Mittwoch, 24. April 2024

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Ehemaliger Bundesverfassungsrichter Kirchhof
"EZB darf Umverteilungsfragen nicht entscheiden"

"Ich möchte keinen Tag missen, aber auch keinen Tag hinzufügen", sagte der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof rückblickend zu seinem Kurzausflug in die Politik. Auch heute noch kämpft er für ein vereinfachtes Steuerrecht. Wie man mit den Wählern der AfD umgehen sollte und warum er außerdem glaubt, dass in der Eurokrise laufend geltendes Recht gebrochen wird, erzählte er im DLF-Zeitzeugen-Gespräch.

Paul Kirchhof im Gespräch mit Stephan Detjen | 26.05.2016
    Verfassungsrechtler Paul Kirchhof, aufgenommen am 08.10.2012 in Bonn (Nordrhein-Westfalen).
    Paul Kirchhof, ehemaliger Bundesverfassungsrichter (dpa / picture alliance / Rolf Vennenbernd)
    Kirchhof sieht bei der Eurokrise vor allem auch Deutschland und Frankreich in der Verantwortung. Vor der Einführung des Euros hätten sich die Verfassungsrichter Mühe gegeben, die Währungsunion "rechtlich so einzumauern", dass nichts schiefgehen könne. Aber:
    "Wir sind enttäuscht, und da muss man dann einfach sagen, da hat die Bundesrepublik Deutschland und die Französische Republik 2002 wacker zu beigetragen. Wir hatten ja dort die Grenze, kein Staat darf sich höher als drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts jährlich verschulden. Das ist eine klare Ansage. Dann kam der blaue Brief nach Paris und nach Deutschland - wir waren knapp unter drei Prozent, Paris war etwas über drei Prozent -, passt auf, ihr verletzt das Recht. Dann gab es eine Gegenwehr, das ist eine Unverschämtheit, man dürfe diese Staaten nicht darauf hinweisen. Dann kamen wir auf die schiefe Ebene. Die beiden stärksten Staaten haben sich gegen die Unterwerfung unter das Recht gewehrt, und damit haben die Kleinstaaten natürlich gedacht, wenn die das dürfen, dann wir auch."
    Die Politik habe sich an geltendes Recht zu halten, so Kirchhof: "Derjenige, der Recht setzt, mag es ändern und besser machen, aber nicht, er bindet den Bürger und fühlt sich selbst nicht gebunden. Das gibt’s doch gar nicht."
    Vereinfachtes Steuerrecht: "Wir werden das Ziel erreichen"
    Kirchhof kritisierte auch die Geldpolitik der EZB: "Da findet eine gigantische wirtschaftliche Umverteilung statt ohne Parlament. Diese Umverteilungsfragen darf nicht die EZB entscheiden, das ist eine typische Frage fürs Parlament, deswegen haben wir Demokratie erkämpft."
    Zur Erstarkung von europakritischen Kräften wie der AfD sagte der 73-Jährige: "Um diese Menschen muss man sich kümmern. Das sind nicht Revolutionäre oder Menschen, die unsere Grundprinzipien negieren, sondern das sind Menschen, die die Sorge haben, dass unsere Grundstruktur - die ein Glück ist, dass wir in dieser Freiheit in Mitteleuropa, im Frieden nach allen Himmelsrichtungen offen in großem Reichtum mit Spitzenkultur leben dürfen - dass diese Grundprinzipien ihnen so bedroht scheinen, dass sie beobachten, dass die Politik ihnen dort keine zufriedenstellenden Antworten gibt."
    Engagiert verteidigte der Professor für Finanz- und Steuerrecht auch seine Bemühungen, das deutsche Steuersystem radikal zu vereinfachen. "Wir werden das Ziel erreichen, es dauert nur länger als beabsichtigt."

    Das Gespräch in voller Länge:
    Sprecherin: Als "Professor aus Heidelberg" betitelte Gerhard Schröder ihn – das war nicht freundlich gemeint im Bundestagswahlkampf 2005. Paul Kirchhof gehörte als möglicher Finanzminister dem Kompetenzteam um die damalige Kanzlerkandidatin von CDU und CSU Angela Merkel an. Bei diesem Kurzausflug in die Politik beließ es der parteilose Professor dann auch. Nicht ausbremsen dagegen lässt sich Kirchhof in seinen Bemühungen, das deutsche Steuersystem radikal zu vereinfachen. Seine Ideen für weniger Steuerarten, weniger Privilegien und weniger Bürokratie schrieb er im sogenannten Bundessteuergesetzbuch nieder. 1943 in Osnabrück geboren, wuchs es mit fünf Geschwistern in Karlsruhe auf. Er studierte Jura und lehrte Finanz- und Steuerrecht an den Universitäten Heidelberg und Münster. Von 1987 an war er 12 Jahre lang Richter am Bundesverfassungsgericht und hat an zahlreichen wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt. So war Kirchhof als Berichterstatter maßgeblich an den Karlsruher Beschlüssen zum Euro, zur Vereinbarkeit des Grundgesetzes mit dem EU-Vertrag von Maastricht, zum Existenzminimum für Kinder sowie zum Schutz der Familien beteiligt. Kirchhof ist verheiratet und Vater von vier Kindern.
    Das Elternhaus in Karlsruhe, ein konventionelles Familienbild und die Universität
    Stephan Detjen: Herr Professor Kirchhof, ein deutsches Elternhaus in Karlsruhe der 50er-Jahre. Der Vater ist Richter am Bundesgerichtshof, die Mutter kümmert sich um Haus und Familie. Zwei Söhne wachsen da auf, Paul und Ferdinand. Beide steigen dann auf der richterlichen Karriereleiter noch höher als der Vater. Der eine wird ein bedeutender Richter am Zweiten Senat, das sind Sie, der andere, Ihr Bruder, spät nach Ihnen, Vorsitzender des Ersten Senats und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, das ist Ferdinand Kirchhof noch heute. Wie muss man sich diese Kinderstube in Karlsruhe vorstellen? Waren das zwei Brüder, die sich nie gerauft, sondern jeden familiären Disput als Rechtsdisput über Recht und Gerechtigkeit in der Familie ausgetragen haben?
    Kirchhof: Na ja, so war es sicherlich nicht. Wir waren sechs Kinder, da geht es lebhaft zu. Das waren die Turbulenzen übrigens einer schönen Kindheit. Wir waren ja die ersten zehn Jahre in Osnabrück, kamen dann in das ganz neue Umfeld nach Karlsruhe. Die Mutter hat sich sehr, im Grunde ausschließlich um die Kinder gekümmert. Und dann hatten wir einen Vater, der Strafrichter war am BGH und der durchaus den Kindern, je nach Alter, erzählt hat von den damals interessierenden Fällen. Da gab es große Fälle des Betrugs in dem beginnenden Wirtschaftswunder, da gab es die ersten Prozesse gegen das Nazi-Unrecht. Hat mich sehr beschäftigt, konnte ich damals nie verstehen, kann ich heute auch noch nicht, wieso eine solche Kulturgesellschaft, wie wir sie haben, sich das bieten lässt, wie das geschehen konnte. Da gibt es vordergründige Erklärungen, den verlorenen Krieg und die wirtschaftliche Not, aber das sind alles nicht die letzten Erklärungen. Da habe ich sehr drüber nachgedacht, und so bin ich ein bisschen in das Interesse für das Rechtliche gekommen.
    "Noch ein großer Weg, bis die Gleichberechtigung erreicht ist"
    Detjen: Ein bisschen ist gut. Das war dann schon das Lebensthema. Aber lassen Sie uns noch mal auf diese Familie kommen. So, wie Sie das eben geschildert haben - ein Vater, der Karriere macht, eine Mutter, die sich um die Familie kümmert, würde man heute, würden viele sagen, das ist ein konventionelles Familienbild, aber ein Familienbild, das auch Sie immer später verteidigt haben.
    Kirchhof: Ja, und zwar, weil ich erlebt habe, wie gut es ist, eine Mutter zu haben, die immer ansprechbar ist, die an allem teilnimmt, was die Kinder so bewegt, die auch die Kinder untereinander - bei sechs Geschwistern gibt es mal Gegenläufigkeiten und Interessenkonflikte selbstverständlich -, die das mit ganz leiser Stimme und Bedacht ausgleicht. Das ist das, was meine Kindheit, meine Jugend wesentlich geprägt hat.
    Detjen: Werden Familienbilder, die in der Gesellschaft eines der großen Themen unserer Tage sind, auch bei Ihnen am Kirchhofschen Familientisch diskutiert - Sie haben selber Kinder, auch Töchter?
    Kirchhof: Natürlich. Also heute ist die Lage anders. Die jungen Menschen, Mann und Frau, wollen von den beiden Angeboten der Verfassung, Familienfreiheit und Berufsfreiheit, Gebrauch machen. Und das ist auch richtig so, das ist die große Weite dessen, was das Leben uns bietet. Ich glaube, ein ganz großes Glück ist die Begegnung mit dem anderen Menschen im Beruf, die soziale Funktion, für den anderen Menschen etwas tun zu können, das Erlebnis, durch eigene Leistung Einkommen zu verdienen im wörtlichsten Sinne, und zum anderen ist es wahrscheinlich ein Glück, das man selten im Leben hat, in das Gesicht des eigenen Kindes zu schauen und dort seine eigene Zukunft über die eigene Existenz hinaus zu erleben. Das ist anstrengend, wie alles Schöne anstrengend ist. Aber es ist gut, dass die jungen Menschen heute die echte Chance haben, beides erleben zu dürfen. Allerdings, wir brauchen noch einen großen Weg, bis die Gleichberechtigung, und dann meine ich vor allem die Gleichberechtigung der Mütter, erreicht ist.
    "Bei der Familie geht es nicht nur um Mann und Frau"
    Detjen: Lassen Sie uns mal einen Blick weit voraus werfen: Nach Ihrer Richterkarriere machen Sie einen Ausflug in die Politik - wir kommen darauf sicherlich noch zu sprechen in diesem Gespräch -, aber da wird Ihnen auch vorgeworfen, Sie würden ein reaktionäres - so hat die SPD das damals gesagt -, ein reaktionäres Familienbild verteidigen. Sind Sie da falsch verstanden worden, fühlten Sie sich falsch verstanden?
    Kirchhof: Ja, das ist ganz verkehrt. Ich bin natürlich, weil ich mich ja später für das Verfassungsrecht entschieden habe, ein Mensch, der die Grundaussagen unsere Verfassung, die ich für einen historischen Glücksfall halte, zu verteidigen sucht, zu bewahren sucht. Und da haben wir in dem Artikel 6 die Garantie von Ehe und Familie. Dieser Artikel 6 hat fünf Absätze, und vier Absätze handeln vom Kind. Also bei der Familie geht es nicht nur um Mann und Frau, die eine Lebensgemeinschaft haben. Es geht vor allem um Eltern und Kinder, einer Rechtsgemeinschaft, die ein Leben lang unkündbar und unscheidbar ist. Das gibt es sonst nirgends. Die gegenseitige Verantwortung, in der Jugend der Kinder vor allem die Eltern verpflichtet, beim Älterwerden der Eltern vor allem die Kinder verpflichtet, und das ist das Strukturelement unserer Gesellschaft.
    "Gleichzeitig mit dem Können die Beherrschbarkeit des Wissens garantieren"
    Detjen: Ich würde gerne in die Welt der Universität, in die akademische Welt: Sie haben in den 70er-, 80er-Jahren eine steile, beachtliche Karriere gemacht, beim bedeutenden Steuerrechtler Klaus Vogel promoviert, waren dann selbst Lehrstuhlinhaber. Wenn Sie heute, nach Ihrer Richterkarriere, aus heutiger Perspektive noch mal zurückschauen in diese Welt der deutschen Hochschulen in den 70er-, 80er-Jahren, eine Welt, die inzwischen durch Bologna-Reform, durch Internationalisierung, Exzellenzwettbewerbe völlig umgepflügt worden ist - was hat sich da verändert, was zum Besseren, was zum Schlechteren?
    Kirchhof: Zunächst darf ich mal anfangen mit dem, was geblieben ist, nämlich die elementare Neugierde. Der eine für die Gene des Menschen, der andere für den Weltraum. Jeder hat sein Fach gewählt und möchte durch seine Wissenschaft es erkennen, von Neuem, von Besserem, einen Beitrag leisten, dass dieses Zusammenleben der Menschen gelingt. Das ist das großartige Grundelement jeder Universität. Das Zweite, was gegenwärtig bedroht ist, ist die Volluniversität. Wir sind alles Spezialisten, jeder weiß von immer weniger immer mehr. Es gibt oft Fakultätskollegen, die verstehen nicht, was der andere macht, und deswegen müssen wir dort im Gespräch bleiben zwischen den Disziplinen und nicht nur fragen, was der Mensch kann - da treiben wir unser Wissen voran -, sondern auch fragen, was der Mensch darf. Die Grundthese jeder Wissenschaftler ist um Erkenntnis bemüht, und das ist sein alleiniger Zweck, und er ist für sonst nichts verantwortlich. Die können wir in Zeiten, in denen wir mit der Atomspaltung auch die Atomwaffe entwickelt haben, indem wir mit der Genforschung uns anschicken, die Identität des Menschen zu verändern, indem wir forschen, wie man die Vogelgrippe leichter verbreiten kann, also als Waffe einsetzen kann, da können wir nicht mehr sagen, der eine ist für das Können zuständig und der andere ist für das Dürfen zuständig. Sondern wir müssen gleichzeitig mit dem Können die Beherrschbarkeit des Wissens garantieren, in Normen, sonst wird das Wissen inhuman und zu einer Bedrohung für die Menschheit. Da, glaube ich, liegt der größte Anforderungspunkt an die moderne Wissenschaft. Wir haben dann manches - das sage ich sehr kritisch - gefährdet durch diese Verschulung des Studiums im Bologna-Prozess. Für die Juristen haben wir es glücklicherweise vermieden, und jetzt ist die Gefahr vorbei. Also jetzt will keiner mehr Bologna.
    Der Konservative, die Herausforderungen einer globalen Welt und die AfD
    Detjen: 1987 werden Sie Richter am Bundesverfassungsgericht, parteilos, auf Vorschlag der CDU. Sie waren der jüngste Verfassungsrichter damals. Die "FAZ" schrieb Ihnen etwas später eine "nicht ideologisch fixierte, konservative Grundhaltung" zu. Fühlten Sie sich richtig beschrieben?
    Kirchhof: Das ist richtig, ja. Ein Konservativer ist derjenige, der das, was sich bewährt hat, das heißt bei uns insbesondere die Verfassung und das Leben nach dieser Verfassung, bewahren will. In diesem konservativen Denken, wenn man es so definiert, steckt die Idee der Freiheit. Freiheit heißt, ich will täglich was Neues, und es steckt die Idee des Parlamentarismus. Der Gesetzgeber ist beauftragt, jeden Tag bessere Gesetze vorzubereiten und zu machen. Also das ist nicht ein statisches Prinzip, sondern das ist ein Gesellschaftsmodell, das eine gewisse rechtliche, also friedliche Ordnung hat, die sich misst an ihrem Erfolg beim einzelnen Menschen. Der Konservative liebt nicht die Menschheit, sondern er liebt den Menschen, sein Gegenüber, seinen Nachbarn. Und wenn das die Grundprinzipien sind, sollte erstens der Verfassungsrichter konservativ sein - ich kann mir keinen guten Verfassungsrichter vorstellen, der in diesem Sinne nicht konservativ wäre.
    Detjen: Wäre das Konsens am Bundesverfassungsgericht oder war das Konsens?
    Kirchhof: Das kann ich jetzt - ich habe das nicht so getestet mit dieser Definition, die Sie mir jetzt entlocken, aber ich glaube schon. Also wir waren natürlich ganz unterschiedlich geprägt in der Lebenssicht, in der Herkunft, in der inneren Zugehörigkeit, aber der Wille, wir schreiben jetzt ein Urteil, wir unterschreiben es jeder mit seinem Namen in der Hoffnung, dass wir auch 20 Jahre danach noch Freude daran haben, dass mein Name dort steht, das hat uns verbunden. Dann treten die anderen Elemente ganz deutlich zurück.
    "Wir brauchen konservativ ein paar Grundprinzipien, deren wir uns sicher sind"
    Detjen: Wenden wir es noch mal ins Politische und konkret auch auf die CDU, der Partei, der Sie nicht angehörten, aber der Sie verbunden waren, später auch in einem Wahlkampf. Aber eben eine Partei, die jedenfalls die Vorsitzende Angela Merkel, die sich den Begriff eben eigentlich nicht mehr zu eigen machen will, die ihm ausweicht und damit auch eine Marktlücke im politischen System geöffnet hat, in die jetzt zum Teil die AfD reingeht. Ist das ein Fehler gewesen, sind da Menschen heimatlos geworden, die sich vielleicht auch aus ganz anderen Motiven, aber den Begriff des Konservatismus verbunden fühlen?
    Kirchhof: Ich würde mich sehr freuen, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass wir zu diesem Verständnis des Konservativen in Freiheit und parlamentarischer Erneuerung zurückkehren. Das schreibt manches fest, etwa die Würde jedes Menschen ist ein Tabu, darüber sind wir nicht bereit zu reden, ich sage es mal ganz deutlich, das stellen wir nie infrage, sonst geht das Fundament unseres Zusammenlebens verloren in einer Demokratie, die Mitbestimmung dessen, der dem Staatsvolk angehört, ganz gleich wie er denkt und wie er reagiert. Er gehört dazu und darf als Mitglied des demokratischen Staatsvolkes Einfluss nehmen durch Wahlen. Natürlich auch die Rahmenbedingungen der Freiheit der Religion, der Freiheit des Berufs, der Freiheit des Eigentums, des Individualeigentums. Das sind aus unserer historischen Sicht - wir haben ja das Glück, im 21. Jahrhundert zu leben und nicht alles noch erarbeiten zu müssen - Antworten, die unsere Gesellschaft auf Bedrängnisse gegeben hat, des Krieges, des Hungers, der Ächtung, der fundamentalen Ungleichheit. Wir haben die Institutionen - Gewaltenteilung, Gerichtsbarkeit, Bund, Länder, Offenheit für Europa und das Völkerrecht -, die gewährleisten können, wenn wir daran festhalten, dass uns der ganz große Negativumbruch nicht mehr passiert. Weil gegenwärtig die Fragen der Wissenschaft - das ist ja dramatisch, was wir für Fragen zu beantworten haben -, das Faszinosum der europäischen Integration, das wackelt. Die Herausforderung dessen, was wir globale Welt nennen, was aber ein Stück Ratlosigkeit im Pluriversum der 200 Staaten ist, wenn wir all dieses bewältigen wollen, brauchen wir konservativ ein paar Grundprinzipien und Grundregeln, deren wir uns sicher sind. Deswegen würde ich heute, wenn ich in der Politik wäre - ich bin es nicht, und das ist auch gut so, dass ich es nicht bin -, aber wenn ich dort wäre, wäre wohl meine erste Aufgabe, diese Idee, das Gute zu bewahren und das Bessere in Freiheit und Demokratie zu ermöglichen, das wäre mein Hauptauftrag.
    "Manche deuten konservativ als Garantie des Besitzstandes"
    Detjen: Was hat der Konservatismus und auch der politisch organisierte Konservatismus selbst dazu beigetragen, dass er auch in Verruf geraten ist, dass er mit dem Vorwurf konfrontiert ist, dass er nicht in der Lage ist, adäquate Antworten auf eine immer heterogenere Gesellschaft zu geben, weil - das ist ein Vorwurf, der dem Konservatismus gemacht wird - er zum Beispiel ein Problem damit hat, Minderheiten, alternative, andere Lebensformen anzuerkennen und genutzt wird, um mehrheitliche Lebensentwürfe zu manifestieren, zu zementieren in der Gesellschaft?
    Kirchhof: Ich glaube, manche, die sich konservativ dünken, aber es nicht ganz verstanden haben, deuten konservativ als Garantie des Besitzstandes. Was ich habe, gebe ich nie her. Ich habe Eigentum, da gibt es keine Sozialbindung, das ist meine Sache, das geht niemanden etwas an. Ich habe einen Beruf, der muss so bleiben, wie ich ihn gelernt habe, ich entwickle mich nicht weiter, und ich bin nicht offen für Konkurrenz und junge Menschen, die es anders machen. Es gibt viele Beispiele. Ich bin in meiner Heimat, das ist schön, beheimatet, das ist etwas ganz Großartiges, aber ich habe keinen Sinn für die Herausforderung von Europa. Ich habe keinen Sinn für das Pariser Umweltabkommen. Ich habe keinen Sinn für die Kühnheit universaler Menschenrechte, die wir behaupten. Da behaupten wir in den 200 Staaten der Welt, ganz gleich, was der jeweilige Verfassungsgeber sagt, gelten die gleichen Elementarrechte, weil es den gleichen Menschen betrifft. Sensationell, das ist die Moderne. Da fühlen sich manche bedrängt, einmal, weil sie vielleicht Grund haben, sie sind krank oder arbeitslos oder ohne Einkommen - da habe ich alles Verständnis für, dafür haben wir den Sozialstaat -, manche auch, weil sie etwas introvertiert sind.
    AfD-Wähler: "Um diese Menschen muss man sich kümmern"
    Detjen: Kann in der jetzigen Situation die AfD eine Partei sein, die die Marktlücke, die die CDU gelassen hat, in einer parlamentarisch-demokratisch pluralen, an den Werten des Grundgesetzes orientierten Weise ausfüllt?
    Kirchhof: Das kann ich schwer beurteilen, weil ich die AfD so nahe nicht kenne, aber ich kenne manche, die haben AfD gewählt. Und um diese Menschen muss man sich kümmern. Das sind nicht Revolutionäre oder Menschen, die unsere Grundprinzipien negieren, sondern das sind Menschen, die die Sorge haben, dass unsere Grundstruktur - die ein Glück ist, dass wir in dieser Freiheit in Mitteleuropa, im Frieden nach allen Himmelsrichtungen offen in großem Reichtum mit Spitzenkultur leben dürfen - dass diese Grundprinzipien ihnen so bedroht scheinen, dass sie beobachten, dass die Politik ihnen dort keine zufriedenstellenden Antworten gibt. Das ist nicht nur eine Frage der Vermittlung der Politik, sondern das ist eine Frage der Inhalte der Politik. Also ich glaube, wir müssen diese Entwicklung, die ja nicht auf Deutschland beschränkt ist - die kommt ja in anderen Staaten, die mit uns vergleichbar sind, in anderer Form teilweise sogar in extremerer Form zum Ausdruck -, wir müssen darüber nachdenken, ob wir glauben, eine wertelose Gesellschaft führen zu können, ob wir glauben, eine freiheitliche Gesellschaft zu sein ohne ethische, moralische Bindungen, ob wir glauben, ein Europa organisieren zu können ohne die großen Ideale von Frieden, Offenheit der Grenzen für die Begegnung der Völker und der individuellen Menschen, Herrschaft des Rechts und nicht der Personen. Gegenwärtig sagen die Europäer, ich musste das Recht brechen und habe den Euro gerettet. Ein Skandalon für den, der das Recht setzt.
    Detjen: Da kommen wir noch drauf zu sprechen.
    Kirchhof: Schön, das ist gut. Also ich glaube, wir müssen weniger sagen, da ist die eine Partei und hier ist die andere Partei, sondern wir müssen, wie jedes Jahr, in einer Demokratie uns immer wieder erneuern, indem wir denken, sind die Gewichtungen der Politik richtig, und sind die Antworten so einsichtig, dass der Mensch es versteht.
    Sprecherin: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch, heute mit dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Paul Kirchhof.
    Der Ruf ans Bundesverfassungsgericht und der Einfluss eines einzelnen Richters
    Detjen: 1987, noch mal zurück in dieses Jahr: Paul Kirchhof wird Richter am Bundesverfassungsgericht. Wie gingen Ihnen das, als Sie zum ersten Mal diese rote Robe anhaben, da sitzen Sie zum ersten Mal mit dabei als der jüngste bis dahin gewählte Richter des Bundesverfassungsgerichts. Fühlten Sie sich mächtig?
    Kirchhof: Nein. Also erst mal, ich war völlig überrascht. Also einige Wochen vorher, da stand die Nachfolge des Verfassungsrichters Hesse an, und da konnte der Bundestag nicht innerhalb von drei Monaten den Nachfolger bestimmen, und dann geht das Vorschlagsrecht an das Bundesverfassungsgericht. Die nennen drei Namen in alphabetischer Reihenfolge, und da war mein Name dabei. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Da war ich sehr überrascht und habe gesagt, na hoppla, warum eigentlich nicht. Als junger Mensch traut man sich ja so ziemlich alles zu. Dann kam es nicht dazu. Der Nachfolger war dann Dieter Grimm, aber in der nächsten Nachfolge Steinberger im zweiten Senat, das wurde dann mein Platz. Also ich war einfach glücklich. Also wenn das Schicksal einen dorthin wirft, ist das für einen Staatsrechtslehrer schon die Krönung des Berufs.
    "Wenn Vertrauen da ist, dann hat man es gut im Senat"
    Detjen: In der Zeit, in der Sie am Gericht waren, waren andere bedeutende Verfassungsrichter am Gericht: Roman Herzog, Jutta Limbach, Ernst Wolfgang Böckenförde haben Sie noch miterlebt. Was ist das für eine Atmosphäre, wie muss man sich das vorstellen, wenn da diese Menschen mit sehr unterschiedlichen Prägungen zusammensitzen, über die Fälle beraten, - wird da gestritten, geht das ins Persönliche rein, wie werden diese unterschiedlichen Herkünfte und auch politischen Prägungen da wirksam?
    Kirchhof: Also es wird hart gestritten. Natürlich, das kann ja gar nicht anders sein. Das sind ja meistens Grundsatzrechtfragen, wo die Verfassung keine eindeutige Antwort gibt. Sondern wo es einer Auslegung bedarf, wo es eines Nachdenkens und Fortdenkens und Vorausdenkens der Verfassungssätze bedarf, und da hört man sehr aufeinander. Wir haben ja die Besonderheit im Verfassungsgericht, es ist für das ganze Recht zuständig. Sonst haben wir Spezialisierung, die Strafrichter, die Zivilrichter, die Sozialrichter, die Verwaltungsrichter, die Finanzrichter. Das Bundesverfassungsgericht ist für alles zuständig, und das heißt, wir sind eigentlich überfordert. Das kann kein Jurist. Und also müssen wir uns auch spezialisieren. Jeder hat ein bestimmtes Dezernat mit einer bestimmten Aufgabe. Also ich war zum Beispiel zuständig für Europa und Völkerrecht, für Finanz- und Steuerrecht, was sich nachher herausstellte, ein hochbrisantes Thema für diese Jahre '87 bis '99. Jetzt kommt es darauf an, dass diese Arbeitsteilung unter den Richtern so funktioniert, dass der eine weiß, ich kann dem anderen vertrauen. Der denkt anders, der macht einen Vorschlag, der passt mir nicht, aber er stellt mir das Problem richtig dar, er stellt mir die Rechtsprechung richtig dar, er macht mir einen Rechtsvergleich, er wertet die rechtspolitischen Stimmen aus. Und natürlich, er beschreibt konkret, was im Prozess alles geschrieben und gesagt worden ist. Wenn dieses Vertrauen da ist, dann hat man es gut im Senat.
    "Ein Einzelrichter könnte nicht das leisten, was ein Senat leisten kann"
    Detjen: Und dieses Vertrauen ist immer da, war immer da, oder gab es da auch Vertrauenskrisen?
    Kirchhof: Es ist überwiegend da. Aber das ist die Grundbedingung, dass dieser sehr hohe Anspruch - wir können ja nichts zurücknehmen. Also wenn wir ein Urteil gesprochen haben, dann fahren wir nicht nach Hause und reiben die Hände, heute haben wir aber wunderbar Recht gesprochen, sondern man fährt nach Hause und denkt, war es richtig oder war es vielleicht doch nicht ganz…
    Detjen: Na ja, aber gerade in Ihrer Zeit fahren Sie nach Hause, machen die Nachrichten an und erleben gerade in diesen Jahren vor allem Entscheidungen, die dann für heftige gesellschaftliche Debatten sorgen. Stichwort "Soldaten sind Mörder", Kruzifix-Entscheidung, Maastricht-Entscheidung, Euro-Entscheidung - alles Entscheidungen, zum Teil waren Sie selbst dran beteiligt, die in diesen Jahren im Bundesverfassungsgericht fallen. Also das war auch eine Belastungsprobe, ein Stresstest für das Bundesverfassungsgericht. Zuweilen wenn da in Bayern Menschen auf die Straße gehen und…
    Kirchhof: Und für den Verfassungsrichter im einzelnen.
    Detjen: Natürlich, genau. Einzelne Verfassungsrichter stehen dann immer wieder im Fokus, nicht nur Sie: Dieter Grimm in Verbindung mit dem Soldaten-sind-Mörder-Entscheid, Sie in Verbindung mit steuerrechtlichen Entscheidungen…
    Kirchhof: Und Maastricht-Urteil und Euro-Urteil, Bundeswehr…
    Detjen: Wie weit ist ein einzelner Richter da eigentlich einflussreich, wie weit geht die Möglichkeit eines einzelnen Richters, in diesem Kollektiv von acht prägend zu sein?
    Kirchhof: Ein Einzelrichter könnte nicht das leisten, was ein Senat leisten kann. Also wenn diese acht Richter - und das sind alles selbstbewusste Richter, und jeder hat ganz spezifische Rechtsvorstellungen -, wenn die miteinander diskutieren, nicht aufeinanderprallen - man kennt sich ja gut -, also, wenn einer dann tief Luft holt, nach vier Jahren, dann weiß ich, was er sagt, bevor er es gesagt hat. Das ist schon klar, aber es werden die Formulierungen, es werden die Bedenklichkeiten, es wird die Selbstvergewisserung noch mal organisiert - durch das Berichterstatter-Prinzip allerdings. Also diese Spezialisierung…
    Detjen: Ein Richter übernimmt Vorbereitungen der Entscheidung…
    Kirchhof: Ich übernehme alles, was Völkerrecht ist und Europarecht ist und was Finanz- und Steuerrecht ist. Mit meinen Mitarbeitern natürlich arbeite ich den Fall auf, mache ein Votum, lege das im Senat vor, vertrete das, schreibe nachher das Urteil. Der hat natürlich einen stärkeren Einfluss als die anderen. Das kann ja gar nicht anders sein, weil der diesen Fall am besten kennt, weil der auf Fragen noch Antworten kann, weil der nachher auch die Feder führt über das Urteil, schreibt natürlich das, was die Senatsmehrheit will. Aber in der konkreten Ausgestaltung kommt es ja auch auf viele Formulierungen an, die wir nachher noch mal beraten. Das ist der schwierigste Teil des Richtergeschäfts, also der Kampf um die Worte und teilweise um die Silben, das ist ganz schlimm, aber es muss natürlich sein. Aber der Berichterstatter, der sein Metier versteht, hat einen spezifischen Einfluss auf das Ergebnis der von ihm vorgeschlagenen Urteile.
    Die Einführung und die Krise des Euros und die Zukunft der europäischen Idee
    Detjen: Nehmen wir mal ein Beispiel: In der Euro-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht ein Satz, den, weil er so schön ist und weil Sie so schön formulieren können, man Ihnen zuschreiben könnte: "Geld ist geprägte Freiheit". Der stammt aber gar nicht von Ihnen, der stammt von Dostojewski, "Ein Totenhaus".
    Kirchhof: Ich habe ihn aber gelesen und ins Gericht getragen.
    Detjen: Keine Quellenangabe hinzugeschrieben.
    Kirchhof: Ja, das machen wir fast nie, aber das ist das Typische in der Verfassungsgerichtsbarkeit: Wir bauen immer auf die Kultur, die da ist. Wenn Sie Dostojewski gelesen haben und das Fenster in das Totenhaus sich bewusst machen, das wollten wir nicht zitieren, sondern wir wollten zitieren, "Geld ist geprägte Freiheit". Das Geld ist nicht irgendeine Zutat zum Menschen, sondern im modernen freien Leben können Sie Ihre Freiheit kaum in Anspruch nehmen, wenn Sie nicht Geld haben. Sie können nicht Auto fahren, Sie haben keine Wohnung, Sie können keine Firma gründen, wenn Sie nicht vorfinanzieren können. Also dass dieses Geld für die individuelle Freiheit jedes Menschen, auch für den Sozialhilfeempfänger, der nicht Waren empfangen darf, sondern Geld, damit er sich Waren aussuchen kann für seinen Geschmack, das wollten wir damit zum Ausdruck bringen. Das kommt trefflich in diesem Satz zum Ausdruck. Den Roman wollten wir im Zusammenhang mit dem Euro nicht heranziehen.
    "Die neue Währung rechtlich so einmauern, dass nichts schiefgehen kann"
    Detjen: Gerade heute kriegt es eine aufgeladene Bedeutung, wenn man liest, dieser Satz kommt gerade aus dem Roman "Aus einem Totenhaus". Der Euro steckt in einer tiefen Krise. Wie sehen Sie heute die Entwicklung des Euro, zurückblickend auch noch mal die Entscheidung, den Euro überhaupt einzuführen? Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg damals in einem heftigen, aufsehenerregenden Streit freigemacht. Ist diese Entscheidung, den Euro überhaupt einzuführen, zu früh gekommen, hätte sie anders fallen müssen?
    Kirchhof: Das ist natürlich eine Frage, die mich persönlich sehr bewegt, weil ich damals Berichterstatter war, und Sie wissen, nicht nur die Öffentlichkeit hat gerungen, sondern der Senat hat gerungen. Und da standen ja wirklich die Kontroversen so lebhaft gegeneinander, dass jeder das nachvollziehen konnte. Wir haben den Versuch gemacht, die Entwicklung zum Euro nicht zu verhindern, obwohl alle historische Erfahrung sagt, eine Währungsunion ohne Wirtschaftsunion, also ohne Vergemeinschaftung der Haushalte und des Sozialwesens, die geht nicht, die hat noch nie funktioniert. Wir haben gesagt, sie funktioniert, und wir geben damit die D-Mark auf - das war für die Identität der Bundesrepublik Deutschland ein ganz wichtiger Faktor -, wenn wir diese neue Währung rechtlich so einmauern, dass nichts schiefgehen kann. Dann kam etwa die Begrenzung der Staatsverschuldung, dann kam die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank für die Währungspolitik - nicht für die Bankenaufsicht wie heute, für die Währungspolitik -, dann kam, du musst den Kredit am Markt selber suchen, damit du erlebst, schlechte Bonität, hohe Zinsen ist die beste Kreditbremse. Das haben wir dort vorgezeichnet, und dann waren wir uns ziemlich sicher, so wird es gelingen, und solange man das Recht beachtet hatte, ist es ja auch glänzend gelungen.
    "Wir sind enttäuscht"
    Detjen: Haben Sie sich getäuscht?
    Kirchhof: Wir haben uns nicht getäuscht, aber wir sind…
    Detjen: Getäuscht worden?
    Kirchhof: Wir sind enttäuscht, und da muss man dann einfach sagen, da hat die Bundesrepublik Deutschland und die Französische Republik 2002 wacker zu beigetragen. Wir hatten ja dort die Grenze, kein Staat darf sich höher als drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts jährlich verschulden. Das ist eine klare Ansage. Wir wissen, was Bruttoinlandsprodukt ist, wir wissen, was die Zahl drei bedeutet, wir wissen, was Prozent bedeutet. Also da ist nicht viel auszulegen. Dann kam der blaue Brief nach Paris und nach Deutschland - wir waren knapp unter drei Prozent, Paris war etwas über drei Prozent -, passt auf, ihr verletzt das Recht. Dann gab es eine Gegenwehr, das ist eine Unverschämtheit, man dürfe diese Staaten nicht darauf hinweisen. Dann gab es eine Kommission und eine EuGH-Entscheidung. Also kurz und gut, dann kamen wir auf die schiefe Ebene, die beiden stärksten Staaten haben sich gegen die Unterwerfung unter das Recht gewehrt, und damit haben die Kleinstaaten natürlich gedacht, wenn die das dürfen, dann wir auch.
    "Die Staaten werden in ihrer Souveränität abhängig vom Finanzmarkt"
    Detjen: Das ist aus französischer Sicht vielleicht eine deutsche Haltung, wenn Sie sagen, es geht um die Unterwerfung unter das Recht, eine deutsche juristische Sichtweise. Die Franzosen würden an der Stelle vielleicht entgegenhalten, es ging faktisch um die Unterwerfung unter eine deutsche Wirtschafts- und Haushaltskultur.
    Kirchhof: Das ist sicherlich falsch, denn ich spreche von dem Europarecht, das alle Mitgliedstaaten des Euro einstimmig beschlossen haben. Hätten die es nicht einstimmig beschlossen, wäre es nicht Recht geworden. Es geht darum, ob der Politiker Recht setzen darf und dann an dieses Recht gebunden ist. Seit dem 14. Jahrhundert haben wir errungen, dass der Fürst an seine eigenen Befehle gebunden ist. Er steht nicht über dem Recht, sondern solange der Befehl gilt, ist der Rechtssetzer gebunden. Wenn jetzt einige Europäer, Repräsentanten dieser Europäischen Union sagen, wir müssen das Recht ein bisschen auf die Seite schieben, weil es so schlecht ist, dann stelle ich die Frage, wenn das Recht schlecht ist, was folgt daraus. Derjenige, der Recht setzt, mag es ändern und besser machen, aber nicht, er bindet den Bürger und fühlt sich selbst nicht gebunden. Das gibt’s doch gar nicht.
    Detjen: Aber nun wissen wir aus deutscher Erfahrung, Recht ist eine flexible Materie, die sich anpassen kann, auch das Grundgesetz ist immer wieder geändert worden. Das Bundesverfassungsgericht selbst ist ein Motor einer dynamischen Rechtsentwicklung. Also das kann doch auch für Europa gelten, und das erleben wir in der Eurokrise.
    Kirchhof: Natürlich wird und soll sich Europa dynamisch bewegen. Die Frage ist nur, wohin. Die große Aufgabe Europas liegt darin, dass die Bürger den Staat und Europa überfordern, sie wollen mehr wirtschaftlich, finanziell von der öffentlichen Hand als die öffentliche Hand geben kann. Sie kann nur das geben, was sie vorher steuerlich genommen hat - das ist Grundprinzip -, und deswegen weicht sie in die Staatsverschuldung aus, dann wird sie abhängig von den Banken, vom Finanzmarkt, und dann definiert sich der Finanzmarkt in seiner Spekulationsbereitschaft als systemisch und beansprucht, wenn er sich verspekuliert hat, dass er die Spekulationsverluste beim Steuerzahler im Staatshaus refinanziert. Dann werden die Staaten in ihrer Souveränität abhängig vom Finanzmarkt, weil sie ihre Wechsel verlängern müssen, ihre Schulden, und wenn dann der Finanzmarkt sagt, das kostet vier Prozent, dann können sie es nicht mehr bezahlen. Also müssen sie mit dem Finanzmarkt vereinbaren, wir machen null Prozent. Also kriegt der Sparer keine Zinsen, also ich enteigne ihn an der Nutzungsfähigkeit seines Eigentums. Da findet eine gigantische wirtschaftliche Umverteilung statt ohne Parlament. Diese Umverteilungsfragen darf nicht die EZB entscheiden, das ist eine typische Frage fürs Parlament, deswegen haben wir Demokratie erkämpft. Dann merken Sie plötzlich, wenn man all das sieht, dann wird vielleicht der Sinn dafür geweckt, dass es sich lohnt, das, was sich im Recht bewährt hat und was wir deshalb für unsere Kinder verbindlich an die Zukunft weiterzugeben uns bemühen, dass der Kampf für dieses Recht und um dieses Recht der größte Auftrag der Gegenwart ist.
    Gesetzgebung in der EU: "Man könnte es demokratischer machen"
    Detjen: Nun ist aber die Krise, in der sich Europa befindet, nicht nur eine Krise der Währung, sicherlich auch nicht nur eine Krise von Rechtsverständnissen, sondern wir sehen inzwischen, wenn wir uns in Europa umschauen, das geht viel weiter. Es ist eine Krise von demokratischen Verständnissen, von Staatsverständnissen, von Zielvorstellungen über das, was eine europäische Gemeinschaft angeht. Wie beobachten Sie die Entwicklung Europas im Moment, und sehen Sie Wege voraus, die Europa beschreiten könnte in den nächsten Jahren?
    Kirchhof: Also darf ich mal erst aus meiner Biografie vielleicht diese Frage beantworten: Als ich Abiturient war, kurz vorm Abitur haben sich Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vor dem Schloss von Rastatt die Hand gegeben und haben einer fünftausendköpfigen jungen Menge - ich stand in der ersten Reihe, und wir haben erstmals Europafähnchen geschwenkt, mit sechs Sternen damals -, haben gesagt, Europa heißt Frieden am Rhein, offene Grenzen, Herrschaft von Personen ist ausgeschlossen, es herrscht das Gesetz.
    Detjen: Für viele hieß es auch Überwindung der Nationalstaaten.
    Kirchhof: Das war natürlich - die Offenheit der Grenzen heißt Begegnung der Völker und Vernetzung erst von Kohle und Stahl und dann von der Wirtschaft insgesamt. Also wenn ich Gegenstände, Wertgüter, Unternehmen in Frankreich habe, werfe ich dahin keine Bomben, um es mal ganz einfach zu sagen. Das war die große Idee.
    Detjen: Aber es ging ja weiter: Staatsrechtlich eine der Gründungsvisionen war die Vorstellung von vereinigten Staaten, eines föderalen Europa, von Vereinigten Staaten von Europa, die die nationalstaatliche Ordnung überwinden, die jetzt aber wieder auf einmal wirksam und stark werden.
    Kirchhof: In den Rechtstexten waren die Vereinigten Staaten von Europa nicht mal eine Vision am Horizont. Sie können eine sein, auch heute noch, natürlich, aber wir sind noch nicht so weit, sondern wir müssen diesen Staatenverbund - das ist ja damals der Begriff, den ich vorgeschlagen habe dem Senat, der ihn aufgenommen hat -, die besondere Verbund… - nicht ein Staatenbund, wie wir das überall im Völkerrecht kommen sahen -, die besonders intensive Verbundenheit der Staaten in diesem Europa mit der Ermächtigung der europäischen Organe, der supranationalen Organe, Recht unmittelbar verbindlich in den Mitgliedstaaten zu setzen und durchzusetzen, das war die grandiose Idee, die auch heute noch wirksam ist. Aber jeder Staat war die demokratische Einheit, die dieses System legitimiert, und deswegen steht ja auch immer in den Verträgen, etwa in der europäischen Versammlung, stehen die Repräsentanten der Völker - der italienischen, der deutschen, der spanischen, nicht des europäischen Staatsvolkes, das gibt es nicht. Dann wissen wir, dieser Staatenverbund setzt das Recht durch die Regierung, nicht durch das Parlament, also im Rat werden die Gesetze beschlossen. Das Parlament hat Vetorecht, aber es kann aus eigener Kraft kein Gesetz hervorbringen. Das ist das Element des Staatenverbundes, aber - das haben wir auch im Maastricht-Urteil geschrieben - man könnte es demokratischer machen, etwa indem man Tagesordnungen veröffentlicht. Was wird am nächsten Dienstag beraten? Indem wir die Debatte transparent machen, dass die Öffentlichkeit das beobachten kann, indem vielleicht die politischen Parteien europaweit agieren, indem - das fängt jetzt gut an - die Medien europaweit diskutieren und berichten, dass sie voneinander wissen. Dann wächst Europa zusammen.
    Detjen: Auch eine Folge der Krisen, auch der Eurokrise, dass wir auf einmal europäische Öffentlichkeiten haben, wie wir sie lange nicht hatten.
    Kirchhof: Ja.
    "Europa darf keine Zwangsjacke sein"
    Detjen: Wir sind ja lange immer davon ausgegangen, dass diese Einigung Europas, dass das ein Prozess ist, der nicht mehr umkehrbar ist, und wenn man sich umschaut, schaut man in manche Gesichter, die sich da heute nicht mehr so ganz sicher sind. Wir stehen kurz vor dem Referendum in Großbritannien, wir sehen in Umfragen, nicht nur in mittelosteuropäischen Ländern, sondern auch in Kernländern - Italien, Frankreich - Mehrheiten in Umfragen für einen Euroaustritt von solchen Ländern. Wie besorgt sind Sie, wenn Sie Europa heute anschauen?
    Kirchhof: Also ich bin besorgt aus zwei Gründen: Einmal, weil es diese Bewegung gibt. Also wir müssen für dieses Faszinosum Europa kämpfen. Wir haben überhaupt keine andere Chance. Die Anfragen an uns, an die Politik, an die Wirtschaft, an die Kultur, an das Recht sind nicht mehr auf unser Staatsgebiet, auf die Menschen in Deutschland beschränkt. Die großen Anfragen kommen von außerhalb. Wenn wir da gehört werden, dann gibt es nur Europa. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt ist, dass die Politik - und da meine ich die der europäischen Organe wie der Mitgliedstaaten - als Antwort auf diese Gegenwehr großer Bevölkerungsgruppen, die vielleicht aus Unverstand erwachsen, aber vielleicht auch aus einer berechtigten Sorge darin besteht, dass man die Plebiszite abschafft, dass man sagt, es darf nicht mehr in dem Parlament beschlossen werden. Wir müssen gucken, dass da nicht was schiefläuft. Die wissen das alles nicht. Also Europa diktiert, was sein soll. Die müssen sagen, Europa ist keine Zwangsjacke. Du kannst jeden Tag raus. Wenn ich in einer Zwangsjacke bin, dann wehre ich mich dagegen. Nehmen Sie ein kleines Kind: Alles in Harmonie mit den Eltern, aber wenn die Eltern es in eine Zwangsjacke zwängen, dann wehrt es sich und schreit, und das ist richtig so, weil eine Freiheitsidee in ihm ist. Deswegen dürfen wir nie sagen, du darfst nicht austreten, sondern sagen, tritt aus, aber ich sage dir, was das bedeutet. Dann sagen wir in ganz nüchternen Formen, wie es ihm wirtschaftlich schlechter geht, wie es an den Grenzen aussieht, wenn er in Ferien fahren will, dass der Fußballverein nicht beliebig, der englische mit dem deutschen sich treffen kann und machen da diesen Wettkampf, dass das Risiko des Atomreaktors für Deutschland gleich ist, ob der in Fessenheim steht oder auf unserem Gebiet, dass der Umweltschutz an Grenzen nicht haltmacht. Wenn wir all dieses mit den Menschen sachlich und regelmäßig und offen, auch bereit zur Wiederholung, diskutieren, dann wird es keinen Grexit geben, und dann gibt es keine Probleme in Holland, und dann gibt es keine Probleme in Frankreich. Aber wenn wir sagen, du bist in einer Zwangsjacke, da kommst du nicht mehr raus, da haben wir dich reingelockt, dann ist Europa ohne Zukunft.
    Der Professor aus Heidelberg, Merkels Schattenkabinett und das Steuerrecht
    Detjen: Aus dem, was Sie sagen, spricht ein großes und man kann fast sagen ungebrochenes Vertrauen in die Kraft des guten Arguments und die überlegene Kraft des guten Arguments -
    Kirchhof: Ja, das ist mein Lebenselixier.
    Detjen: - und Sie haben das dann freiwillig noch mal auf die Probe gestellt, und nachdem Sie das Bundesverfassungsgericht verlassen haben 2005, gehen Sie in die Politik, gehen in Angela Merkels Wahlkampfteam, treten dort als Finanzexperte auf. Ziehen heftige Kritik auf sich, Schröder verhöhnt Sie als den Professor aus Heidelberg, Familienbild wird als reaktionär gegeißelt - was war das für eine Erfahrung für Sie?
    Kirchhof: Es waren ja nur ganz wenige Wochen. Ich möchte keinen Tag missen, aber auch keinen Tag hinzufügen. Es waren schon herbe und heftige Erfahrungen. Das hatte ich so nicht erwartet. Ich bin ja aus dem Verfassungsgericht ausgeschieden in der Zuständigkeit auch für Steuerrecht, und da habe ich gesehen, ein Gericht kann immer nur den Fall lösen, den es hat, den der Antragsteller ihm vorstellt, den kann man dann verallgemeinern am Leitsatz, aber man kann nicht konzeptionell arbeiten. Wenn Sie zwölf Jahre lang ein Auto reparieren, das nicht fahrtauglich ist - das Steuerrecht -, dann drängt Sie alles danach, konzeptionell zu arbeiten. Das habe ich gemacht mit sechs Bundesländern, mit Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern, Finanzbeamten haben wir einen Entwurf eines Bundessteuergesetzbuchs vorgelegt - das kann jeder nachlesen -, wo wir aus den vielen tausend Paragrafen 196 machen. Da steht alles drin, und wir haben nur noch fünf Steuern, also wir haben das vereinfacht. Wenn dann - völlig überraschend für mich - die Anfrage aus der Politik kommt, wären Sie bereit, das, was Sie erarbeitet haben, in die Rechtswirklichkeit umzusetzen - die Frage kam am Samstagabend, und ich wurde am Dienstag der Presse vorgestellt -, dann versuchen Sie das.
    Steuerrecht: "Überall ist der Funke übergesprungen"
    Detjen: Hatten Sie konkret die Vorstellung, Bundesfinanzminister zu werden?
    Kirchhof: Ja.
    Detjen: War das das Angebot?
    Kirchhof: Ja, das war konkret. Ich hatte keinen Sitz im Parlament gehabt. Erst mal wollte ich das nicht, aber die Frage stellte sich nicht, das war viel zu spät. Dann habe ich das Mikrofon genommen und bin durch die Lande gezogen und habe für dieses Modell des einfachen, für jeden verständlichen und auf Freiheit in der Gleichheit angelegten Steuergesetzes geworben, und Herr Detjen, ich darf in aller Bescheidenheit sagen, in jeder Versammlung - und ich war vom Hofbräuhaus bis zu den Steuerleuten in Hamburg, vom Industrieklub in Düsseldorf bis zur Universität Tübingen, also ich war in West und Ost –, überall ist der Funke übergesprungen. Also es ist nicht richtig, wenn man sagt, ihr dürft mit den Wählern nicht über Steuern sprechen, weil alle sich über Steuern ärgern, und ich habe auch nicht versprochen, es ist ein ganz leichter Weg, aber es ist ein beschwerlicher Weg zu einem leichten Steuerrecht, und das haben die Menschen vertreten. Ich erlebe das ja noch heute, jeden Tag.
    Detjen: Trotzdem sind Sie dann danach konfrontiert, dass Demoskopen sagen, Kirchhof hat dem Wahlkampf eher geschadet mit seinen Forderungen.
    Kirchhof: Das kann ich nicht beurteilen, das habe ich natürlich auch gelesen und auch sehr nachdenklich zur Kenntnis genommen. Ich war völlig überrascht, dass die Erinnerung daran, erstens, dass ich Professor bin - das ist ja vielleicht nicht so schlecht, und wenn man dann noch Professor ist an der ältesten Universität in Deutschland, Heidelberg, die heute eine Exzellenzuniversität ist, ist das vielleicht auch nicht so schlecht -, dass dies ein Vorwurf werden könnte - das war damals, heute ist das ein Ehrentitel, also jeder, der mich vorstellt, wenn ich einen Vortrag halte, meint es gut mit mir und so weiter, also es hat sich ganz gewandelt -, aber das war für mich ein Erlebnis des Irrationalen im Wahlkampf. Der andere hatte ein Mikrofon in Fernsehanstalten mit acht Millionen Zuhörern, ich hatte…
    Detjen: Der andere war Schröder.
    Kirchhof: Ja, ja. Ich habe Säle gehabt mit 300 bis 3.000. Da hatte ich keine Chance. Das war ganz klar. Das wusste ich aber am Anfang nicht.
    "Die große Bewegung für den Effekt auf den Wahlzettel ereignet sich in den Medien"
    Detjen: Aber es ging ja nicht nur um Sie, sondern es ging auch aus Merkels Sicht, aus Sicht der CDU darum, die Reformfähigkeit des politischen Systems auch nach den Agenda-Reformen von Schröder noch mal zu testen, mit dem Glauben an die Vernunft Ihrer Argumente, für die Sie auch dann nachher immer weiter doch gestritten haben. Hat das diesen Glauben erschüttert?
    Kirchhof: Nein, das hat ihn bestätigt. Also ich war ja immer unterwegs die paar Wochen. Vier Vorträge mit Diskussion pro Tag. Das ist für einen, der das nicht geübt hat, eine Strapaze. Überall war Zustimmung, und zwar in einer Lebhaftigkeit, die ich nicht erhofft hatte. Wenn ich dann abends in die Nachrichten geguckt habe, da stand was ganz anderes, aber das habe ich für einen Irrtum gehalten. Also ich war so, ich erlebe das doch täglich, das stimmt nicht. Hat dann natürlich gestimmt. Das wissen wir auch. Also es hat mein Vertrauen in die Kraft der Argumentation überhaupt nicht erschüttert, aber natürlich das Bewusstsein gefördert, du brauchst das große Mikrofon. Die große Bewegung, die dann nachher zu einem Effekt bei dem Wahlzettel führt, ereignet sich in den Medien.
    Steuerrecht: "Wir werden das Ziel auch erreichen"
    Detjen: Was das Steuerrecht angeht, und die Vision eines einfacheren, kompakteren, verständlicheren Steuerrechts haben Sie ja nicht nachgelassen, Sie haben das weiter betrieben, den Entwurf, das Buch, das Sie entwickelt haben, hat jeder Abgeordnete in die Hand bekommen und trotzdem ist es nichts draus geworden. Das Steuerrecht ist nach wie vor ein schwer durchschaubares Dickicht. Haben Sie das Projekt aufgegeben, haben Sie noch Hoffnungen, dass man mit einem solchen großen Wurf das Steuerrecht reformieren kann?
    Kirchhof: Ich bleib daran und habe da immer wieder weiter für gekämpft und werde auch weiter kämpfen. Wir werden das Ziel auch erreichen, das dauert länger als beabsichtigt. Vor wenigen Monaten hatte ich die Hoffnung, es gelingt. Ein markanter Durchbruch für die Erbschaftsteuer. Also die ganze Debatte mit der Erbschaftsteuer, die brauche ich nicht zu wiederholen, das ist eine große Ratlosigkeit, das ist eigentlich unglaublich. Man könnte ein bisschen am System verzweifeln, aber dann haben sich einige Abgeordnete zusammengetan, eine beachtliche Zahl aus CDU und SPD und FDP, die ein einfaches Erbschaftsteuerrecht wollten. Und wir haben ja ein ganz einfaches Erbschaftsteuerrecht vorgeschlagen, also die Freibeträge von 400.000 für das Kind nach jedem Elternteil, also 800.000, Oma ihr Häuschen ist damit außerhalb der Erbschaftsteuer. Dann haben wir Steuerfreiheit beim Erbfall unter Ehegatten, damit wir den Ehegatten, der jetzt den Tod des Partners erlebt, nicht auch noch finanziell in Bedrängnis bringen. Das ist in vielen europäischen Ländern, sollten wir auch haben. Dann haben wir alle Ausnahmen, Privilegien, Klassen weg, einheitlicher Steuersatz von zehn Prozent, und wer Vermögen erbt, aber keine Liquidität, also ein Unternehmen erbt, was er nicht sofort verkaufen kann, der bekommt eine Stundung zinsfrei, zehn Jahre, jedes Jahr ein Prozent - das ist die alte Vermögenssteuer -, und dann hat er das getan, was dem Staat gehört. Wir werden etwa mit diesem System das Doppelte an Aufkommen erzielen. Das ist doch eigentlich ein Angebot für eine rationale Politik, und jeder versteht es. Da hatten wir gute Gespräche, und plötzlich war alles Schluss.
    "Im Wahlkampf war ich gewesen, das ist Vergangenheit"
    Detjen: Warum?
    Kirchhof: Weil zu viele Menschen einen Vorteil haben an diesem komplizierten Recht, das der Adressat des Gesetzes nicht versteht. Also wir haben völlig resigniert vor dem Prinzip, dass der Bürger durch Lektüre eines Gesetzes im stillen Kämmerchen erfahren kann, was dieser Staat von ihm erwartet. Das Auto ist gegen die Wand gefahren.
    Detjen: Also vielleicht hat ja jetzt in dieser Dreiviertelstunde, die wir miteinander sprechen, der ein oder die andere zugehört, die sich schon auf ein Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr vorbereiten. Wenn jetzt nachher bei Ihnen das Telefon klingelt, und es ist ein Politiker dran, sagt, Herr Kirchhof, das klingt so gut, beraten Sie uns - machen Sie mit? Was würden Sie sagen?
    Kirchhof: Ich sage, im Hintergrund stehe ich zur Verfügung, um ein gutes Gesetz zu schreiben. Im Wahlkampf war ich gewesen, das ist Vergangenheit.
    Detjen: Herr Kirchhof, vielen Dank für das Gespräch!
    Kirchhof: Bitteschön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.