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Ehrlichkeit und Freundlichkeit stehen nicht im Widerspruch zueinander

Hinter dem possierlichen Titel "Gerechtigkeit für Igel" verbirgt sich das hochmoralische Werk des US-amerikanischen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin. Inhaltlich geht es darum, dass die moralischen Werte wahr und unteilbar sind.

Von Christoph Fleischmann | 02.07.2012
    Ein philosophisches Werk von 700 Seiten, das die Fachdiskussion konsequent in weitere 100 Seiten Anmerkungen ausgliedert, in dem der Autor seine Leser an die Hand nimmt und Schritt für Schritt seine Argumentation entwickelt, mögliche Einwände aufnimmt und mit Zusammenfassungen und Ausblicken das Ganze strukturiert – literarisch setzt der amerikanische Philosoph Ronald Dworkin Maßstäbe! Dworkin geht es keineswegs nur, wie der Titel nahelegt, um eine Theorie der Gerechtigkeit, sondern um die Grundlegung der Moralphilosophie überhaupt. Dworkin will nämlich die anspruchsvolle These beweisen, dass die Werte, denen sich unser Nachdenken über Moral verpflichtet weiß, erstens eine unteilbare Einheit darstellen und zweitens wahr sind. Er grenzt sich damit von postmodernen und relativistischen Positionen ab, für die Werte nur für bestimmte Gruppen gültig und je nach Ort und Zeit verschieden sind.

    Die "realistische" Sichtweise, dass manche moralischen Urteile objektiv wahr sind, kann sinnvoll nur über eine moralische Rechtfertigung der substanziellen Behauptung verteidigt werden, dass bestimmte konkrete moralische Urteile – etwa, dass Steuerhinterziehung falsch ist – tatsächlich wahr sind, und es selbst dann wären, wenn niemand das so sehen würde. Wenn wir glauben, dass es gute Gründe dafür gibt, dieses Urteil für wahr zu halten, müssen wir davon ausgehen, dass wir irgendwie mit der Wahrheit hinsichtlich dieser Frage "in Kontakt" sind und unser Urteil nicht rein zufällig wahr ist.

    Dworkin führt um diese These zu stützen eine wichtige Unterscheidung ein: Die Wahrheit einer moralischen Aussage bemesse sich nicht – wie bei einer naturwissenschaftlichen Wahrheit – an der Entsprechung von Aussage und Sache. Damit die Aussage, dass etwa Bäume ihre Blätter im Herbst verfärben, wahr ist, braucht es eine Entsprechung in der Wirklichkeit, die man nachprüfen kann. Für die Frage nach der Steuerhinterziehung aber könne es keine Entsprechung in der Wirklichkeit geben. Die Wahrheit einer moralischen Aussage zeige sich an einem guten Grund beziehungsweise am besten Argument. Ronald Dworkins Wahrheitsanspruch kommt also ohne metaphysischen Ballast aus.

    Von Interesse ist nicht, ob moralische oder ethische Urteile wahr sein können, sondern welche von ihnen wahr sind.

    Im tendenziell unabschließbaren Streit über moralische Forderungen entscheide das beste Argument, welche Forderungen wahr seien und welche nicht. Schwieriger als mit der Wahrheit moralischer Aussagen aber wird es mit Dworkins erster These: die Einheit und Unteilbarkeit der Werte. Für Dworkin gibt es keine Gegensätze zwischen verschiedenen Werten. Er illustriert das an einem Beispiel: Ein Freund hat ein Manuskript geschrieben und fragt nach der persönlichen Meinung seines Gegenübers. Der findet das Manuskript aber schlecht. Er schwankt also zwischen seinen Ansprüchen an Ehrlichkeit einerseits und Freundlichkeit andererseits gegenüber seinem Freund. Dworkin fragt:

    Stehen Ehrlichkeit und Freundlichkeit manchmal im Widerspruch zueinander? Da die Einheit der Werte die zentrale These meines Buches ist, muss ich das verneinen. Obwohl wir immer wieder mit einem neuen einzelnen Konflikt konfrontiert sind, können wir mit einer Umstrukturierung unserer Begriffe auf sie reagieren, die ihn letztlich beseitigen soll.

    Für den Rechtsphilosophen Dworkin ist es eine Aufgabe der Interpretation, die Begriffe der Moral so auszulegen, dass alle Werte integrierbar sind. Für das Feld der politischen Philosophie, seinem Hauptarbeitsgebiet, führt Dworkin diese Konfliktbereinigung zumindest in Ansätzen aus. Für ihn gibt es zwei Werte, die sich aus der Würde des Menschen ableiten und die oft als Widersprüche angesehen werden: Gleichheit und Freiheit.

    Eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Regierung ist nur dann legitim, wenn sie versucht, das Schicksal aller von ihr regierten Menschen gleichermaßen zu berücksichtigen und zudem ihre persönliche Verantwortung für ihr eigenes Leben in vollem Maße zu achten.

    Ein Konflikt zwischen Gleichheit aller und Freiheit des Einzelnen findet nicht statt, da beide Begriffe so interpretiert werden, dass sie miteinander zu vereinbaren sind. Faktisch führt das dazu, dass die Gleichheitsforderung von Dworkin runter gedimmt wird auf die ganz praktische Frage, welche Vorsorge der Einzelne bereit wäre zu treffen, wenn es keinen Staat gäbe. Das, was er dann bereit wäre, für Versicherungen auszugeben, das, so Dworkin, darf der Staat mit Steuern und Sozialabgaben einziehen und umverteilen. Abgesehen davon, dass dies eine abstrakte Größe ist, stellt sich dabei die Frage, ob die vermeintliche Vereinbarkeit von Gleichheit und Freiheit mehr ist als ein schlichter Kompromiss zwischen konkurrierenden Ansprüchen? Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass Ronald Dworkin gegen das gedankenlose Relativieren von moralischen Forderungen argumentiert, wonach etwas, das für eine Personengruppe gültig sei, deswegen noch lange nicht für andere Menschen gelte. Dworkin hat recht, wenn er insistiert, dass es bei allen moralischen Debatten letztlich um Wahrheitsansprüche geht. Aber es sind eben nur Ansprüche auf Wahrheit. Auch das scheinbar beste Argument für eine moralische Forderung kann man nicht einfach gleichsetzen mit der Wahrheit; etwas, was Dworkin auch zugibt: Für die Integration aller Werte in ein Gesamtsystem…

    ..ist ein interpretatives Vorgehen notwendig, weil wir versuchen müssen, jeden Wert in allen seinen Aspekten und Assoziationen im Lichte aller anderen Werte besser zu verstehen. Vollkommen wird uns das nie gelingen, und selbst wenn wir uns alle gemeinsam darum bemühen, können wir nicht sicher sein, dass wir darin zumindest einigermaßen erfolgreich sind.

    Wenn man also die Wahrheit der Werte bezweifeln kann, wie viel mehr dann die vermeintliche Einheit aller Werte. Die Interpretation oder der Streit um die Werte findet ja nicht im luftleeren Raum statt: Werte und ihre Interpretation werden von bestimmten Menschen, Gruppen oder Institutionen in der Gesellschaft geformt und durchgesetzt, die damit bestimmte Interessen verbinden. Warum sollen dann die Werte, die so entstehen, unteilbar sein und ohne Konflikt miteinander harmonieren? In Abwandlung des pointierten Statements von Dworkin könnte man sagen: Von Interesse ist nicht, welche moralischen oder ethischen Urteile wahr sind, sondern warum sie wo und wann für wahr gehalten werden. Eine an der sozialen Entstehung der Werte interessierte Philosophie kann immer noch auf der Suche nach der Wahrheit sein, aber sie muss nicht um der vermeintlichen Einheit der Werte willen ständig den Kompromiss suchen.

    Ronald Dworkin:
    Gerechtigkeit für Igel, Suhrkamp, 813 Seiten, 48 Euro
    ISBN: 978-3-518-58575-7