteren Geschehens in den Hintergrund. Die Autorin wendet sich von ihm ab und seiner Mutter zu. Ihrer Geschichte muss sie sich zuwenden, wenn sie etwas über die Beweggründe der Frau erfahren will. Über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten verfolgt Julia Franck die Lebensgeschichte von Helene Würsich, wobei sich genügend Gelegenheiten ergeben, andere Familienangehörige in das Handlungsgeschehen einzuflechten.
    Die Suche, auf die sich die Autorin begibt, tritt sie zwar allein an, doch was sie bei ihren Recherchen findet, wird vor den Lesern wie vor Zeugen ausgebreitet. Nicht die Erzählerin will über diesen 'Fall' richten. Die junge Frau, die Julia Franck vorstellt, erlebt Enttäuschungen und erfährt Schicksalsschläge. Sie erträgt die Demütigungen ihrer Mutter, die psychisch krank ist, und sie pflegt ihren Vater, der als Krüppel aus dem 1. Weltkrieg zurückkommt. Diese Frau gibt mehr, als sie vom Leben bekommt.

    Als sie schließlich Carl kennenlernt, scheint sich eine Wende anzukünden. Der junge Intellektuelle, der Helene ins Theater führt und sie mit der Literatur und Philosophie vertraut macht, will sie heiraten. Doch kurz vor der Hochzeit kommt er bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Helene, die von ihrer Mutter sagt, ihr Herz sei erblindet, wird schließlich einen Mann heiraten, den sie nicht liebt - ihr Herz wird erkalten und versteinern. Sie wird Männer über sich ergehen lassen, ohne hörbar aufzuschreien oder sich zu wehren. Sie hat das Gefühl für Verletzungen verloren. Julia Franck erzählt eine eindringliche Geschichte, die eine eigene Sogwirkung entwickelt.

    "Das hat sicher etwas mit der Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit zu tun, mit der ich selbst als Autorin mich einem Romanvorhaben gegenüber sehe. Und in dem Fall war es ein großes Fragezeichen. Für mich war es ganz wichtig, dieses Fragezeichen, das chronologisch eher das Ende der Geschichte erzählt, vorweg zu stellen. Ich glaube, dass ich außerdem diese Emotionalität, die beim Lesen des Prologes zwangsläufig entsteht, also die Empörung vielleicht, diese moralische Abwehr, die man als Leser sicher auch erst einmal empfindet, die wollte ich nicht am Ende wie ein Hammerschlag hinstellen und dort stehen lassen, sondern es war ja gerade wichtig, darüber auch Beteiligung, die Empathie des Leser zu wecken, weil ich als Autorin natürlich auch in gewisser Weise empathisch diese Geschichte erzählen muss, um überhaupt dieser Helene nahe zu kommen, um überhaupt an diesen Vorgang heranzukommen, ohne ihn mir einzuverleiben im psychologisierenden, Verständnis erheischenden Sinn. Und das ist, glaube ich, für mich auf der ästhetischen Ebene wichtig gewesen: Formal das Vorwegzunehmen und auch die Empörung schon mal vorwegzunehmen. Und in gewisser Weise ist der Leser trotzdem fast genötigt, gezwungen weiterzulesen, weil er hofft, dass es anders war, dass es eine Erklärung gäbe oder dass diesem Kind Genugtuung erteilt wird oder in irgendeiner Form Gerechtigkeit."
    Der Roman erzählt wie gerade die unausgesprochen bleibenden Verletzungen der nächsten Generation als Last aufgebürdet werden. Julia Franck versucht Licht in eine dunkle Geschichte zu bringen, doch es will in der Geschichte nicht hell werden. Die Figuren, auf die sie stößt, hatten in ihrem Leben kaum eine Chance, aus ihrer Schattenexistenz herauszutreten. Als Erzählerin konstatiert Julia Franck wie es gewesen ist, moralisch bewerten kann und will sie die Ereignisse nicht.

    "Ich wollte eine Geschichte finden, die ein Spektrum von Erfahrungen zeigt, die das nachvollziehbar machen, ohne es aber moralisch zu rechtfertigen, ohne zu sagen: Ja, jetzt verstehen wir. Das ist ja ganz klar, die arme Frau, die wurde vergewaltigt, das deutet sich ja im Prolog schon an, aber so klar ist es nicht. Es ist auch nicht nur die böse Geschichte, nur das böse Außen, die Gesellschaft, die dafür zuständig ist. Sondern es ist natürlich auch vieles in Helene, die sie bestimmte Erfahrungen intensiv und vielleicht auch intensiver als andere machen lässt. Und trotzdem glaube ich, dass ich sie nicht moralisch rechtfertige. Ich hoffe eher, dass es offen bleibt, dass trotzdem - und deshalb war auch der Epilog wichtig - zwei unterschiedliche Erfahrungen mit dem jeweils anderen Geschlecht, zwischen Mutter und Sohn, aufeinandertreffen, die für jeden eine nachvollziehbare Erfahrung und auch Entscheidung und Berechtigung nach sich ziehen. Der Junge entscheidet sich am Ende gegen seine Mutter, sicher auch aus Gründen der Würde. Und das ist etwas, was mir sehr wichtig war, weil ich auch von meinem Vater weiß, dass er sie nie wieder sehen wollte, dass sich in ihm alles gegen sie gewendet hat, weil er diese Entscheidung unter keinen Umständen unter keinem Preis, nachvollziehen wollte."

    Im Prolog will Peter die Hand seiner Mutter nicht loslassen. Sie entzieht ihm ihre Hand und stößt ihn unvorbereitet ins Leben. Mit dem Entzug der Hand entlässt sich Helene zugleich aus der Mutterrolle. Es ist ein Befreiungsakt, der Spuren hinterlässt. Der im Epilog des Romans erneut ins Zentrum rückende Junge, weigert sich, seine Mutter nach Jahren der Trennung wiederzusehen. Er will der Frau nicht mehr unter die Augen treten, die sich damals seinen Blicken entzog. Der Alleingelassene will verschwunden bleiben und versteckt sich.

    Als Motiv ziehen sich Hände - die Hand, die loslässt, ebenso wie die Hand, die zärtlich sein kann - durch das gesamte Buch. Alle Figuren, von denen Julia Franck erzählt, sehnen sich nach einer Hand, die sie festhält. Damit ist die Hoffnung verbunden, das Leben im Ergreifen besser begreifen zu können. Als Carl um Helenes Hand bittet, scheinen zwei zueinander zu finden, die halt aneinander finden. Doch Carl wird Helene entrissen.

    Julia Francks Exkurs in die Geschichte handelt von der Sehnsucht nach Vertrauen. Ihre Figuren verstummen, weil sie auf der Suche danach enttäuscht werden. Sie können nicht festhalten, was sie gern behalten würden. Als hätte ihnen das Leben zu viel Kraft abverlangt, schaffen sie es nicht festzuhalten, was Halt versprechen könnte. Das Motiv der Hand verknüpft die Autorin mit anderen Motiven, Motiven, die ihr zunächst bewusster und wichtiger erschienen.

    "Es gibt natürlich Motive, die geschehen einem, ohne dass man darüber weiß und trotzdem stimmen sie, und sie sind richtig an ihrer Stelle, weil sie ein Pendant - die Hände in diesem Fall - zur Stimme bilden. Die Stimme und das Sprechen, das Sprechvermögen - über das Sprechen in eine Beziehung geraten -, haben für mich, als Motiv, sehr viel bewusster eine Rolle gespielt. Und zwar, wie Helene sprechen lernt oder auch in Beziehung gerät mit ihrer Schwester im ersten Teil. Dann, im mittleren Teil, wie sie im Gespräch mit Carl diese romantische Liebe entfaltet und, wie sie dann verstummt, wie ihr die Sprache zunehmend fehlt und wie sie fast aus dem Wort fällt. Dieser Rückzug ins Schweigen, dieser unbedingte Rückzug ins Schweigen, macht die Gesten und die Hände auf einer anderen Ebene, also der plastischen Ebene, umso wichtiger. In dieser Konstellation verschränken sich vor allen Dingen diese beiden Motive: des Sprechens und Schweigens und der Hand wie auch der loslassenden Hand."
    Diese Motive finden im Titel des Romans zueinander. Die Mittagsfrau, diese sagenhafte Gestalt aus dem sorbischen Kulturkreis, setzt die in ihrer Hand befindliche Sichel jenen an die Kehle, die die Mittagsruhe der Mittagsfrau stören. Sie können sich dem drohenden Tod nur dadurch entziehen, indem sie der Mittagsfrau eine Stunde lang ununterbrochen von der Verarbeitung des Flachses erzählen. Sie müssen einen Erzählfaden spinnen und ihr Schweigen brechen. Soll ihnen nicht die Kehle durchschnitten werden, müssen sie das Wort ergreifen. Viel Zeit, nach Worten zu suchen, bleibt ihnen nicht. Wer die Sichel der Mittagsfrau an der Kehle spürt, muss reden.

    "Sagen entstehen da, wo Menschen eine Geschichte brauchen für etwas Unerklärliches. Dort ist es die Verwirrung bis hin zum Tod, darin besteht ihr Fluch, und das Entrinnen dieses Fluches ist nur möglich, wenn man eine ganze Stunde von der Verarbeitung des Flachses erzählt. Das finde ich deshalb so schön, weil sowohl das Sprechen und Erzählen, das Verraten von etwas und das Berichten als auch die Tätigkeit selbst, also das Spinnen von Flachs, ergibt ja eine Textur. Da spielt also in doppelter Hinsicht die Notwendigkeit fürs Überleben von Worten eine Rolle. Und da, wo die Worte ausgehen, und das Schweigen beginnt, da wirkt dieser Fluch, und er wirkt nach außen sichtbar dann in Form der Verwirrung und des Todes."

    Info: Julia Franck: Die Mittagsfrau. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2007. 430 Seiten. 19,90 Euro