Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Ein Aufstieg mit Tiefgang

Journalist und Schriftsteller Max Scharnigg schreibt für die Jugendseite der Süddeutschen und hat bislang ein Buch über Hotelkatastrophen geschrieben. Nun erschien sein kurioser Roman, aus dem er schon beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen im Jahr 2010 vorgetragen hatte.

Von Oliver Seppelfricke | 11.07.2011
    Stellen Sie sich vor: Es ist ein Tag wie jeder andere. Sie kommen von der Arbeit nach Hause, ein unbekanntes Paar grüner Herrenschuhe steht vor Ihrer Tür, die Wohnung ist von innen verschlossen und sie hören die Stimme ihrer lange schon kränkelnden Partnerin und dazu die eines lachendes Mannes, dabei haben Sie doch nie Besuch, und nun: Was machen Sie? Max Scharnigg, Jahrgang 1980, nimmt diesen Moment zum Ausgangspunkt seines Romans:

    "Er kommt nach Hause. Irgendetwas ist vorgefallen. Es beginnt eine Übersprunghandlung. Ich finde, das kann man auch an sich selber ablesen: Wenn man einen traumatischen Vorfall erlebt oder auch nur etwas Unerwartetes, man macht ja nicht immer gleich das Richtige. Also man muss das dem Helden schon nachsehen, dass er nicht gleich die Tür eintritt und nachschaut, was da los ist. Sondern er braucht halt erst einmal ein bisschen Zeit, um sich zu besinnen und zu überlegen, was nun zu tun ist. Das liegt halt in seiner Natur."

    Und so geht unser Held und Ich-Erzähler Nikol Nanz, von Beruf Journalist, 28 Jahre alt, nicht in die Wohnung, nein, er zieht sich zurück: Er geht unter die Treppe, und das im Erdgeschoss. Dort ist er quasi unsichtbar. Er will nachdenken über das, was da oben wohl passiert, da oben, bei seiner psychisch labilen Partnerin, kommt aber nicht so recht dazu, denn gleichzeitig schießen ihm die Zeilen eines Buchs durch den Kopf. Eines Buchs über die Besteigung der Eiger-Nordwand, das er schreiben will, und das er nun, im Dunkeln unter der Treppe, in seinem Kopf vor sich hinschreibt. Satz für Satz, Kapitel für Kapitel. Und völlig verwirrt von dem, was da passiert, bleibt er erst einmal da, wo es ihm gut geht: unter der Treppe. Tagelang. Ein Irrwitz! Die Idee mit dem Buch über die Besteigung der Eiger-Nordwand im Jahr 1938 durch die Münchener Anderl Heckmair und Ludwig Vörg hatte Max Scharnigg schon lange in seinem Kopf:

    "Die Idee hatte ich schon immer, etwas über die Eiger-Nordwand zu schreiben, weil mich dieser Berg, den habe ich schon immer wohlwollend betrachtet. Mich hat das immer interessiert. Ich habe alles darüber gelesen. Und ich dachte, das kann auch mal in einem belletristischen Werk vorkommen, diese mutige Tat. Der Auslöser, dass der Anderl Heckmair dann gestorben ist, da dachte ich dann wieder darüber nach. Mit einer interessanten Personenkonstellation und mit einem ungewöhnlichem Ort als Ausgangspunkt hat man einen spannenden Rahmen, der den Leser bei Laune hält."

    Der irritierte Ich-Erzähler Nikol Nanz hält sich also unter der Treppe auf, verbirgt sich hinter einer Wand aus Kinderwagen, Fahrrädern und anderem Abgestelltem. Er nimmt das Leben in seinem Münchener Mietshaus nun aus einer ganz anderen Perspektive wahr. Hört und erkennt die Personen an ihren Schritten, an der Art, wie sie ihre Briefkästen öffnen und wieder schließen, doch er bleibt nicht lange unerkannt. Der Koch aus Wien mit dem komischen Namen Schmuskatz entdeckt ihn nach zwei Wochen, lädt ihn zum Essen ein, es gibt Paprikahendl, wie immer alle drei Tage, dazwischen zwei Tage Diät, Schmuskatz, Mitte 80, ist keineswegs erstaunt über das Versteckspiel des Erzählers, schließlich ist auch er ein bisschen komisch, sammelt Bücher und sortiert sie alphabetisch und zwar nicht nach dem Namen des Autors, sondern nach dem, dem das Buch gewidmet ist. Kann man ja auch machen. Warum nicht? Das Ganze schwankt gekonnt zwischen Irrwitz, Irrsinn, Groteske und Absurdem. Max Scharnigg:

    "Klar, Irritation gehört natürlich dazu. Warum kann der da leben? Zwei Wochen oder mehr oder weniger? Warum muss er nichts essen? Aber weder die Protagonisten gehen ja besonders akribisch darauf ein, noch scheint sich sonst jemand darüber zu wundern. Also warum muss da der Leser sich über Gebühr wundern?"

    Und der Irrsinn geht weiter: Schmuskatz entscheidet, zur Wohnung von Nikol "aufzusteigen", beide, der Wiener Koch und der Münchener Journalist gehen betrunken die Treppen hoch, vielmehr sie besteigen sie, abgesichert und angeseilt sind sie am Treppengeländer, und in Nikols Kopf gehen die Besteigung der Eiger-Nordwand und die des Münchener Mietshauses durcheinander und ineinander über. Der Autor Max Scharnigg schildert das alles so anschaulich, in einer glasklaren Sprache, dass das Absurde der Handlung nicht mehr grotesk wirkt, sondern dass wir die Nöte und Ängste der Protagonisten tatsächlich fühlen. Und das ist gekonnt! Wahnsinn und Realismus kommen beide im selben Kleid daher, ununterscheidbar, oder ist alles nur ein Traum? Am Ende gibt Nikol seinen Text über die Besteigung der Eiger-Nordwand in seiner Redaktion ab, geht nach Hause zu seiner Partnerin, und alles scheint so, wie es immer war. Oder nicht? Die kleinen, sichtbaren Zeichen, dass in der Wohnung etwas stattgefunden hat, belässt uns der Erzähler, und so durchmessen wir einmal mehr den Abstand zwischen Wahnsinn und Traum, so wie in einem Theater!

    "Also es sind natürlich starke Bühnenstrukturen durch diese Treppe. Man kann sich das ja sehr gut vorstellen. Wir haben immer eine schiefe Ebene im Bild. Er sitzt erst ´drunter, dann schafft er es, diese schiefe Ebene zu bezwingen. Das ist auf jeden Fall eine geometrische Anordnung, die in einem Kammerspiel Bestand hätte. Das war aber auch der Reiz: dieses Weite der Eiger-Nordwand mit der Enge eines Treppenhauses zu verknüpfen."

    Und noch etwas könnte man den Autor dieses gelungenen Buchs und den Journalisten Max Scharnigg fragen: Ist der Raum unter der Treppe der ideale Zufluchtsort für solche, die vom Schreiben leben?! Max Scharnigg antwortet mit einem Augenzwinkern:

    "Also das kann sich ja jeder vorstellen, der so eine Treppe kennt. Das ist schon ein reizvoller Ort. Für jemanden vielleicht, der in der urbanen Umgebung immer ein bisschen zu viel um die Ohren hat. Es ist düster, schummrig und man hat seine Ruhe. Und wenn dann noch, wie in dem Buch dazukommt, die Leute nicht stören, dann kann ich mir das schon ganz gemütlich vorstellen."

    Max Scharnigg: Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe
    Hoffmann und Campe
    160 Seiten, 18 Euro