Freitag, 19. April 2024

Archiv

EchtZEIT
Die Kunst der Langsamkeit

Innerhalb weniger Jahre hat sich unser Zeitempfinden verändert. Und die Zeit hat natürlich auch neue Sounds: Die Nachrichten-Signaltöne von Freunden aus sozialen Netzwerken zum Beispiel. Digitalisierung und Globalisierung des Zeitbegriffs und was Künstler daraus machen, das zeigt eine Ausstellung im Kunstmuseum Bonn.

Von Peter Backof | 08.06.2016
    Werk des belgischen Künstlers Kris Martin, zu sehen auf der EchtZEIT-Ausstellung im Kunstmuseum Bonn
    Werk des belgischen Künstlers Kris Martin, zu sehen auf der EchtZEIT-Ausstellung im Kunstmuseum Bonn (Kris Martin)
    "Manchen Besuchern wird das auf die Nerven gehen. Und manche werden in einen Modus der Entspannung hineingeraten."
    Die Zeit ist ein Sekundengrab. Oder werden hier Schäfchen gezählt? Kurator Volker Adolfs erläutert, was es mit der Klanginstallation von Ignacio Uriarte auf sich hat, die am Eintritt zur Ausstellung "EchtZEIT – die Kunst der Langsamkeit" tönt.
    "Wenn da acht Stunden von 1 bis 3250 gezählt wird, eben acht Stunden, so lang wie ein Bürotag dauert:"
    Und wenn man erfährt, dass die Arbeit "Nine-to-Five-Job" heißt, dann ist die Assoziation zum Büroschlaf durchaus gewollt und gleichmal Humor im Spiel. Kunst der Langsamkeit? Der im Sekunden-Takt zählenden, hypnotisierenden Stimme ist es piepegal, ob man zu viel oder zu wenig Zeit mitbringt. Sie zählt stoisch ihre 28.000 Sekunden herunter. Weil die Zahlen aber von den Silben her immer länger werden, zählt sie effektiv: Immer langsamer!
    "Wir sind ausgegangen davon, dass die Künstler die Beschleunigung, die wir erleben, das Erhöhen des Lebenstempos mitvollziehen in der Kunst, aber sie machen das Gegenteil. Wir sprechen hier über Verlangsamung, Wiederholung, Drehung und Dehnung der Zeit."
    Eine Uhr aus Abfall
    Da sitzt man im Video "IC205"" von Jan Schmidt im Schnellzug. Immer morgens um 5 vor 7. Mit versteckter Kamera gefilmt, passiert da: nicht viel. Keine zeitoptimierten Anderen, die an Laptops werkeln sind da, nur jeden Morgen dieser eine Mann am anderen Ende des Waggons. So weiß der Künstler, dass er wieder im richtigen Zug sitzt. Eher fern von vagen und pathetischen Verallgemeinerungen über unsere schnelllebige Zeit: Die Ausstellung zeigt eine ganze Reihe innerer Uhren. Andere Uhren, wie die in der Videomontage von Christian Marclay:
    "In London ist er durch die Straßen gegangen, hat Abfall gesucht, hat Deckel von Trinkbechern gefunden, in denen noch die Strohhalme steckten: Und erkannt, dass das ja eine Uhr ist: eine Uhr aus Abfall. Gebrauchte Zeit!"
    Sehr gefällig: Sonnenuhren der globalisierten Wegwerfgesellschaft. Wieder im Sekundentakt. Überhaupt haben alle Werke von EchtZEIT" ihren eigenen Takt. Der Fotograf Michael Wesely denkt in Monaten: Er hat den Umbau des Potsdamer Platzes in Berlin dokumentiert, mit Belichtungszeiten bis zu 18 Monaten. Zeitschlieren von Gebäuden sind zu sehen. Über den Horizont wandern Dutzende von Sonnen. Der Maler Peter Dreher dagegen taktet nach Tagen: Er hat - inzwischen fünftausend Mal - dasselbe Trinkglas gemalt. Zwar sieht man in Bonn nur eine kleine Auswahl der ins Unendliche zielenden Serie, dennoch wirkt das hypnotisierend: Es sei, so Peter Dreher, ein Glück, jeden Tag anders, das Glas zu malen. Und er malt ja am Ende sich und die Zeit selbst.
    Zeit ist Geld ist Kunst
    "Ja, was erfährt man in so einer Ausstellung? Zeit ist ja ein existenzielles Phänomen. Wir beginnen und enden in der Zeit. Ob Sie da eine Entschleunigungsinsel vorfinden, also dass Kunst ein geschlossenes Gegenmodell zur Beschleunigung bereitstellt? Das wage ich erstmal zu bezweifeln. Weil die Kunst ja selber ein Medium ist, das unsere Erfahrung verworren, vielfältig und fragmentarisch widerspiegelt. Also es ist keine Gegenphilosophie."
    Es ist aber überhaupt: Philosophie. Die lapidarsten Arbeiten in der Hinsicht hat Volker Adolphs fast ein bisschen versteckt, im hinteren, "der weiße Salon" genannten Kabinett. In Reliquienschreinen sind sie hinter viel Glas geschützt - weil die sprichwörtliche Museumsputzfrau sie schon mal wegsaugen könnte. Das "Seidenstück II" von Jens Risch ist ein kilometerlanger Faden, so oft in sich verknotet wie es nur möglich ist. Sieht aus wie ein Klumpen Teppichflusen, ist aber: geballte Zeit. Lebenszeit des Künstlers. Und in dem Glasei von Jochem Hendricks befinden sich tatsächlich Zehn Millionen Zweihundertachtundfünfig Tausend Siebenhundertdreiundvierzig Sandkörner. Für die Zählung hatte Hendricks ein Helferteam engagiert und nach Stundenlohn bezahlt. Er wollte gehäufte Arbeitszeit sichtbar machen. Zeit ist Geld ist Kunst. Falls Sie meinen, eine originelle Kunstidee zu haben, überprüfen Sie das lieber nochmal in Bonn. Vielleicht war jemand - mit langsamer Kunst - bereits schneller.