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Edel arrangierte Oasen

Mit dem Namen mancher Schriftsteller verbindet die Nachwelt kaum mehr als einziges Werk, ganz unabhängig von der Bandbreite dessen, was der Autor zu Lebzeiten vorgelegt hat. Der Franzose Joris-Karl Huysmans gehört in diese Kategorie. Nur eingefleischten Literarhistorikern ist geläufig, dass aus dessen Feder frühe naturalistische Romane wie "Marthe" oder späte, religiös ausgerichtete Werke wie "Die Kathedrale" stammen.

Von Rainer Moritz | 11.05.2007
    Huysmans – das ist vor allem der Autor des Romans "A rebours" geblieben. 1884 erschien dieser und schlug, wie sich Huysmans erinnerte, wie ein "Meteor" in der Literaturlandschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein. "A rebours" war deutschen Lesern stets unter dem Titel "Gegen den Strich" geläufig. Jetzt, zu Huysmans' 100. Todestag, legt der Haffmans Verlag Caroline Vollmanns gelungene Neuübersetzung vor und versieht das fein ausgestattete Buch mit einem neuen Titel. "Gegen alle" soll Huysmans' Meilenstein der Fin-de-siècle-Literatur nun heißen – ein sperrig-hölzerner Vorschlag, der sich kaum einbürgern dürfte.

    Worum geht es in diesem – so Oscar Wilde - "Roman ohne Handlung", in dieser Bibel der Dekadenz? Der Protagonist Jean Des Esseintes wendet sich angeekelt vom Gesellschaftsleben ab und will sich vor den Toren Paris', in Fontenay-aux-Roses, von den Übeln seiner Zeit abgrenzen. Des Esseintes, letzter Spross einer im Niedergang begriffenen Adelssippe, nimmt Abschied von allem, was ihm zuvor wichtig, von den Frauen, von seinem zur Schau getragenen Dandytum und von Inszenierungen, die ihn in der Pariser Gesellschaft berühmt machten:

    "Er erwarb sich den Ruf eines Exzentrikers, den er vollends festigte, indem er sich in Anzüge aus weißem Samt und in goldverbrämte Westen kleidete, anstelle einer Krawatte einen Strauß Parmaveilchen in das halbmondförmig ausgeschnittene Dekolleté seines Hemdes steckte und aufsehenerregende Diners für Literaten gab, unter anderen eines in Anknüpfung an das 18. Jahrhundert, wo er zur Feier des belanglosesten aller Missgeschicke ein Leichenmahl veranstaltet hatte.

    Im schwarzverhangenen Speisesaal, der den Blick auf den in aller Eile umgestalteten Garten des Hauses eröffnete, wo mit Kohlenstaub bestreute Wege sowie ein kleines, jetzt mit einem Basaltkreuz eingefasstes und mit schwarzer Tinte gefülltes Wasserbecken und aus Zypressen und Pinien arrangierte Baumgruppen zu sehen waren, hatte man das Diner auf einem mit Veilchen- und Skabiosenkörben geschmückten und von grün flammenden Kandelabern und Leuchtern mit Wachskerzen erhellten schwarzen Tischtuch serviert.

    Während ein unsichtbares Orchester Trauermärsche spielte, waren die Gäste von nackten Negerinnen bedient worden, die Pantoffeln und Strümpfe aus mit Tränen besätem Silberstoff trugen. (...) Auf den Einladungsschreiben, die jenen zu einer Beerdigung glichen, hatte gestanden: Diner zur Bekanntmachung einer momentan erloschenen Manneskraft."

    Diese Extravaganzen sind für Des Esseintes Vergangenheit. In seinem – teuer ausgestatteten – Refugium geht es darum, eine Kunstwelt aufzubauen, die mit dem zeitgenössischen Leben nichts mehr zu tun hat. "A rebours" ist Ausdruck einer Enttäuschung, die Huysmans mit vielen Künstlern seiner Epoche teilte. Vermassung, Nivellierung und Industrialisierung scheinen die Ansprüche von Kunst und Moral außer Kraft zu setzen, und so suchen viele Intellektuelle ihr Heil in künstlichen Welten, in edel arrangierten Oasen. Des Esseintes vollzieht diesen Akt – und das macht den Skandal seiner Geschichte aus – auf radikale Weise. Die Künstlichkeit erscheint ihm als "Wahrzeichen des menschlichen Genies", und nur dort wo eine "wirkliche Überreizung des Blutes und der Sinne" zu spüren ist, lohne es sich zu leben.

    Des Esseintes ist ein kranker Mann, am Anfang wie am Ende des Romans. Seine Neurosen lassen ihn an allem leiden, am lauten Auftreten seiner Bediensteten, an unbekömmlichen Nahrungsmitteln, die ihn letztlich auf die Segnungen künstlicher Ernährung hoffen lassen, und vor allem an den Hervorbringungen von Kunst und Philosophie. Meist zur Untätigkeit verdammt, lässt Des Esseintes Revue passieren, was die Literatur- und Kunstgeschichte zu bieten hatte und hat – angefangen bei der lateinischen Dichtung bis hin zu den neueren Werken Flauberts. Wenige Säulenheilige finden Gnade vor Des Esseintes' kritischem Auge – Arthur Schopenhauer zum Beispiel, Edgar Allan Poe, Gustave Moreau, Mallarmé oder Baudelaire, der in "Bereiche der Seele" vorgestoßen sei, "wo sich die monströsen Gewächse des Denkens" verzweigten. Das meiste jedoch, mit dem die Gegenwart aufwartet, genügt den Ansprüchen des leidenden Ästheten nicht.

    Des Esseintes' versucht dieser Entwicklung zu trotzen – dadurch, dass er seine noble Behausung mit kostbarsten Materialien ausstattet und keine Verfeinerung scheut. Der Glanz eines Teppichs etwa kommt für Des Esseintes nur zur Geltung, wenn sich auf ihm eine schwere Schildkröte aufhält, deren Panzer mit teuersten Edelsteinen besetzt wird. Um die angestrebte Verschmelzung aller Sinne zu erreichen, schreckt Huysmans nicht davor zurück, die Behausung seines Helden mit originellen Elementen zu bereichern, mit einer Likörorgel etwa:

    "Er ging in das Speisezimmer hinüber, wo ein in einer der Zwischenwände eingebauter Schrank eine Reihe kleiner Fässer enthielt, die in winzigen Sandelholzgestellen nebeneinander lagen und unten an ihren Bäuchen mit silbernen Hähnen durchbohrt waren. Diese vereinigten Likörfässchen nannte er seine Mundorgel. Eine Stange konnte alle Hähne erreichen und sie gleichzeitig bedienen, so dass es, wenn die Vorrichtung eingestellt war, genügte, einen unsichtbaren Knopf in der Holzverkleidung zu drücken, damit alle Hähne, die im selben Moment aufgedreht wurden, Likör in die unsichtbar unter ihnen stehenden Becher füllten.

    Die Orgel war nun geöffnet. Die Register mit den Etiketten 'Flöte', 'Horn', 'Celesta' waren gezogen und bereit für das Manöver. Des Esseintes trank da und dort einen Tropfen, spielte sich innerlich Symphonien vor und erreichte es, sich in seiner Kehle Empfindungen zu verschaffen, die denjenigen glichen, die die Musik uns ins Ohr gießt."

    "A rebours" ist eine Enzyklopädie des Nieder- und Untergangs. Kaum etwas, was die Absonderlichkeit dieser Geisteshaltung ausmacht, wird ausgespart: Da geraten die Geschlechterrollen durcheinander, da waltet eine für Huysmans besonders typische Frauenverachtung, da droht die Syphilis, da werden Treibhausblumen angeschafft und später "natürliche Blumen, die unechte nachahmten", und da verlieren die Moralvorstellungen vollends ihre Gültigkeit. Der dekadente Ästhet Des Esseintes kennt in seinem Hass auf die Gesellschaft keine Grenzen und erinnert sich genüsslich, wie er einem 16-jährigen Jungen Prostituiertenbesuche ermöglichte und ihn von diesen Reizen abhängig machte – mit eindeutigem Ziel:

    "Es braucht drei Monate, bis die Mädchen ihm absolut unentbehrlich geworden sind (...); nun, wenn ich ihm am Ende der drei Monate die kleine Rente streiche (...), dann wird er stehlen, um hierher kommen zu können; er wird alles tun, um sich auf diesem Diwan und unter diesem Gaslicht wälzen zu können!

    Er wird, so hoffe ich, die Dinge auf die Spitze treiben und den Herrn töten, der ungerufen auftaucht, während er versucht, dessen Schreibtisch aufzubrechen; - dann wäre mein Ziel erreicht, und ich hätte im Rahmen meiner Möglichkeiten dazu beigetragen, einen Halunken zu erschaffen, einen Feind mehr für diese grässliche Gesellschaft, die uns prellt."

    "A rebours" ist – das hat Joris-Karl Huysmans angemerkt – ein "Bruch" in seinem Schaffen, eine endgültige Abkehr von seinen naturalistischen Anfängen. Der brillante Stilist Huysmans zog sich in seinen Romanen immer weiter von der Außenwelt, von der Schilderung der gesellschaftlichen Erniedrigten, zurück und wandte sich den seelischen Verschiebungen zu. Ein Bindeglied zu "A rebours" stellt der drei Jahre zuvor veröffentlichte Roman "En ménage" dar, der – wiederum von Caroline Vollmann übertragen – als deutsche Erstausgabe mit dem Titel "Trugbilder" gerade im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen ist. Dieser beschreibt den Pariser Alltag zweier Künstler: des mit hohen Ansprüchen auftretenden Schriftstellers André und des Malers Cyprien, der als Auftragsarbeiter für die Werbebranche endet. Beide reüssieren nicht und verfallen in kleinbürgerlichem Mief, den sie im Grunde verachten. André, der von seiner Frau betrogen wurde, ist unfähig, auf eigenen Füßen zu stehen, und flüchtet in die Arme abgelegter Mätressen, ehe er zu seiner Gattin zurückkehrt. Dieser, wie Cyprien spottet, "Traum von erschöpften Menschen jenseits der Dreißig" ist kein Ausweg und bildet den Gegenpol dessen, was Jean Des Esseintes zur Grundlage seines Lebens machen wird.

    Huymans' Werk war mit "A rebours" keineswegs abgeschlossen. Es nahm, nach dem 1891 erschienenen Krisenbuch "Tief unten", einen Weg, den Huysmans' Kollege Jules Barbey-d'Aurevilly in seiner Rezension von "A rebours" voraussah:

    "Ich habe einmal Baudelaire für seine Originalität verhöhnt, die 'Fleurs du mal' wieder aufzunehmen und einen weiteren Schritt in der schon ausgeschöpften Richtung des Blasmephischen zu gehen. Ich könnte den Autor von 'A rebours' mit denselben Worten verhöhnen: 'Nach den 'Fleurs du mal'', sagte ich zu Baudelaire, 'haben Sie logischerweise nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole oder den Füßen des Kreuzes.' Baudelaire wählte die Füße des Kreuzes. Aber wird der Autor von 'A rebours' diese Wahl treffen?"

    Joris-Karl Huymans wandte sich im Leben wie in seinen Büchern dem "Kreuz", der Religion, zu und galt bis zu seinem Tode am 12. Mai 1907 als maßgeblicher Vertreter des literarischen Katholizismus. Für die Ewigkeit waren diese ökonomisch durchaus erfolgreichen späten Romane nicht geschrieben; dort hingegen hat sich der neurotische Aristokrat Jean Des Esseintes bis heute einen festen Platz bewahrt.

    Joris-Karl Huysmans: Gegen alle (A Rebours). Aus dem Französischen neu übersetzt von Caroline Vollmann. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins. Frankfurt/Main 2007. 366 Seiten.

    Joris-Karl Huysmans: Trugbilder. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007. 335 Seiten.