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Rachel Kushner: "Ich bin ein Schicksal"
Horrorschauer im Frauengefängnis

Rachel Kushner gilt als US-amerikanische Starautorin. Zur ihrem dritten Roman haben deutsche Medien sie bisher häufig interviewt, seltener wurde "Ich bin ein Schicksal" besprochen. Dabei wäre Kritik angebracht. Das Buch ist vulgär und ohne Ambivalenz.

Von Miriam Zeh | 27.08.2019
Rachel Kushner: "Ich bin ein Schicksal"
Vulgär und ambivalenzlos: Starautorin Rachel Kushner (Buchcover: Rowohlt Verlag / Foto: Chloe Aftel)
Seit einigen Jahren wird in der deutschsprachigen Literaturkritik eine Zunahme personalisierender Artikel lamentiert. Der Rezensenten nähere sich einem Buch darin nicht mehr intellektuell und abstrakt über die genaue Lektüre, sondern durch einen Besuch im Wohnzimmer des Autors. Das Aussehen und die Biografie spielten in diesen Portraits eine besondere Rolle. Literatur tauche allenfalls am Rande auf. Insgesamt dominiere ein affirmativer, kein kritischer Gestus.
Dass diese Entwicklung kein paranoides Hirngespinst konservativer Kulturkritiker, sondern auch statistisch nachweisebar ist, zeigen die Auswertungen des Innsbrucker Zeitungsarchivs. Einmal im Jahr wird dort die deutschsprachige Literaturkritik in Zahlen erfasst. Die quantitativen Reporte beweisen, dass die Anzahl der Buchbesprechungen in den größten deutschsprachigen Zeitungen seit 2015 zwar ungefähr gleich geblieben ist. Der Anteil personalisierender Artikel, also Interviews oder Schriftstellerportraits, steigt im Printfeuilleton allerdings flächendeckend.
Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Wer nach einem aktuellen Beispiel sucht, landet bei der gerade überaus präsenten US-amerikanischen Autorin Rachel Kushner. Anlässlich der deutschen Fassung ihres dritten Romans "Ich bin ein Schicksal" taucht sie in zahlreichen Zeitungen auf, von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über den Spiegel bis zur Berliner Morgenpost, überall allerdings: im Interview. Rezensionen ihres neuen Buches sind recht schwer zu finden.
Mord einer Stripperin
Dabei wäre ästhetischer Widerspruch dringend nötig. Denn "Ich bin ein Schicksal" ist vulgär, ambivalenzlos und manipulativ. Auf Kosten seiner prekären Figuren versucht der Roman den Leser auf seine Seite zu ziehen. Mitleid will er erregen und baut doch nur vereinfachende Oppositionen auf. Das liegt auch an der Ich-Erzählerin. Die wird eingeführt als Figur, wie sie tiefer kaum sinken könnte.
"Mein Leben war vorbei, und ich wusste es. Es war meine erste Nacht in U-Haft, und ich hoffte die ganze Zeit, dass der traumartige Zustand, in dem ich war, verfliegen, dass ich daraus aufwachen würde. Ich wachte ständig auf, aber die Lage war immer unverändert, eine nach Pisse riechende Matratze, knallende Türen, herumbrüllende Irre, Alarmsirenen."
Romy Leslie Hall ist 29 Jahre alt und zu einer zweimal lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Die Stripperin hat einen Mann totgeschlagen. Dass Kurt Kennedy sie zu diesem Zeitpunkt bereits jahrelang bedrängte und verfolgt hatte, wollten Richter und Staatsanwalt nicht anerkennen. Ihr Urteil bestätigt für Romy nur noch einmal, dass die Justiz Unrecht spricht und sie, Romy, ihr ultimatives Opfer ist ohne Eingriffsmöglichkeiten in ihr eigenes Schicksal. Von einer deutschstämmigen Mutter in die US-amerikanische Unterschicht hineingeboren, scheint Romys Leben vorgezeichnet.
Maximales Bedauern als Mittel
Verwahrlost wächst sie auf, nimmt früh Drogen, streunt mit Freundinnen durch die heruntergekommenen Viertel von San Francisco und wird mit elf zum ersten Mal vergewaltigt – von einem fremden Mann, der sie nachts auf der Straße aufliest. Der Leser wird in diesen Rückblenden in Romys Vergangenheit zum maximalen Bedauern provoziert, und zwar mit allen Mitteln. Dass es ihm schließlich besser ergangen sei, während sie keine Wahl hatte, ist dabei nur eines von Romys vergifteten Argumenten.
"Ihr wärt nicht mitgegangen. Das ist mir klar. Ihr wärt mit elf nicht um Mitternacht durch die Gegend geirrt. Ihr hättet warm und trocken daheim in euren Betten gelegen und geschlafen, bei eurer Mutter und eurem Vater, die sich um euch sorgten und Regeln, Zeiten, Erwartungen mit auf den Weg gaben. Für euch wäre alles anders gewesen. Aber an meiner Stelle hättet ihr das Gleiche gemacht wie ich."
Wie empathische Literarisierung gelingt
Natürlich prägen sozio-ökonomische Lebensbedingungen den Lebenslauf, die Ansichten und Einstellungen eines Menschen enorm. Dem Roman stehen die besten Mittel zur Verfügung, um genau das aufzuzeigen. Denn ein Roman kann einer anonymen Kriminalstatistik die Geschichte eines Individuums gegenüberstellen. Wie plastisch und zugleich empathisch eine Literarisierung gerade prekärer Biografien gelingen kann, haben etwa die US-amerikanischen Autorinnen Lucia Berlin und Mary Gainskill gezeigt.
Rachel Kushner ist in "Ich bin ein Schicksal" an Differenzierung allerdings nicht interessiert oder scheitert kläglich. Sie erfindet Figuren, nur um sie in wenigen Sätzen zu Mördern, Kinderschändern und Vergewaltigern werden zu lassen. Beinahe beiläufig begegnen wir etwa dem korrupten Polizisten Doc und erfahren:
"Er und sein alter Partner José hatten mal jemanden gefoltert, schon wahr, den Manager eines Herrenclubs unter der Schnellstraße 605, und seine Leiche dann in der Nähe der 701 entsorgt. Aber der Typ hatte Josés Freundin vergewaltigt, was blieb ihnen da anderes übrig?"
Tragik im Todestrakt
Im in und um ein kalifornisches Frauengefängnis angesiedelten Roman finden sich wenige Seiten, in denen niemand brutal zusammengeschlagen, beinahe oder erfolgreich ermordet wird. Die 15jährige, wegen Totschlag verurteilte Button Sanchez muss im Gefängnis ohne medizinische Versorgung ihr Kind gebären, nur um es kurz darauf an den Staat zu verlieren.
Trans-Frau Serenity wird von anderen Insassinnen brutal zusammen geschlagen, allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und vor den Augen der Gefängniswärter. Und um Betty LaFrance reißen sich die Fernsehteams, denn sie sitzt im sogenannten Todestrakt und wartet auf ihre Hinrichtung. Es sind zahlreiche tragische Nebenfiguren, die Rachel Kushner in ihrem Roman aufscheinen lässt. Doch keine davon lernen wir wirklich kennen.
Hat eine Figur den gewünschten Schock-Effekt erfolgreich provoziert, verschwindet sie nämlich ebenso plötzlich wieder wie sie in der ohnehin wackligen Handlung aufgetaucht ist. Kushners Erzählverfahren produziert damit einen ent-individualisierende und vulgäre Gewaltpornografie, dem am Ende selbst die einzige noch nicht abgestumpfte Figur, der Gefängnislehrer Gordon Hauser, verfällt.
Ambivalenz ist unerwünscht
Der sensible junge Mann scheint im Vergleich zu den tyrannischen Wärtern tatsächlich um die gefangenen Frauen zu sorgen. Er kauft ihnen kleine Geschenke, verschickt heimlich ihre Briefe und hilft Romy sogar herauszufinden, was mit ihrem Sohn passiert ist. Doch schließlich hintergeht auch Gordon ihr Vertrauen.
"Der Sozialkodex der Gefangenen schrieb vor, niemals zu fragen, wofür jemand verurteilt worden war. Die Ächtung dieser Frage ging so tief, dass sich auch jede Spekulation darüber zu verbieten schien, selbst im stillen Kämmerlein. Gordon fiel ein, was Nietzsche irgendwo über die Wahrheit gesagt hatte. Dass jeder Mensch Anspruch auf so viel davon hatte, wie er ertragen könne. Vielleicht suchte Gordon ja gar nicht nach der Wahrheit, sondern nach den Grenzen seiner Fähigkeiten, sie auszuhalten."
Gordon recherchiert im Internet die Straftaten der inhaftierten Frauen und verrät dem Leser endlich, was sie verbrochen haben. Wieder einmal erzählen nicht die Frauen selbst ihre Geschichte, sondern müssen sich auf die reißerischen Überschriften in der Boulevardpresse reduzieren lassen.
Urteile sind in diesem Roman schnell gefällt, Ambivalenz dagegen unerwünscht. Ein Horrorschauer aus Gewalt und Elend erstickt jede Differenzierung. Und zu den moralischen Verfehlungen dieses Romans kommt, dass er nur leidlich konstruiert ist. Den übergriffigen Erzählern entgleitet der Haupterzählstrang wegen der viel zu vielen Nebenfiguren und Nebenschicksale zunehmend. Rachel Kushner mag eine politische Botschaft vorgesehen haben, für diesen in der George Bush-Ära angesiedelten Roman. Und sie dabei zweifellos ehrbare Absichten. Denn es geht oft ungerecht zu in der US-amerikanischen Justiz. Das veranschaulicht aber eben nicht unbedingt der Roman am treffendsten, der am lautesten schreit.
Rachel Kusher: "Ich bin ein Schicksal"
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Rowohlt Verlag, Hamburg, 400 Seiten, 24 Euro.