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Ryd im schwedischen Småland
Ein Autofriedhof als historisches Museum

Die Bewohner der Gegend parkten ihre alten Autos einfach im Wald - und überließen sie Wind und Wetter. Mittlerweile ist der wilde Autofriedhof in der Nähe der Ortschaft Ryd im schwedischen Småland ein Anziehungspunkt für Touristen geworden. Denn hier findet man Fahrzeuge, die aus der Welt gefallen zu sein scheinen.

Von Johannes Kulms | 14.05.2017
    Autofriedhof Kyrkö Mosse in der Nähe der Ortschaft Ryd in Schweden
    Autofriedhof Kyrkö Mosse in der Nähe der Ortschaft Ryd in Schweden (imago/imagebroker)
    Es soll Leute geben, die glauben, Autos hätten eine Seele. Falls das stimmt, könnte diese Seele vielleicht gerade hier spürbar werden - in einem auf den ersten Blick so gewöhnlich erscheinenden südschwedischen Waldstück, knapp 200 Kilometer nördlich von Malmö.
    Da ist die Luft, die an diesem kühlen, nassen Vormittag nach Tannen riecht. Und da ist der mal matschige, mal moosige Boden, der die Schritte federn lässt. Doch gewöhnlich ist dieser moorastige Ort nicht. Noch nicht. Denn die Uhr tickt.
    "Hier haben wir einen Fordson-Traktor. Dieser Traktor verändert sich von Jahr zu Jahr. Es ist nicht lange her, da hatte er noch einen Kühler. Aber die Leute versuchen immerzu, irgendein Teil mitzunehmen. Weil die Sachen hier nicht mehr einem einzelnen Besitzer gehören - sondern dem Jedermannsrecht unterliegen - also sozusagen allen gehören."
    Jan Johansson steht vor einem grau-rostigen Ungetüm, das ziemlich zerfleddert wirkt. Wie dem Fordson-Traktor ergeht es dem gesamten Autofriedhof von Kyrkö mosse - ein paar Kilometer außerhalb der småländischen Ortschaft Ryd: Weit über einhundert Autowracks aus einem halben Jahrhundert rosten und rotten hier vor sich hin.
    Ihre Motoren sind längst verstummt - anders als die der Wagen, die immer wieder auf der nahen Landstraße vorbeirasen.
    "Das hier ist kein Ort, der überdauern wird. In 30 Jahren wird diese Touristenattraktion verschwunden sein. Das ist hier passiert jetzt - und es ist der Prozess, der so interessant ist. Deswegen kommen viele Touristen Jahr für Jahr wieder hierher, um die Veränderungen zu beobachten."
    Johansson ist 72 Jahre alt und verfolgt diesen Prozess schon lange. Immer wieder führt er über das knapp zwei Hektar große Gelände gegen ein kleines Entgelt Gruppen. Vor seiner Verrentung war Johansson Telefoninstallateur. Durch seine Arbeit ist er herumgekommen in der zutiesft ländlichen Gegend, hat viele Leute kennengelernt - darunter auch Åke Danielsson auf dem Waldstück bei Ryd.
    "Ich war oft hier um sein Telefon zu reparieren. Das Telefon war für Åke sehr wichtig, weil häufig Leute anriefen, um sich nach Ersatzteilen zu erkundigen. Elektrizität gab es hier nicht - wohl aber ein Telefon!"
    Der Autofriedhof von Ryd als Spiegel der Geschichte
    Johansson hat von Åke ein Foto mitgebracht von Åke. Es zeigt einen älteren Mann mit langem grauen Rauschebart Pfeife rauchend, der ein bisschen aussieht wie ein Fischer im Märchen. 1914 kam Åke in der Provinz Skåne zur Welt - in einer Zeit, in der das Automobil noch eine absolute Ausnahmeerscheinung war.
    Als Åke im Jahr 2000 in einem Pflegeheim starb hatte sich das freilich längst geändert. Und so ist der Autofriedhof von Ryd auch ein Spiegel der Geschichte: Hier lässt sich der Wandel der Mobilität genauso beobachten wie der Wandel der schwedischen Gesellschaft, in der es selbstverständlich wurde, ein Auto zu besitzen. Doch diese Entwicklung führte am Ende auch zu der Frage: Was tun mit dem rostigen Erbe?
    Zunächst hatte der aus dem äußersten schwedischen Süden stammende Åke als junger Mann auf dem sumpfigen Gelände Torf gestochen. Dafür hatte er sogar eigens Gleise für eine kleine Bahn verlegt. Dann schwenkte er irgendwann sprichwörtlich um auf die Autoschiene. Es war in den 50er Jahren - in einer Zeit, in der viele Schweden plötzlich selber ein eigenes Auto fahren wollten erzählt Johansson.
    "Viele der Autos sind schnell gerostet und die Leute brauchten einen Abstellplatz. Der Boden hier war nicht gerade wertvoll und die Nachfrage nach Torf ging zurück. Und da sagten sich die Leute: 'Na, dann fahren wir doch raus zu Åke und lassen den Wagen dort stehen!' Und er sagte 'Ja, macht das mal' und dann fing er an, Teile aus den abgestellten Fahrzeugen rauszuholen und sie dann wieder zu verkaufen. Zum Beispiel einen Startmotor oder einen Generator. Dafür hat er dann ein paar Kronen gekriegt. Er war wirklich ein Unternehmer. Heute sagen wir ja, wir brauchen Unternehmer und bezeichnen diese Leute als Entrepreneure. Aber ich glaube, dass das gar kein neues Konzept ist - Åke war ganz sicher ein Entrepreneur!"
    Läuft man den Waldweg vom kleinen improvisierten Besucherparkplatz ein paar hundert Meter entlang, tut sich ein kleines Reich auf aus alten Saabs, Volvos, ebenso wie Volkswagen und Renaults und vielen weiteren Automarken. Sie stehen links und rechts vom Weg, aufgereiht. Aber sie versinken auch fernab davon zwischen den Kiefern - im moorastigen Boden.
    Auf den Dächern der Fahrzeuge breiten sich Moosteppiche in unterschiedlichen Farbtönen wie kleine Kunstwerke aus - wenn die Dächer nicht ohnehin schon dem Rost nachgegeben haben oder einem umgestürzten Baum zum Opfer gefallen sind. In manchen Autos haben sich Farne und Nadelbäume angesiedelt.
    Ein Fischwagen und ein Bäckerwagen erinnern an alte Zeiten
    Viele der hier abgestellten Fahrzeuge haben ihre ganz eigene Geschichte, die sich heute nur noch erahnen lässt. Da ist der Fischwagen eines Ladens aus Küstenstadt Karlshamn, woanders steht ein Landhandel-Transporter ebenso wie ein Bäckerwagen.
    Das auffälligste Fahrzeug auf dem Autofriedhof dürfte aber der Bus aus den 50er Jahren sein, der direkt neben Åkes früherer Werkstatt steht. Tatsächlich wird er oft fotografiert und taucht in einer ganzen Reihe von Youtube-Videos auf. Auch als Kulisse für Aufnahmen mit Fotomodels hat er schon gedient.
    Prominent in Szene gesetzt wurde der Bus und mit ihm auch Kyrkö mosse kürzlich im Musikvideo des Songs "Are we awake" der israelisch-französischen Sängerin TAL. Mehr als 16 Millionen Mal wurde der Clip bisher bei youtube angeklickt. Darin zu sehen ist eine junge Frau, die nur leicht bekleidet im Sonnenlicht über den Autofriedhof tanzt, springt - und immer wieder Unterschlupf sucht in dem blaugrauen Bus.
    Doch betritt man das Fahrzeug ganz real, überkommt einen spätestens dann ein bedrückendes Gefühl: Die Busdecke ist von innen aufgerissen, unter dem Lenkrad klafft ein Loch das den Blick freigibt auf den Waldboden. Jan Johansson wird bei dem Anblick etwas sentimental…
    "Ich bin in Ryd zur Schule gegangen. Und meine erste Klassenreise habe ich 1952 gemacht - da ging es nach Helsingör in Dänemark. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir damals mit diesem Bus gefahren sind! Die ganze Schule von Ryd ist damals mitgefahren, fünf, sechs, sieben Linienbusse waren das. Und der Bus, der da vor uns steht, war auch dabei, da bin ich mir sicher. Da kommt schon ein bisschen Nostalgie auf - so als stünde dort mein Name."
    In diesem Bus und in der angrenzenden Werkstatt hat Åke viel Zeit verbracht.
    Nur ein paar Schritte weiter wohnte er - in einer gerade mal zwölf Quadratmeter großen einfachen Holzhütte, schlecht isoliert und ohne Strom. Åke lebte hier wie ein Aussteiger - während im nahen Ryd alles seinen gewohnten Gang ging.
    "Er war schon ein ziemliches Original, etwas speziell: Er hatte keine Familie, lebte hier sein eigenes Leben. Er war kein Intellektueller, er war ziemlich normal. Aber Åke war eine Persönlichkeit. Und die Leute sind ihm mit Respekt begegnet."
    Mit Respekt begegnet den Hinterlassenschaften von Åke auch die dänische Familie, die heute das erste Mal den Autofriedhof besucht. Ein wirklich ungewöhnlicher Ort sei dies, meint Klaus, der Vater - und so gar nicht typisch schwedisch!
    Klaus: "Ja - weil die Leute hier doch normalerweise sehr auf die Umwelt achten. Aber das sie diesen Ort hier am Leben halten - oder eben tot je nachdem wie man es sieht - ist schon seltsam!"
    "Man betritt eine andere Welt"
    Dass Kyrkö mosse ein trauriger Ort ist findet der Däne nicht.
    "Nein - ich meine, das sind doch hier die Farben von Schweden! Wenn ganz Schweden so aussehen würde wäre das natürlich schon traurig. Aber das hier erinnert mich ein wenig an Hogwarts bei Harry Potter - man betritt eine andere Welt!"
    Der Ort sei toll zum Entdecken, meint Mette, die Mutter, und schaut dabei auf ihre tobenden Kinder. Angst davor, dass diese sich verletzten könnten hat sie nicht.
    Mette: "Das wird wohl passieren. Aber so ist das, wenn man Kinder hat!"
    Derweil stapft ein junger Mann in Gummistiefeln mit Hipster-Bart und professioneller Fotoausrüstung an der dänischen Familie vorbei. Ins Mikrofon sagen will er nichts, stattdessen zieht er sich zurück und baut vor einem Fahrzeugwrack am Wegesrand sein Stativ auf.
    Kein Zweifel: Der Autofriedhof beschert dem etwas verschlafenen Ryd und seiner Umgebung Besucher. Doch die verändern Kyrkö Mosse. Nicht immer nur zum besten…Was würde Åke, der Gründer wohl sagen, wenn er noch am Leben wäre?
    Johansson: "Ich glaube, er würde mit den Achseln zucken. Er würde sich wohl nicht so viele Gedanken darüber machen. Er hat doch etwas gutes gemacht, viele sind der Meinung, dass er einen Umweltpreis verdient hätte. Er hat überall Unterstützer gefunden, er hat nicht etwas schlechtes, sondern etwas gutes gemacht das ist doch toll - überall auf der Welt interessieren sich Leute für diesen Ort und diesen unbedeutenden Mann - Åke ist fast so berühmt geworden wie Elvis Presley."
    Tatsächlich wurde Åkes Schrottsammlung zunächst als großes Umweltproblem wahrgenommen, nachdem dieser 1992 den Autofriedhof verlassen hatte und in ein Pflegeheim gezogen war. Alle Wracks aus dem Moor zu bergen würde sehr kompliziert - zu kompliziert. Am Ende folgten die Behörden einigen sehr engagierten Bürgern, die die Einzigartigkeit des Ortes erkannt hatten - im positiven Sinne. Inzwischen wird Kyrkö Mosse von den lokalen Tourismusämtern vermarktet.
    Und so gilt der Autofriedhof nun bis zum Jahr 2050 als Kulturstätte - danach dürften die Karossen endgültig verschwunden sein. Für Kyrkö mosse ist diese Auferstehung Segen und Fluch zugleich. Kommen manche Besucher doch her, um Teile mitzunehmen. Oder die Karossen weiter zu zerstören - der Vandalismus beschleunigt den Zerfall.
    Doch Jan Johansson sieht all das gelassen. Für ihn ist der Besuch von Kyrkö mosse jedes Mal auch ein Ausflug in die eigene Vergangenheit, an die ihn die Autowracks erinnern:
    "Wenn man älter wird, denkt man viel an seine Kindheit und an die Jugend zurück. Da kommen die Gefühle zurück und so geht mir das, wenn ich hier bin: Ich empfinde dann tatsächlich Glück! Die Dinge kommen und verschwinden. Und das tun wir selber ja auch. Das ist doch ein natürlicher Prozess, das ist kein schlechtes Gefühl oder Frustration, die sich da breit macht - ganz und gar nicht!"
    Johansson lacht noch einmal und steigt dann ein in einen Morris-Minor - einen schwarzen englischen Kleinwagen, Baujahr 1951. Es ist Johanssons eigenes Auto - ein Veteran, der immer fährt noch. Ob der Wagen eine Seele hat? Ganz sicher!