Mittwoch, 24. April 2024

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Ein Abend mit Persephone

Ein Abend mit Persephone ist der Versuch, einen umfangreichen Eindruck über ein unbekanntes neues Griechenland zu vermitteln. So wie Persephone, die griechische Göttin des Totenreiches, alljährlich aus der Unterwelt hinaufsteigt, um mit ihrem Granatapfel den Menschen den Frühling anzukündigen, so oder so ähnlich macht sich die ehrgeizige, reiselustige Amerikanerin Patricia Storace ein ganzes Jahr lang in Griechenland auf dem Weg und lernt Sprache, Sitten und Säulen der griechischen Gesellschaft kennen, die bisher kaum in die zeitgenössischen europäischen Literatur Eingang gefunden haben.

Marianthi Milona | 13.05.1998
    Für die Autorin erfüllt sich damit gleichzeitig auch eine kindliche Sehnsucht. Denn über Griechenland hörte sie zum ersten Mal von dem griechischen Buchhändler ihrer Heimatstadt, der ihr Geschichten und Legenden aus diesem sagenumwobenen Land erzählte. Dreißig Jahre später will sie es selber wissen. Die daraus entstanden Erlebnissen faßt sie auf 400 Seiten zusammen. Wagemutig, ehrfurchtsvoll, geschichtsbewußt und gesellschaftskritisch sind ihre Beschreibungen über ein Land, daß die wenigsten Europäer kennen, geschweige denn zu verstehen vermögen, sei es durch die herausfordernd schwere Sprache oder durch die in orientalischen Mokka getauchten und verfärbten Verhaltensweisen.

    Patricia Storace erzählt somit als eine der ersten unserer Zeit von der geschichtlichen Zerrissenheit Griechenlands und spannt gelungen den Bogen über die Antike zu Byzanz und dann zur jüngeren Geschichte Griechenlands. Sie erwähnt und übersetzt griechische Wörter, die ihr in dem Jahr ihres Griechenland-Aufenthaltes begegnet sind, und würde man sie alle notieren, so würde sicher ein brauchbares Anfängerlexikon der griechischen Sprache entstehen, das so manchem Langenscheidt überlegen wäre. Gleichzeitig verdeutlicht sie in ihren Schilderungen über das Leben der Menschen in Griechenland die enge Verbindung von Glaube und Aberglaube, Kirche und Alltag. Dies kann sie dem Leser plausibel vermitteln:

    "‘Zum Glück gibt es ein Mittel, den Bann zu brechen’, sagt der Mann aus Smyrna. ‘Meine Tante, übrigens eine erfahrene Kaffeesatzleserin, falls Sie mal einen Blick in die Zukunft werfen wollen, hat schon manch einen davon befreit.’ ‘Und Priester können das auch’, sagt Schnurrbarts Frau. ‘Im Gebetbuch steht ein Spruch gegen den bösen Blick.’ ‘Ja’, sagt sie, ‘ich zeig´s Ihnen, wir haben eins in der Küche, in der Besteckschublade’. Sie holt ein schwarzes, in Leder gebundenes Buch mit Lesebändchen herbei und liest: ‘Heiler unserer Seelen... wir flehen dich an, vertreibe, verbanne und verjage alles Teufelswerk ... wende alle Verschwörung und Magie, alles Übel, allen Schaden und bösen Zauber, den Augen von Übeltätern und schlechten Menschen bewirkt haben, von deinem Diener ab.’ Kirchengriechisch ist schwer für mich zu verstehen - ich brauchte ein Wörterbuch des Griechischen zur Zeit des Neuen Testaments. Aber die anderen scheinen ebenfalls ihre Mühe damit zu haben; sie stolpern und diskutieren über einzelne Wörter, ja müssen schulterzuckend über ganze Wendungen hinweggehen, ohne sie entschlüsseln zu können. Das Griechische ist eine seltsam regellose Mixtur aus Kontinuität und Zersplitterung.(...) In einem Land, in dem Griechisch und Türkisch, Altes und Neues, Römisches und Byzantinischen, Osten und Westen, Christliches und Polytheistisches nebeneinander existieren, steckt auch die Sprache voller Bezüge und Zwiedeutigkeiten. Christen hießen im Griechisch der Spätantike einst Atheisten. Und mit dem Wort ‘Anathema’ verflucht man heute, in einer bitterbösen Wendung, etwa den Tag, an dem man einer mittlerweile verflossenen Liebe zum ersten Mal begegnete. Vor langer Zeit stand ANATHEMA dagegen für alles, was einem Gott geweiht war, ob verflucht oder gesegnet - es war sogar möglich, den Parthenon, der 447 v. Chr. begonnen wurde, als ein ANATHEMA des Siegs über die Perser zu bezeichnen. Noch in dieser heftigen Umkehrung liegt, so will es scheinen, eine unbewußte Segnung."

    Ein wahrer Segen ist es denn für Patricia Storace auch, das griechische Volk aus den verschiedensten Perspektiven heraus zu betrachten. Gleichzeitig liegt ihr größtes Anliegen darin, nichts Wichtiges und Zeitgenössisches außer acht zu lassen. Ob es die miserabel organisierte Krankenhaussituation, die moderne griechische Malerei, die Entwicklung der neugriechischen Literatur oder die undurchsichtige Bürokratie ist. Ebenso nicht fehlen darf auch die Rolle der Frau in der griechischen Gesellschaft, genauso wie die politische Situation zwischen Griechenland und der Türkei. Zum ersten Mal aber erfährt ein europäischer Leser zum Beispiel von einer der bedeutendsten griechischen Schauspielerinnen, Jenny Karezi. Und auch der Satz: Griechen sind Menschen-Bauern gibt eine bisher äußerst selten gewonnene Ansicht wieder und zeigt, daß sie bemüht ist, mehr über Griechenland zu erzählen als bloß Oberflächliches und allseits Bekanntes. Darüber hinaus ist eines ihrer am häufigsten erwähnten Motive, das der Ikone.

    Die Masse an Information ist in Storaces Roman gewaltig, so daß viele Dinge dann doch auf der Strecke bleiben, also nicht ganz ausgeführt werden können. Storace will vielleicht zu schnell die bestehende Bildungslücke zu Griechenland schließen. Die Situationen, die sie in ihrem Griechenlandjahr ins Staunen versetzen, machen aber auch allzu deutlich, daß man als modern westlich orientierter Mensch immer noch zu wenig über das junge Griechenland weiß.

    Ungefähr ab der Hälfte des Buches wird dann leider aus der griechisch-kulturgeschichtlichen Abhandlung nur noch ein auf Land und Leute konzentriertes Reisebuch. Manche antike Stätte und Mittelmeerinsel wird von Storace mit allem Nennenswertem beschrieben, und man darf sicher sein, daß ihre Beobachtungen gut recherchiert und aufschlußreich sind. In Ausnahmefällen neigt sie zur Überinterpretation, nämlich da, wo sie das südländische Temperament als Amerikanerin berechtigterweise nicht richtig einzuordnen weiß. Schließlich bleibt ihr nicht mehr genug Raum für Nordgriechenland, so daß sie dieses Gebiet nur noch streifen kann. Aber davon abgesehen, die Geschichte des griechischen Nordens gäbe Stoff genug für einen weiteren Roman.

    "Ein Abend mit Persephone" von Patricia Storace, im Alexander Fest Verlag erschienen, bleibt nichtsdestotrotz ein gelungener Roman, weil er wegen seiner Authentizität in Griechenland sehr umstritten war. Die Autorin hat große Vorwürfe abwehren müssen, sie sei zu gesellschaftskritisch und ihre Quellenangaben seien unkorrekt. Das sollte aber erst einmal belegt werden.

    Für alle jedenfalls, die sich mit Griechenland, dem südöstlichsten Land an der Peripherie Europas, näher beschäftigen möchten, ermöglicht dieses Buch eine wichtige und neuartige Einführung in griechische Lebensweisen. Patricia Storace ist längst wieder in Amerika. Aber für eines ihrer wichtigsten Erkenntnisse läßt sie den bekanntesten zeitgenössischen griechischen Schriftsteller Vassilis Vassilikos, sprechen: "Solange man hier ist, möchte man am liebsten fort, doch von der Sekunde an, da man geht, sehnt man sich grenzenlos danach, zurückzukommen."