Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Eigennützig und gewinnorientiert

Der Homo oeconomicus erobert den Alltag des 21. Jahrhunderts. So zumindest sieht es Frank Schirrmacher. In seinem neuen Buch schildert der FAZ-Mitherausgeber und Publizist, welche Folgen der Siegeszug dieses Menschentyps hat.

Von Walter van Rossum | 11.04.2013
    Es geht darum, dass die ökonomische Spieltheorie Modelle entwickelt hat, die vorgeben, menschliches Verhalten berechnen zu können, wenn sich alle Spieler maximal rational verhalten, d. h. maximal eigennützig und gewinnorientiert. Und Frank Schirrmachers These besteht darin, dass diese Modelle nicht mehr bloß Modelle sind, sondern die Welt nach ihrem Bild umprogrammiert haben.

    Die neue Ökonomie bedient sich der Maschinen und sie erfasst menschliche Beziehungen mithilfe der Mathematik. Sie liebt das "Gefangenendilemma", eine spieltheoretische Urszene von zwei Menschen, die ein gleiches Schicksal teilen, aber nicht miteinander reden können, und die das Angebot bekommen, auf Kosten des anderen einen Vorteil zu erhalten. Verrat ist in diesem Spiel nicht nur vorgesehen, "er ist die als vernünftige Verhaltensweise akzeptierte Norm".

    Doch erstens ist Schirrmachers These nicht neu, zweitens funktioniert sie nicht. Das mag auch daran liegen, dass der Autor – ein weites, weites Publikum fest im Blick – sich und uns mit den komplexeren Problemen und Unschärfen dieser Theorie verschont. Für ihn scheint die Spieltheorie eine Art algorithmisch basierte Gewinnformel darzustellen.

    Der Durchbruch, der jedem Investmentbanker auf der Welt die Augen öffnete, kam im Jahre 1994. In den USA und bald auch in vielen anderen Staaten der Erde wurden Telekommunikationsfrequenzen versteigert. Die "Mutter aller Auktionen" brachte atemberaubende Resultate. Und der Grund wurde schnell bekannt: Sowohl der Anbieter wie die Bieter hatten Spieltheorie-Experten engagiert.

    Doch wer hat jetzt gewonnen? Mit Sicherheit die Anbieter, die viel mehr Geld eingenommen haben als erhofft. Einige Bieter sind leer ausgegangen. Doch der vermeintliche Sieger hat viel mehr Geld ausgegeben, als er wollte, und kam wenig später deshalb auch in Schwierigkeiten. Offenbar wird die totale Berechenbarkeit noch von ein paar Unschärfen heimgesucht.

    Entsprechend sieht er auch den Westen als Sieger des Kalten Krieges, eben weil er spieltheoretisch hoch und erfolgreich gepokert hätte. Und übersieht dabei, dass auch die Sowjetunion ein paar außerordentlich kluge spieltheoretische Köpfe am Start hatte. Doch beinahe wären die westlichen Spieltheoretiker – ein Konglomerat von Militärs, Ökonomen, Physikern und Kybernetikern – nach ihrem großen Sieg arbeitslos geworden, hätten sie nicht ihre neue Bestimmung darin gefunden, die eigene Gesellschaft bzw. das globale Geschehen spieltheoretisch abzurichten. Seitdem – so Schirrmacher – hat die Spieltheorie aufgehört, ein Beschreibungsmodell zu sein: Sie wird zum Quellcode unserer Zeiten – Gier, Eigennutz, die Rationalität des Gewinnens sind jetzt die verlässlichen Parameter unseres Handelns. Als würden wir längst alle schon spieltheoretisch rational funktionieren – also ausrechenbar.

    Wahr ist, dass Tausende von Agenturen, Think Tanks, Brain Trusts, Werbekreuzzügler oder Abrichtungsphantasten genau daran arbeiten mögen, allein, wenn sich Ford gegen Opel durchsetzt, dann kann man das hinterher als Gewinnstrategie beschreiben, aber eben nicht vorher. Man könnte diese These etwa auch an so einer Kleinigkeit wie dem Buchhandel überprüfen. Was wäre z. B. der höchstmögliche Eigennutz beim Kauf eines Buches? Wann verhalte ich mich spieltheoretisch als Buchkäufer rational? Worum geht es überhaupt beim Kauf eines Buches – um Erkenntnis, Vergnügen, Prestige oder einfach Verlegenheit? Wie gerne hätten Verleger eine auch nur annähernd berechenbare Strategie beim Verlegen von Büchern! Es gibt sie nicht. Jedenfalls nicht im Sinne spieltheoretischer Rationalität. Es gibt allenfalls ein paar Faustregeln, an die sich Schirrmacher und seine Berater in ihrem Gewinnstreben dann auch konsequent halten. Sorgfältig vermeidet der Autor komplexere Gedankengänge, stattdessen übernehmen etliche hübsche, unterhaltsame und interessante Geschichtchen den Gang der Argumentation. Geschickt hält Schirrmacher den Spannungsbogen einer großen investigativen Reportage, gekonnt spielt er auf den Trommeln apokalyptischer Erregung. Wir begleiten einen verwegenen Jäger auf der Suche nach dem Quellcode der großen Krise:

    Der einsame Mensch, in seinem Bunker, vor seinem Bildschirm – ob an der Börse, am Arbeitsplatz oder zu Hause – ist zunehmend in einer virtuellen Welt anonymer Einmalaktionen gefangen. Wir sind damit in die Vorhölle nicht kooperativer Spiele hinabgestiegen und genau dort angekommen, wo die Spieltheorie einst begann: in der Denkmaschine jener militärisch und semi-militärischen Think Tanks des Kalten Krieges und seiner paranoiden Atmosphäre.

    Das ist – milde gesagt – purer Blödsinn. Hundertfach beschwört Schirrmacher die Vorstellung, wir seien selbst längst Agenten der Agenturen des Bösen geworden. Doch nach dreihundert Seiten ermüdender Lektüre habe ich ihn nie gefunden - diesen Agenten, der ich sein soll, wenn ich zum Beispiel als einsamer Mensch diesen Text in meinem Bunker vor meinem Bildschirm schreibe.

    In rührender Verkennung hat Jakob Augstein im "Spiegel" geschrieben, "Ego – das Spiel des Lebens" sei ein kapitalismuskritisches Buch - das mag sein, doch der Kapitalismus tritt hier wie das Verhängnis einer antiken Tragödie auf, allerdings in einer Trash-Version - gewissermaßen wie die Killertomaten in einem amerikanischen B-Movie: Unseren Laboren entschlüpft, haben die bösen Früchte jetzt ihre triefend rote Herrschaft über uns errichtet. Sorgsam achtet Schirrmacher dabei darauf, nicht politisch verstanden zu werden, sondern allein als Dramatiker unlösbarer Verstrickungen.

    Man darf die These wagen, stünde nicht Frank Schirrmacher auf dem Umschlag, niemand würde es zur Kenntnis nehmen. Der Erfolg dieses Werkes hat garantiert nichts mit spieltheoretischer Rationalität zu tun, sondern im Gegenteil mit der allgemeinen großen Verwirrung: Und die orientiert sich eher an den Instinkten des Rudels. Wenn Schirrmacher recht hätte, müssten potenzielle Käufer spieltheoretisch extrem rational, also egoistisch entscheiden und das Buch nicht kaufen: keine Aussicht auf Gewinn.

    Mit seinem Buch "Methusalem-Komplott" wurde der Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" 2004 aus dem Stand zum Bestsellerautor. Mithilfe der gängigen neoliberalen Demoskopien entwarf Schirrmacher das Horrorszenario einer überalterten Gesellschaft, die ihr Alter nicht mehr finanzieren könnte. Genau diese These wurde seinerzeit in sämtlichen Talkshows rauf und runter buchstabiert und führte schließlich zu jenen Rentenreformen, die in ziemlich naher Zukunft für eine wahrlich erschreckende Altersarmut sorgen werden. Damals – so darf man sagen – stand Schirrmacher noch fest in Diensten einer perfiden kapitalistischen Strategie, die den Menschen einredete, die gesetzliche Rentenversicherung sei nicht mehr finanzierbar, und man müsse jetzt "selbstverantwortlich" auf dem Kapitalmarkt seine Rente finanzieren. Es gibt zahlreiche ausgezeichnete Bücher, die das Desaster dieser Politik genau beschreiben – keines hatte auch nur annähernd den Erfolg von Schirrmachers apokalyptischem Erregungsspiel.

    Danach widmete sich einem anderen großen Thema, das in der Luft lag und Schirrmacher auch in der Luft hielt: der Digitalisierung der Lebensverhältnisse. Es ist die lange Befindlichkeitssuada eines Menschen, der sich durch die neuen Techniken belästigt und entfremdet fühlt. Hier entwickelt Schirrmacher das Menschenmodell, das wir auch in "Ego" finden: Er war einmal ein humaner Mensch, der wusste, was er wollte und wer er war, dann kamen die Computer und verwandelten ihn in das Gesumme der Netzwerke. In "Ego" wird daraus der Mensch, der durch seine spieltheoretische Umprogrammierung seine Unschuld verlor.

    In der seit dem Herausgeberwechsel endlich wieder lesbaren Zeitschrift "Merkur" hat Joachim Rohloff einen einerseits schreiend komischen, andererseits erschreckenden Aufsatz über "Payback" – Schirrmachers zweiten Bestseller - geschrieben. Rohloff zählt auf vielen Seiten haarsträubende Grammatikfehler auf, abstruse Sätze, wirre Gedanken und schlecht kopierte Plagiate und er kommt zu dem Schluss:

    Ständig muss der Leser schlauer sein als der Text, wenn er ihn verstehen will. Hier muss ein Komma, dort ein Wort eingefügt oder gestrichen werden, hier muss man den Numerus, dort das Tempus oder den Modus eines Verbs korrigieren, bis man meint, man habe es nicht mit dem Kulturkopf der FAZ zu tun, sondern mit einem Praktikanten von "Kicker online".

    Frank Schirrmachers jüngster Bestseller ist mit ähnlicher Sorgfalt geschrieben. Man möchte es nur nicht so genau wissen.

    Frank Schirrmacher: "Ego. Das Spiel des Lebens"
    Karl Blessing Verlag, München 2013, 352 Seiten, 19,99 Euro