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Edelfeder trifft Edel-Callgirls

In Malgorzata Szumowskas neuem Film "Das bessere Leben" spielt Juliette Binoche die wohlsituierte Journalistin Anne. Brillant verkörpert sie eine Frau in reifem Alter, deren Lebensselbstverständlichkeiten durch die Begegnung mit zwei jungen Studentinnen, die sich als Prostituierte verdingen, ins Wanken geraten.

Von Hartwig Tegeler | 28.03.2012
    Alicja stellt sich auf den Balkon. Im zehnten oder war es der zwanzigste Stock?

    "Ich suche das bessere Leben! - Aber nicht hier! - Was für eine Scheiße."

    Ja, was für ein Blick über diese Trabantensiedlung im Pariser Vorort. Wegen eines "besseren Lebens" verdingt sich Alicja wie Charlotte, ebenfalls Studentin, als Prostituierte. Anne, Journalistin, hat das mit dem "besseren Leben" hingegen schon lange erreicht. Sie interviewt Alicja und Charlotte für die Modezeitschrift "Elle". Hippes Thema. Edel-Callgirls.

    Anne: "Was für Männer haben Sie als Klientel? Wie würden Sie die beschreiben?"
    Alicja: "Gelangweilte Ehemänner! Sind Sie jetzt zufrieden?"

    Zufriedener? Nein, das wird Anne nach diesen Interviews nicht sein. Im Gegenteil: viel irritierter. Wobei sie vorher…

    "Die Art, wie er mich ansieht, macht mach an. Mögen Sie das etwas nicht."

    …, in der Zeit vor den Interviews nichts davon bemerkte. Oder nicht wahrhaben wollte.

    Malgorzata Szumowska erzählt in ihrem Film "Das bessere Leben", wie sich aus der Begegnung der Journalistin mit den beiden jungen Studentinnen anfangs unmerklich,

    "Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen."

    Erschütterungen ergeben. Brillant spielt Juliette Binoche die wohlsituierte bürgerliche Journalistin im reifen Alter. Langsam rüttelt das, was Anne erfährt, immer massiver an ihren Lebensselbstverständlichkeiten.

    "Was für Männer haben Sie als Klientel? - Gelangweilte Ehemänner!"

    Und was ist mit Annes Ehemann? Auch gelangweilt? Auch Klientel? Und: Wäre Anne bereit, ihr jetziges Leben für ein, ja, vielleicht Authentischeres, aufzugeben. Oder ist sie nicht vielmehr Charlotte ähnlich, die meinte:

    "Wenn ich mir vorstelle, dass ich wieder zu dem Leben von vorher zurückkehren soll. Mit wenig Geld."

    Die beiden Studentinnen erleben die Edel-Prostitution nicht als Gewalt; Erniedrigung und Demütigung sind Teil ihres Berufes, was der Film nicht ausspart, aber die Escort-Damen sehen sich nicht als Unglückliche.

    "Ich hatte schon nach einem Monat eine tolle Wohnung hier in Paris. - Ach ja!"

    Ist dieses Leben eine Illusion? Oder - fragt Malgorzata Szumowska in ihrem Film, oder lebt Anne in einer Illusion? Das verborgene Begehren, die selbstverständlichen Alltagslügen werden plötzlich sichtbar.

    "Hat der Kühlschrank dir was getan? - Nein, ich will nur sehen, was wir für heute Abend noch so brauchen. Für deinen verehrten Chef."

    Charlotte macht neben der Prostitution noch einen Billigjob. Reines Versteckspiel, meint sie.

    "Sonst wäre es ein wenig schwierig, meinen Eltern zu erklären und meinem Freund, woher ich ständig soviel Geld habe."

    Aber was ist Annes Versteckspiel? Malgorzata Szumowska beschreibt in "Das bessere Leben" einen einzigen Tag: den der Abgabe des Artikels über die Prostituierten und des Abendessens mit dem Chef ihres Mannes. Wie Assoziationssprengsel mischen sich da hinein Erinnerungen an diese Interviews. Die nicht chronologische, assoziative Erzählweise, die präzise entworfenen Räume und die Farbdramaturgie - fast alles wirkt kühl und grau - machen den Film formal sehr aufregend.

    Wie eingerahmt ist der Film durch das Bild der Bücherwand aus grauem Holz, davor ein langer Esstisch, davor eine futuristische Couch. Ein Bild, das wir zweimal, am Anfang wie am Ende, sehen. Edles Ambiente - natürlich unterlegt mit Klassik - eines erstarrten Lebens. Gibt es aber nun einen Ausweg aus dieser Sackgasse? Um die Frage zu beantworten, muss man sie stellen. Die Begegnung mit Alicja und Charlotte, den bei studierenden Prostituierten, zwingt Anne zur Frage. Aber ist sie bereit dafür, ist sie bereit für eine Antwort? Am Ende dann wie gesagt noch einmal der Esstisch vor dem Bücherregal. Mann, Kinder, Anne; die Familie beim Frühstück. Die Irritation, die Anne verspürte, als die Masken ihres Lebens fielen: wieder befriedet, Restauration. Also: Wer hat denn nun "das bessere Leben"? Faszinierend, wie Regisseurin Malgorzata Szumowska die Finger von der Antwort auf diese Frage lässt. Gucken wir doch selber!