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Eduard von Keyserling
Über die Schönheit und den Verfall des Körpers

Mit sinnlicher Ironie und atmosphärischer Kraft verfasste Eduard von Keyserling mit "Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte" einen Roman über das beginnende 20. Jahrhundert. Er ist nun neu erschienen.

Von Carola Wiemers | 07.04.2014
    Undatiertes Porträt des deutschen Schriftstellers Eduard von Keyserling (1855-1918).
    Undatiertes Porträt des deutschen Schriftstellers Eduard von Keyserling (1855-1918). (picture alliance / dpa)
    Eduard von Keyserling soll einmal gesagt haben: "Leben überhaupt ist ungesund." In diesem Satz spiegelt sich eine tragisch-komische Sicht auf die eigene Existenz, von der vieles im Dunkeln liegt. Denn Keyserling verfügte, dass sein Nachlass vernichtet wurde. Gesichert ist, dass der aus einer pietistisch geprägten, kurländischen Adelsfamilie stammende seit seinem 40. Lebensjahr - ausgelöst durch eine Syphilisinfektion - an einer Rückenmarkskrankheit litt, die später zum Erblinden und zu Lähmungen führte.
    Der Körper, seine Lust und Last steht vielleicht gerade deshalb oft im Zentrum seines Schreibens. Damit liegt Keyserling aber auch im Trend der Zeit. Um 1900 zelebrierten viele Autoren die obsessive wie verstörende Faszination des menschlichen, vornehmlich weiblichen Körpers. Von dekadenter Entgrenzung wie moralischer Züchtigung ist dabei gleichermaßen die Rede.
    Auch in Keyserlings Schlossgeschichte "Beate und Mareile", die 1903 erschien, zentrieren Schönheit und Verfall des Körpers die Handlung.
    Aus dem Badezimmer erscholl ein gleichmäßiges Plätschern. Günther von Tarniff saß in seinem rotgelben Badebassin. Er saß da schon geraume Zeit und registrierte die behaglichen Empfindungen, die über seinen Körper hinglitten. Günther pflegte seinen Körper wie ein Brahmane. Er bewunderte ihn und achtete ihn, als die Tafel, auf der das Leben viele, wichtige Genüsse zu verzeichnen hat.
    Günther von Tarniff, der auf Schloss Lantin ansässige Graf, war einst in der smarten Uniform eines Ulanenoffiziers als gieriger Lebenstrinker umtriebig, wobei er sich vor allem in der Kunst übte, für jede Stimmung das richtige Weib zu finden. Aus Gründen, die geheim blieben, musste Tarniff jedoch seinen Dienst quittieren. Noch nicht einmal 30 Jahre alt, erfasste ihn eine schwere Sinnkrise.
    Mit dem Grafen schafft Keyserling den Prototyp eines nervösen Lebemanns, in dem die Fin-de-Siècle-Stimmung grandios eingefangen wird. Für seine Gattin, die Baroness Beate von Losnitz, inszeniert er auf dem kurländischen Anwesen eine adlige Daseinsnormalität und versucht, gediegen und vor allem poetisch zu leben.
    Doch in Tarniff waltet noch eine andere Kraft, die auf poetische Weise nicht zu bändigen ist und in der sich die Zerrissenheit des Charakters spiegelt. Als er der Sängerin Mareile Ziepe begegnet, die er wie Beate seit Kindertagen kennt, denn sie ist die Inspektorentochter des Nachbarguts, flammt in ihm ein starkes Begehren auf. Mareile ist eine selbstbewusste Frau und gefeierte Künstlerin, die ihre Ansprüche klar zu formulieren versteht. In ihr spiegelt sich bereits viel von der neuen Weiblichkeit des anbrechenden 20. Jahrhunderts.
    Es ist ein ästhetischer Genuss, wie Keyserling anhand einer retardierenden Erzählstrategie die Spannung geschickt zu steigern versteht und durch ironische Brechungen eine distanzierte Perspektive erzeugt.
    So geht Mareile erst eine Künstler-Ehe mit dem Maler Hans Berkow ein und lebt einige Zeit in Italien. Nach ihrer Scheidung kehrt sie ins kurländische Heim und zieht mit ihrem Gesang den Grafen erneut in den Bann.
    Aber was sang sie denn? War das nicht Isoldes Liebestod? Es klang jedoch fremd. Das Dämmerige, die süße Tiefe dieser Klage, in der Lieben und Sterben geheimnisvoll und einträchtiglich beieinander wohnen, das fehlte. Diese Musik war eine scharfe, klare, fast böse Leidenschaft. Die Linien ihres Körpers bebten sachte in der Anstrengung des Gesanges.
    Während der Graf Mareile wie jede seiner zahlreichen Geliebten vor ihr in egoistischer Manier erobert, zweifelt sie bald an der Einzigartigkeit dieser Liebe. Doch Tarniff ist ausreichend geübt darin, sie mit charmanter Eloquenz abzulenken:
    "Wir müssen an unsere Feste glauben, wenn wir sie feiern wollen. Gott! Wir wollen unsere Liebe schon herausputzen. Mit allem Schönen wollen wir sie füttern, nicht? Wir, zwei solche Prachtmenschen; kluge Köpfe mit Rosen umwunden; na, das soll eine Liebe werden!" Mareile lächelte, lehnte ihren Kopf an Günthers Schulter und weinte. Er ließ sie weinen. Erst wenn ein Weib um seinetwillen geweint hatte, fühlte er es ganz als sein Eigentum.
    Das "Türkenhäuschen" jenseits der Schlossmauern, wo sie ihr sexuelles Begehren ausleben, erweist sich allerdings schon bald als ein profanes Refugium, in dem die Spuren früherer Liebschaften sichtbar sind.
    "Nimm dort das verstaubte kleine Buch und lies. Das sind Bücher, in denen frühere Mareilen gelesen haben, wenn sie hier auf Tarniffs warteten. Auf dem rosa Einband stand 'Lucinde'. Hier hatte eine frühere Mareile etwas angestrichen: 'Vernichten und Schaffen, eins und alles; und so schwebe der ewige Geist ewig auf dem ewigen Weltstrome der Zeit und des Lebens und nehme jede kühnere Welle wahr, ehe sie zerfließt'."
    In der subtilen Psychologisierung Tarniffs, der narzißhaft-dekadent in sich kreist und schamlos alles konsumiert, das Genuss verspricht, zeigt sich die vibrierende Unruhe einer sozialen Schicht, in der Neid und Missgunst vor allem bei jenen virulent sind, die zu erotischen Abenteuern physisch selbst nicht mehr imstande sind.
    Es spricht für Keyserlings feinsinnige Ironie, dass ausgerechnet der Fürstengreis Kornowitz als fossiler Repräsentant einer untergehenden Kultur Tarniff mit einer Bemerkung zum Duell herauszufordern vermag.
    "Nur, wenn so edlere Frauengestalten in die Hände unserer kleinen Lebemänner fallen, dann ist's ärgerlich. Und das kommt vor. Sie werden bemerkt haben, dass Hunde sich mit Vorliebe die schönsten Statuen aussuchen, um stehen zu bleiben und das Bein aufzuheben."
    Schwer verwundet und "vom Leben besudelt", kehrt der Anti-Held Tarniff zu seiner Gemahlin zurück. Während der einstige Lebemann damit Schachmatt gesetzt ist, zeigt Keyserling, dass seine Geliebte an innerer Stärke gewonnen hat. Die ehemalige Gutsinspektorentochter ist nicht nur eine wirtschaftlich selbstständige Frau geworden. Sie hat auch ihre Körperlichkeit aus den engen Moralvorgaben des feudalen Landarbeiter-Milieus befreit.
    Da sie der Überzeugung ist, wer sie einmal besaß, musste "krank vor Verlangen nach ihr sein", fordert sie von Beate "ihr Eigentum" – den Grafen - zurück. Doch das Eigentum sitzt mit erloschenem Blick am Schlossteich und beobachtet die Enten. Der einst eloquente, an charmant-witzigen Gedanken reiche Tarniff bringt gerade noch einen müden Abschiedsbrief zustande, in dem von der schönen Erinnerung an das vergangene Glück die Rede ist.
    Mareile, die ihre eigene Herkunft einmal als "Spielzeugwelt" bezeichnet hatte, entfernt sich, indem sie ihre "festgeballte Faust" zornig gegen das Schloss, dieses "blanke Spielzeug dort unten in der Ferne", erhebt. Damit erteilt sie auch dieser Welt eine klare Absage.
    In seinem Nachwort bezeichnet Uwe Timm das Kurland als ein "deutschsprachiges adeliges Biotop", das nach der Novemberrevolution von 1918 mit der Enteignung durch Lettland und Estland verschwand. Und er zitiert Kurt Tucholsky, der als Soldat im Baltikum stationiert war.
    "Welch eine festgefügte Welt! Die Keyserlings waren Literaten, seit Jahrhunderten – das war so. Diese Familie reiste, und jene kümmerte sich nur ums Land – das war so. Zum kugeln. Was sie produzierten, war in jeder Hinsicht gleichgültig (mit Ausnahme des einen einzigen Eduard von Keyserling). Ich habe eine heimliche Liebe zu dem Land – das es nicht mehr gibt."
    Eduard von Keyserlings Gesellschaftskritik ist von sinnlicher Ironie wie atmosphärischer Kraft und "ohne soziale Attitüde", wie es Thomas Mann in seinem Nachruf auf den großen baltischen Schriftsteller ausdrückt.
    Indem er in seiner Schlossgeschichte das Kurland in eine literarische Topografie verwandelt, vermag er eine versunkene Welt vor dem Vergessen zu bewahren. Auch dafür lohnt es sich, diese klug durchkomponierte und stilistisch brillant verfasste Erzählung wieder einmal zu lesen.
    Buchinfos:
    Eduard von Keyserling: "Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte", Roman, Nachwort von Uwe Timm, Manesse Bibliothek der Weltliteratur. Manesse Verlag, Zürich 2013, 219 Seiten, Preis: 19,95 Euro