Dienstag, 23. April 2024

Archiv

E-Book von "Micromega"
Streitschrift gegen die strenge Sparpolitik

"MicroMega" ist eine italienische Zeitschrift für Philosophie, Politik, Kultur und Wissenschaft, ein Magazin für intellektuelle Debatten und - ein Organ der italienischen Linken. Einige angesehene Autoren – darunter Ökonomen, Soziologen, Politikwissenschaftler – haben als Sonderausgabe ein E-Book veröffentlicht, kostenlos abrufbar auf der Internetseite von "Micromega": ein streitbarer Beitrag zur Debatte um Eurokrise und Haushaltspolitik.

Von Thomas Fromm | 07.09.2015
    Am Tage nach dem "Ochi", dem Nein im griechischen Referendum: Ein Geldautomat in Thessaloniki
    Ein Geldautomat in Thessaloniki im Juni: In der Griechenlandkrise traten die Unterschiede zwischen den Euro-Staaten zutage (AFP / SAKIS MITROLIDIS)
    Genug ist genug. "Adesso basta" - "Jetzt reicht's". So klingt es, wenn der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi die Nase voll hat von deutscher Spar- und Austeritätspolitik. Die Griechen hätten jetzt alles geliefert, sagte er neulich – was wollt Ihr denn noch?
    Je weiter sich die Griechenlandkrise zuspitzte, desto mehr traten in diesen Tagen auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Euro-Staaten zutage – und desto mehr fragten sich südeuropäische Politiker wie Renzi, ob der deutsche Weg des Sparens wirklich der einzige und richtige ist.
    Radikale Euro-Gegner gibt es in Italien viele – von Beppe Grillos Protestpartei "Movimento 5 Stelle" auf der linken bis zum Lega-Nord-Anführer Matteo Salvini auf der rechten Seite. Aber: Den Euro abgeben? Soweit würden Italiens Ökonomen nicht gehen, denn man weiß: die wirtschaftlichen Folgen wären dramatisch. Nur: Ein bisschen mehr Unabhängigkeit möchte man schon. EU-Länder wie Großbritannien, Dänemark und Schweden, die sich entschieden haben, außerhalb des Euro zu bleiben, zeigten sich im Kampf gegen die Krise robuster – gerade weil sie einen größeren Handlungsspielraum hätten, sagen viele Italiener. Zurzeit teile das System einer gemeinsamen Währung Europa mehr als dass es dieses vereine. Also lautet die Lösung: Den Euro behalten. Und eine Alternative haben:
    "Indem der italienische Staat beschlossen hat, sich der Euro-Zone anzuschließen, hat er eine der fundamentalsten Befugnisse abgegeben, die ein Staat hat: die, Geld zu schaffen. Die Mitglieder der Eurozone sind in einer Situation, die nicht mehr haltbar ist. Sie müssen ihre Wirtschaftspolitik auf einer fremden Währung, nämlich dem Euro, aufbauen, und wenn sie Geld brauchen, müssen sie bei den Privatbanken um einen Kredit bitten, deren Zinssatz weitaus höher liegt als der, den die Banken an die Europäische Zentralbank zahlen."
    Die angesehene italienische Politik-Zeitschrift "Micromega", jahrelang eines der wichtigsten Sprachrohre von Italiens intellektuellen Linken gegen Silvio Berlusconi, hat in einem jüngst erschienen E-Book in verschiedenen Aufsätzen einen neuen Weg skizziert. Einen Ausweg aus dem Dilemma. Eine Art Sonderweg, der es Italien ermöglichen soll, die von europäischen Nachbarn wie Deutschland vorgeschriebene Sparpolitik abzufedern. Der Staat soll kein neues, eigenes Geld drucken, sondern Schuldscheine an Angestellte, Firmen und Arbeitslose ausgeben, die damit wiederum Steuern und andere Abgaben an die öffentliche Hand tätigen sollen. Schuldscheine im Wert von bis zu 100 Milliarden Euro könnten so emittiert werden – und die Autoren meinen, hier eine interessante Möglichkeit der Geldvermehrung entdeckt zu haben: Zwar sei es die Europäische Zentralbank, die den Euro ausgibt. Aber da es hier ja am Ende um Fiskalfragen gehe, sei es Sache eines souveränen Landes, so etwas zu selbst entscheiden.
    "Wir schlagen vor, dass die einzelnen Länder der Eurozone – je nach Bedarf ihrer nationalen Volkswirtschaften – Schuldscheine emittieren, um mit ihnen die Steuerlast und jegliche andere Form von Zahlungsverpflichtungen gegenüber der öffentlichen Hand zu reduzieren. Die Zertifikate würden schnell eine Quasi-Währung; sie könnten sofort in Euro verwandelt werden – also in Zahlungsmittel, die dann wieder in Wachstum investiert werden könnten."
    Der Mechanismus, bestechend einfach: Mit den Schuldscheinen würde zunächst die Nachfrage gesteigert, es stünde mehr Geld für öffentliche Ausgaben zur Verfügung, die Steuern könnten verringert werden.
    In Italien will man sich vor allem unabhängiger machen von Berliner und Brüsseler Vorgaben. "Ein politisch vereintes Europa? Das gäbe es nur unter deutscher Führung", heißt es in "Micromega". "Un incubo" sei dies, ein "Alptraum".
    Dabei war da mal diese große Hoffnung, dass sich mit dem Euro auch Italien verändern würde. Dass eine stabilere Währung auch alles andere ein bisschen stabiler machen könnte. Italien vor der Einführung des Euro, das war vor allem: Euphorie und Vorfreude.
    Dann kam der Januar 2002, und der Espresso wurde von heute auf morgen um ein Drittel teurer. Die Wirtschaft wurde gleichzeitig schwächer. Eigentlich, fanden viele Italiener, sei der Euro nichts anderes als eine verkleidete D-Mark. Das Problem war nur: Italien war nicht Deutschland. Das ist es, was vor allem von "Micromega" und seinen über weite Strecken sehr finanztechnisch argumentierenden Autoren hängen bleibt: Europa ist zerrissen in Nord und Süd. Und wenn man schon nicht weg kommt vom Euro, den man längst als "fremde Währung" wahrnimmt, dann muss man wenigstens weg von Berlin.
    "Ein Euro-Austritt wäre schön, aber auch extrem kompliziert und gefährlich. Innenpolitisch würde es das Land auseinanderreißen – in Euro-Gegner und Euro-Befürworter. Die Ausgabe von Schuldscheinen wäre einfacher und weniger riskant."
    Wären sie das wirklich, weniger riskant? Die Fiskal-Schuldscheine könnten am Ende der Einstieg in den Euro-Ausstieg sein – nämlich dann, wenn sie als Parallelwährung eine immer stärkere Bedeutung bekämen. Gerade das aber wollen die Autoren ja nicht: den Euro zerstören. Dieser Widerspruch ist es, der ihren Ansatz gefährlich macht. Andere Risiken – dass mit solchen Schuldscheinen die Inflation explodieren würde, oder dass sie als versteckte Staatshilfen gegen europäisches Recht verstoßen könnten - wischen die Autoren weg. Was bleibt, ist vor allem diese Erkenntnis: So simpel und ungefährlich, wie das Projekt in Italien angepriesen wird, ist es nicht. Das Land wird andere Rezepte brauchen, um wirtschaftlich weiter auf die Beine zu kommen.