Dienstag, 16. April 2024

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Ehe für alle
"Hals über Kopf wird eine sehr grundsätzliche Frage abgeräumt"

Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke hat davor gewarnt, eine große verfassungsrechtliche Frage wie die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in einem "Ad-hoc-Ritt" durch den Bundestag zu "peitschen". Vielmehr wäre eine ausführliche Debatte im Parlament angebracht, sagte von Lucke im Dlf.

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Sandra Schulz | 29.06.2017
    Albrecht von Lucke, Publizist und Politologe (8.9.2016).
    Albrecht von Lucke, Publizist und Politologe. (imago / Metodi Popow)
    Sandra Schulz: Was genau haben wir da in den vergangenen Tagen gesehen, als sich die Ereignisse überschlagen haben rund um die sogenannte Ehe für alle? War das wieder eine Kehrtwende der Kanzlerin, oder ein Vertrauensbruch seitens der SPD? Das Wort Koalitionsbruch nimmt heute CSU-Chef Horst Seehofer in den Mund, allerdings relativiert mit den Worten, "normalerweise" sei das Koalitionsbruch. Die Sozialdemokraten freuen sich über ihren Schachzug. Fraktionschef Thomas Oppermann meint:
    O-Ton Thomas Oppermann: "Jedenfalls war das eine Gelegenheit und die mussten wir nutzen. Der Ball liegt auf dem Elf-Meter-Punkt und der Torwart ist nicht mal drin, da muss man ihn reinmachen."
    Schulz: Aller Voraussicht nach wird der Bundestag morgen die vollständige rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare billigen. Die sogenannte Ehe für alle kann oder könnte noch in dieser Legislaturperiode kommen. Darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler, Jurist und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik. Schönen guten Morgen.
    Albrecht von Lucke: Guten Morgen, Frau Schulz.
    Schulz: Profitieren werden jetzt sehr wahrscheinlich, müssen wir heute Morgen noch sagen, die Menschen, die es sich schon lange gewünscht haben, heiraten zu können, das bisher aber nicht konnten. Wer profitiert denn politisch?
    von Lucke: Das ist die ganz große Frage und meine Vermutung ist, ehrlicherweise, dass ich eigentlich nur Verlierer sehe. Ich sehe, dass wir hier aus wahltaktischen Gründen – und das, was wir vorhin gehört haben, auch seitens der Kanzlerin, sind ja bloß Krokodilstränen. Sie selber hat diese Frage aufs Tapet gebracht, aber sie hat verkannt, dass doch erhebliche Teile in ihrer Partei, eben die Konservativen, große Bauchschmerzen damit haben, die Ehe für alle und jetzt vor allem noch so überstürzt aufzumachen, denn damit hat die Kanzlerin wohl nicht gerechnet. Es liegen die fertigen Gesetzesvorlagen im Bundestag vor. Sie können sofort vorgebracht werden. Das war wohl nicht in der Kalkulation enthalten. Insofern hat sie große Schwierigkeiten, ihren Konservativen deutlich zu machen, dass es jetzt derartig ad hoc gehen wird.
    Der zweite Verlierer könnte aber auch die SPD sein, denn das, was Thomas Oppermann gesagt hat, macht ja deutlich, dass die SPD jetzt ganz ersichtlich unter dem Druck der schlechten Zahlen unbedingt einen Erfolg feiern will und deshalb aus sehr wahltaktischen und durchschaubaren Gründen es in einem Ad-hoc-Ritt auch ins Parlament bringt.
    Und der dritte Verlierer – und das ist das eigentliche Problem -, das sind wir alle. Und ich glaube, das ist das Problem der Wählerinnen und Wähler, dass wir alle eine große verfassungspolitische Frage, nämlich den Schutz von Ehe und Familie, zu einer ganz kleinen Münze im politischen Geschäft heruntergebrochen sehen, obwohl es wirklich Grund wäre, das in einer großen grundsätzlichen Frage im Parlament zu diskutieren. Das wird aber nicht in einem Ad-hoc-Ritt binnen zweier Tage gehen.
    "Die Mehrheitsmeinung ist das eine"
    Schulz: Wir haben jetzt aber die Situation, dass eine Änderung, die eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung, diese 75 Prozent, die Umfragen ja belegen oder zeigen, die dafür sind, dass die Ehe für alle kommt, dass genau das jetzt möglicherweise in diesem ganz schnellen Verfahren auch Realität wird. Wir sprechen über eine sehr sensible Frage. Aber wenn man den Tatsachen ins Auge blickt: Die Frage, wie man zur Ehe für alle steht, das ist nun keine intellektuell sehr komplexe. Das ist für viele Menschen auch ein Bauchgefühl. Warum sollen die Abgeordneten das jetzt nicht auch schnell entscheiden können?
    von Lucke: Weil es eine ganz große verfassungsrechtliche Frage ist. Wir müssen sehen: Artikel VI hält deutlich fest, Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Bisher ist in der ganzen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung noch aus dem Jahre 1990 immer klar gewesen, dass es eine Ehe zwischen Mann und Frau sein sollte. Das Verfassungsgericht hat zwar damals schon gesagt, natürlich ist das auch dem Zeitgeist, das hat es nicht in dem originären Ton gesagt, aber es ist einer Veränderung unterworfen. Es ist durchaus möglich, eine Änderung herbeizuführen. Gegen die verwahre ich mich auch gar nicht oder ich kritisiere das nicht. Aber wir müssen uns bewusst machen, dass die Mehrheitsmeinung das eine ist, und wenn am Schluss eine Parlamentsdebatte zu der Entscheidung kommt, ist das richtig gegebenenfalls. Aber die entscheidende Frage ist doch trotzdem, ob man mit einem so grundsätzlichen Verfassungsgrundsatz, der ein tragendes Momentum übrigens nicht nur der CDU/CSU war, die immer die Ehe und die Familie klassischer Art, Mann, Frau, Kind, als die Keimzelle der Gesellschaft begriffen hat, sondern eine tragende Säule auch des Grundgesetzes, ob man das tatsächlich in einem solchen Ad-hoc-Ritt bloß um kleiner wahlstrategischer Vorteile wirklich direkt durchs Parlament peitschen muss. Das ist ein Problem für mein Verständnis und ich glaube deswegen, die Parteien tun sich damit ob ihrer kurzfristigen Rechnung keinen Gefallen.
    Die SPD beispielsweise – gucken wir konkret an, was passiert. Sie wird jetzt einen kurzfristigen Erfolg zeitigen. Ich glaube, dieser Satz von Thomas Oppermann, der Ball liegt auf dem Elf-Meter-Punkt, wir müssen ihn nur reinmachen, das ist ein Satz, der geeignet ist, ihm auf die Füße zu fallen, weil die Leute merken, es geht primär jetzt um kleine Bodengewinne im Wahlkampf. Das ist aber möglicherweise in wenigen Tagen wieder vergessen. Dann hat die Kanzlerin gewissermaßen diesen Platz abgeräumt. Es ist dann mit den Worten von Jürgen Habermas das endgültige Moment der Fundamental-Liberalisierung der Union. Merkel hat quasi alles abgeräumt, was irgendwie noch für Konservative große Unterschiede machen könnte. Das ist dann auch ein Problem für die restlichen Teile der Konservativen in der Union. Normalerweise würde die AfD jubilieren, wenn sie nicht momentan hoch geschwächt und zerstritten am Boden läge, denn da würden sich natürlich die Konservativen hinflüchten. Aber das heißt, wir müssen doch sehen, dass jenseits des Mehrheitswillens der Bevölkerung, den es wichtig ist, natürlich zur Kenntnis zu nehmen, in einer solchen zentralen Frage der Bundestag gehalten wäre, eine große Debatte, wenn wir uns daran erinnern, Berlin-Entscheidung oder die Entscheidung zur Sterbehilfe, daraus zu machen. Dann würde dieser Veränderung Rechnung getragen und wir kämen zu einem guten Ergebnis. So wird etwas übers Knie gebrochen und das wird letztlich der Sache nicht gerecht.
    "Merkel hat unterschätzt, dass SPD Gelegenheit sofort nutzen würde"
    Schulz: Aber die Frage ist ja auch immer mal schon wieder angefasst worden vom Parlament, ist auch schon im Plenum gewesen. Es hat die Debatte dazu auch gegeben. Jetzt haben wir die Situation, dass Angela Merkel möglicherweise ja auch unter Zugzwang war, weil jetzt binnen kürzester Frist SPD, Grüne und auch die FDP gesagt haben, wir unterschreiben keinen Koalitionsvertrag, in dem nicht die Ehe für alle garantiert ist. War das letzten Endes dann nicht auch ein kluger und notwendiger Schachzug von Angela Merkel?
    von Lucke: Angela Merkel hat wie so oft sich dem Zeitgeist angepasst. Sie hat sich auch den Koalitionsnotwendigkeiten angepasst. Das geht ja bei ihr meistens in eins. Sie hat gesehen, ich muss diese Kuh vom Eis bringen. Das hat sie versucht, indem sie auch übrigens versucht hat, dieses Thema aus dem Wahlkampf in gewisser Weise herauszuhalten. Sie hat damit natürlich auch die Option einer neuen Koalition mit FDP und Grünen, möglicherweise sogar gemeinsam mit einer Jamaika-Koalition. Es ist ja schon originell, dass FDP und Grüne sich in diesem Punkt jetzt regelrecht überbieten, eine neue Allianz der liberalen Kräfte gewissermaßen stattfindet bei der Frage, ist die Ehe für alle Conditio sine qua non für jede nächste Koalition. Sie hat das erkannt.
    Was sie aber, glaube ich, unterschätzt hat – sie hat es übrigens auch erkannt offensichtlich mit klarem Zugeständnis von Herrn Seehofer, denn diese Entscheidung war ersichtlich abgesprochen. Auch Herr Seehofer hat es offensichtlich aufmachen wollen. Aber was sie offensichtlich nicht erkannt hat – und das ist auch ein großer Fehler, wenn man doch normalerweise der Kanzlerin konzediert, dass sie alles vom Ende her denkt -, sie hat nicht erkannt, dass natürlich die SPD aus diesen wahlstrategischen Gründen sofort, um aus der Schwäche herauszukommen, es zur Gelegenheit nimmt, es sofort einzubringen und damit es binnen weniger Tage zum Gesetz zu machen. Das, glaube ich, ist von Angela Merkel nicht erkannt worden. Jetzt wird es von ihr bejammert, dass dieser Fortgang genommen wird. Aber natürlich hat sie das Tor aufgemacht.
    Ich glaube bloß tatsächlich, wir dürfen immer eines nicht verkennen: Die Frage der wahlstrategischen Gewinne fällt letztlich gegen alle Politiker aus und fällt ihnen allen zu Lasten, wenn die Bevölkerung erkennt, dass in einer großen Frage etwas, was in der Tat übrigens schon lange im Parlament vorlag, übers Knie gebrochen wird. Auch die Kanzlerin muss sich den großen Vorwurf gefallen lassen, dass sie nicht wesentlich früher diese Frage offen aufgemacht hätte. Dann hätte es im ganz normalen Prozedere über große Debatten ins Parlament den Weg gefunden. Dann hätten all die völlig berechtigten Fragen, beispielsweise von Bischof Marx, der sie heute anspricht, sollen wir eine weitere Trennung zwischen dem christlichen Institut der Ehe und dem staatlichen Institut der Ehe vornehmen, oder müssen wir uns an den historischen Sinn der Grundgesetzväter und -Mütter erinnern, die eigentlich natürlich eine größere Engführung von Ehe und christlichem Verständnis vornahmen. Das ist eine große Frage.
    "Problem, wenn Bevölkerung kein Verständnis für Verfassung gewinnt"
    Schulz: Herr von Lucke, lassen Sie mich mal die Gegenfrage noch kurz einflechten, weil Sie jetzt die ganze Zeit kritisieren, die seien da jetzt alle nur wahlstrategisch vorgegangen, wenige Wochen vor der Bundestagswahl. Das ist ja eine Kritik, die oft kommt an den Parteien. Aber ist es in einer parlamentarischen Demokratie, für die die Parteien so eine wichtige Rolle spielen, wie es in unserem System der Fall ist, ist es da nicht überlebensnotwendig, auch strategisch zu handeln? Warum wird das überhaupt immer so als Vorwurf formuliert?
    von Lucke: Ich wäre der Letzte, der es als Vorwurf formulieren würde. Und Sie haben völlig recht: Man muss beispielsweise den Grünen, Volker Beck, durchaus ein Kompliment machen. Die Grünen haben als allererste dieses Thema lange, lange aufs Tapet gebracht und sie haben es zum Thema gemacht. Und ich glaube übrigens auch, dass das Verfassungsgericht, was am Ende wahrscheinlich wird Recht sprechen müssen, dem Gesetz seinen Segen erteilen wird. Ich sage bloß, es ist ein Problem auch im Sinne unserer Parteien, wenn die Bevölkerung nicht stärker ein Verständnis auch für die Verfassung gewinnt, also deutlich gemacht wird, warum wir heute ein anderes Verständnis von Ehe an den Tag legen können, weil man das Gesetz, auch das Grundgesetz – das ist die teleologische (*) Auslegung – anders auslegen muss, als es noch die Verfassungsväter und -Mütter getan haben. Aber das, glaube ich, muss man erklären. Und wenn man es nicht tut, dann läuft man Gefahr, dass die Bevölkerung nicht mitbekommt oder versteht, warum in diesem Punkt gewissermaßen Hals über Kopf eine doch sehr, sehr grundsätzliche Frage binnen zwei Tagen abgeräumt wird. Und das ist ein merkwürdiges Zusammenspiel von strategischen Überlegungen der Kanzlerin und kurzzeitigen Bodengewinnen der SPD, die hier greift.
    Natürlich haben Sie recht, dass die vielen Parteien – und es war ja ein regelrechter Überbietungswettbewerb von SPD, von Linkspartei, Grünen und am Ende sogar auch von der FDP, wer am stärksten drängt -, dass sie jetzt versuchen, das durchzupochen. Das ist strategisch nachvollziehbar. Ich glaube bloß, in der inhaltlichen Frage bleibt vieles auf der Strecke, und das halte ich für ein Problem.
    (*) In der ersten Fassung des Interview-Transkripts stand hier irrtümlich "theologisch". Wir haben den Fehler korrigiert.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.