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Ehemalige Colonia Dignidad
"Als ob man einen McDonald's nach Buchenwald stellt"

Mehr als 40 Jahre lang dauerte die Schreckensherrschaft Paul Schäfers in der Siedlung Colonia Dignidad an. Nachdem 2005 der deutsche Sektengründer in Chile verhaftet wurde, erfanden die Verbliebenen den Ort neu. Ehemalige Bewohner und Opfer Schäfers sind entsetzt darüber, wie.

Von Julio Segador | 27.05.2015
    Eingang zur ehemaligen Colonia Dignidad in Chile
    Eingang zur ehemaligen Colonia Dignidad in Chile (AFP /Luis Hidalgo)
    Volkstümliche bayerische Musik dudelt aus den Lautsprechern in dem Lokal im Vorgebirge. Irgendwie seltsam. Denn die Berge sind nicht die Alpen, es sind die Anden, und das Restaurant, in dem die Musik die Gäste berieselt, steht nicht in Bayern, sondern 14.000 Kilometer entfernt in Chile. "Zippelhaus" heißt das Lokal in der Villa Baviera – im Bayerischen Dorf.
    Das Zippelhaus gab's in dem Dorf schon immer. Die Villa Baviera dagegen hieß früher anders. Es war die Colonia Dignidad. Jenes Schreckensdorf, in dem deutsche Auswanderer seit 1961 in einer Sekte lebten. Sektengründer Paul Schäfer hatte dort eine perfide Schreckensherrschaft ins Leben gerufen. Einen brutalen Überwachungs- und Folterstaat, in dem sich Schäfer die Siedler wie Sklaven hielt, er über Jahre Kinder missbrauchte. Kinder wie Jürgen Szurgelies, der im Zippelhaus als Kellner arbeitet.
    "Die Zeit möchte ich nicht mehr zurückerleben, aber wir leben noch."
    Jürgen lebt noch, und das ist nicht selbstverständlich. Als Kind missbrauchte ihn Paul Schäfer jahrelang sexuell. Mehrmals versuchte er aus der Colonia Dignidad zu flüchten, wurde immer wieder gefasst, von der eigenen Mutter für geistesgestört erklärt, mit Drogen über Monate ruhig gestellt. Und doch blieb er nach dem Tod des Sektengründers in der Villa Baviera – wie die Colonia Dignidad heute heißt. Und er ist kein Einzelfall.
    Umwandlung in ein Eventdorf?
    Diese Aufnahme aus den 80er-Jahren zeigt den Eingang zum Gelände der Sekte Colonia Dignidad in Chile
    Diese Aufnahme aus den 80er-Jahren zeigt den Eingang zum Gelände der Sekte Colonia Dignidad in Chile (dpa / picture alliance)
    Viele der früheren Sektenmitglieder leben heute in der Villa Baviera, wussten nicht wohin, nachdem das Schreckensregime Schäfers, der 2005 starb, nicht mehr bestand. Nun versuchen jüngere Siedler wie Anna Schnellenkamp die frühere Colonia Dignidad auf neue Beine zu stellen. Die Villa Baviera als Tourismus-Eventdorf. Dem Grauen der Vergangenheit will sie mit einem Museum Rechnung tragen. Die Schreckensherrschaft und die Verbrechen Paul Schäfers sollen nicht totgeschwiegen werden.
    "Die Idee ist, dass sich die Villa Baviera sich mittelfristig umwandelt in ein kleines deutsch-chilenisches Dorf, mit freiem Zugang. Wir werden jetzt Parzellen verkaufen für Interessenten, damit das ganze mehr Leben bekommt, weil sonst die ganze Struktur einfach ausstirbt. Zusätzlich zu diesem Dorf, dass der Tourismus weiterhin funktioniert. Dass nie wieder die Villa Baviera abgeschlossen wird, wie das früher mal war."
    Der frühere Chef der sektenähnlichen Siedlung Colonia Dignidad in Chile, Paul Schäfer (Archivfoto vom 11.03.2005)
    Der frühere Chef der sektenähnlichen Siedlung Colonia Dignidad in Chile, Paul Schäfer (Archivfoto vom 11.03.2005), (dpa / picture alliance / EFE)
    Die 38-jährige Anna Schnellenkamp hat das menschenfeindliche, totalitäre System Schäfers in ihrer Kindheit noch erlebt. Sie bekam mit, wie die Familien getrennt, die Frauen mit Elektroschocks behandelt und unfruchtbar gemacht, die Männer brutal verprügelt wurden. Ihr Vater, der 88-jährige Kurt Schnellenkamp, sitzt als Mitglied der früheren Führungsgruppe in Chile in Gefängnis.

    Auch Winfried Hempel gehört zu dieser Siedlergeneration. 20 Jahre lebte er in der Colonia Dignidad. 1997 gelang ihm die Flucht. Er ist gegen das Eventkonzept.
    "Heute ist es eine Art Touristenzentrum mit einem Aspekt der 60er-Jahre, wo eine ganz komische Mischung existiert von chilenischen Landarbeitern, deutsche alte Einwanderer, Opfer und Täter, teilweise kommen das ständig auch Diktaturopfer, also es ist ein ganz komisches Gemisch, in dem man heute Tourismus treibt. Das ist, als ob man einen McDonalds nach Buchenwald stellt."
    Winfried Hempel lebt heute als Rechtsanwalt in Santiago. Er bereitet derzeit zwei Millionenklagen vor. Dabei sollen die Versäumnisse von Chile und Deutschland benannt werden. Beide Staaten hätten der Schreckensherrschaft Schäfers früh ein Ende setzen sollen, erklärt er. Sie taten es nicht, schauten weg, ließen den pädophilen Tyrannen gewähren. Bis Ende des Jahres sollen beide Klagen vorliegen.