Dienstag, 16. April 2024

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Edith Cavell wird hingerichtet
Tod einer überzeugten Humanistin

In Groβbritannien wird sie als Kriegsheldin gefeiert, ihr Todestag ist im anglikanischen Kirchenkalender eingetragen, und dieses Jahr wird ihr zu Ehren sogar eine Gedenkmünze herausgegeben. Edith Cavell, eine englische Krankenschwester, wurde heute vor 100 Jahren von einem deutschen Erschießungskommando hingerichtet.

Von Ruth Rach | 12.10.2015
    Das Denkmal von Edith Cavell steht im Herzen von London.
    Ihr Denkmal steht im Herzen von London: Edith Cavell, eine englische Krankenschwester, wurde heute vor 100 Jahren von einem deutschen Kommando erschossen. (Ruth Rach)
    Eigentlich ist sie nicht zu übersehen. Ihr Denkmal steht im Herzen von London, über drei Meter hoch und eine knappe Gehminute vom Trafalgar Square entfernt. Edith Cavell: eine würdevolle Frau in einer schlichten Pelerine. Aber keiner der Passanten, die an diesem regnerischen Vormittag an ihr vorbeieilen, hat jemals von ihr gehört. "No, I haven’t" – "No, I don’t know" – "I have never heard of her before."
    Dabei war ihr Name im Ersten Weltkrieg in aller Munde. Straßen, Schulen, Krankenhäuser sind nach ihr benannt, Filme gedreht, Stücke geschrieben worden. Ihr Leben war unauffällig, ihr Tod tragisch. Im Morgengrauen des 12. Oktober 1915 wurde Edith Cavell von einem deutschen Kommando hingerichtet, gemeinsam mit dem Belgier Philippe Baucq. Wegen Verrats. Angeblich hatten sie alliierten Soldaten zur Flucht verholfen. Edith Cavell war 49 Jahre alt.
    Eigentlich hatte jeder damit gerechnet, dass Edith Cavell begnadigt würde. Selbst Kaiser Wilhelm II. soll schockiert gewesen sein, erzählt Jonathan Evans, Archivar des Royal Hospital Museums in Ostlondon. Er deutet auf einen Glaskasten mit Erinnerungsstücken. Gedichte, Aquarellbilder, französische Literatur - die junge Edith war wissensdurstig, tatkräftig und vielseitig begabt. Sie stammte aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war ein anglikanischer Gemeindepfarrer in der Grafschaft Norfolk. "Frauen aus ihrer Schicht hatten es schwer, bezahlte Arbeit zu finden. Eigentlich gab es nur zwei Berufsmöglichkeiten: Gouvernante oder Krankenpflege."
    Sie verhalf 200 alliierten Soldaten zur Flucht
    Ein paar Jahre lang arbeitete Edith Cavell als Erzieherin für eine französische Familie in Brüssel. Dann kehrte sie nach Norfolk zurück, um ihren kranken Vater zu pflegen. Und entdeckte dabei ihre wahre Berufung: Sie ließ sich als Krankenschwester ausbilden und arbeitete in einem sogenannten Fieberhospital, ohne Penicillin. Ein lebensgefährlicher Einsatz.
    1907 ging Edith Cavell nach Brüssel zurück und eröffnete dort eine internationale Krankenpflegeschule. Sie sah sich in der Nachfolge von Florence Nightingale, der Pionierin der modernen Krankenpflege. Dann kam der Krieg. Nach dem deutschen Einmarsch in Belgien wurde ihr Institut vom Roten Kreuz übernommen; Edith Cavell behandelte französische, britische wie auch deutsche Verwundete, erzählt Jonathan Evans. "Gleichzeitig verhalf sie mehr als 200 alliierten Soldaten zur Flucht. Ein Kollaborateur hat sie verraten. Später wurde spekuliert, sie könnte eine Spionin gewesen sein. Aber ich kann mir das nicht vorstellen. Sie war tief religiös. Zur Spionage hatte sie einfach nicht den Charakter."
    Die Hinrichtung von Edith Cavell erregte weltweit Aufsehen. Alsbald gingen Gerüchte um: Ein Schütze habe sich geweigert, auf den Abzug zu drücken und sei selbst erschossen worden. Dann habe ein deutscher Offizier den Fangschuss auf sie abgegeben.
    Beobachter fanden es besonders schockierend, dass die deutschen Besatzer nicht einmal vor der Hinrichtung einer Frau zurückschreckten. Thomas Mann widersprach. In seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen" vermerkte der Schriftsteller im Jahr 1918: "Die Weltöffentlichkeit beplärrt die Erschießung Edith Cavells. Warum? Man entehrte sie nicht, man ehrte sie, indem man sie, wie einen Mann, vor die Flinte stellte."
    Sie war keine Nationalheldin
    Ende der Zwanzigerjahre flammten die Diskussionen über Edith Cavells Tod erneut auf. Auslöser war ein englischer Stummfilm, in dem die Krankenschwester verklärt wurde. Aber jetzt meldete sich ein deutscher Augenzeuge zu Wort. Der Dichter Gottfried Benn. Er war als Sanitätsarzt in Brüssel dazu abkommandiert worden, der Vollstreckung der Todesstrafe beizuwohnen. "Letzter Akt. Es dauerte kaum eine Minute. (…) Der Belgier und die Engländerin bekommen eine weiße Binde über die Augen und die Hände an ihren Pfahl gebunden.Ein Kommando für beide. Feuer, aus wenigen Metern Abstand, und zwölf Kugeln, die treffen. Beide sind tot."
    Jonathan Evans zeigt auf ein Buch von Tomas a Kempis, Titel: "Die Nachfolge Christi". Auf dem Deckblatt hat Edith Cavell den Tag und die Stunde ihrer eigenen Hinrichtung eingetragen. "Kurz vor ihrem Tod sagte Edith Cavell zu ihrem Priester: 'Ich habe erkannt, dass Patriotismus nicht ausreicht. Ich darf keinem Menschen gegenüber Hass oder Bitterkeit empfinden.' Ihre Worte verdeutlichen, dass Edith Cavell keine Nationalheldin war, sondern eine überzeugte Humanistin, die allen Menschen helfen wollte."